Gesundheitswesen mit ungewisser Zukunft
Didier Ménard über die aktuellen Probleme des Gesundheitswesens in Frankreich
Der Protest gegen neoliberale Austeritätspolitik schlägt in Frankreich gerade so hohe Wellen, dass Präsident Macron reagieren musste und bei einigen Kritikpunkten einzulenken versuchte. Ob die Protestierenden sich damit zufrieden geben, war bei Redaktionsschluss noch unklar. Didier Ménard schildert die Auswirkungen dieser Politik auf das Gesundheitswesen und wie diese in Konflikt gerät mit guten, den Vorstellungen des vdää ganz ähnlichen Reformansätzen, die eine Jahrzehnte alte Geschichte haben.
Das öffentliche Gesundheitswesen in Frankreich durchlebt derzeit eine Transition von einem rein kurativ orientierten Krankenversorgungssystem zu einem tatsächlichen Gesundheitssystem. Zentraler Aspekt dieses Übergangs ist die Einführung von Angeboten der Prävention, der Gesundheitspädagogik und Patient*innenedukation, der Kampf gegen umweltbedingte Erkrankungen und die Strukturierung und Koordinierung der Behandlungspfade etc. Der Ausgang dieses Transformationsprozesses ist ungewiss.
Unter dem Einfluss der Revolten vom Mai 1968 und der Schriften von Cooper, Ilitch und Foucault gründete eine Gruppe von Allgemeinärzt*innen 1973 den SMG (»Syndicat de la Médecine Générale« = Gewerkschaft der Allgemeinmedizin) mit dem Ziel, ein neues System der ambulanten Primärversorgung mit folgenden Eckpfeilern aufzubauen:
- eine Abkehr von der Einzelfallabrechnung als Hindernis auf dem Weg zu einer ganzheitlichen Medizin,
- die Einrichtung multiprofessioneller Berufsausübungsgemeinschaften mit dem Ziel einer bio-psycho-sozialen Versorgung,der Kampf gegen die Kommerzialisierung medizinischer Versorgung und die Einflussnahme der Pharmaindustrie,
- die Verteidigung der 1945 vom Conseil national de la Résistance (Nationaler Widerstandsrat) eingeführten solidarischen Krankenversicherung »Sécurité Sociale«
Seit 1973 bewegt sich der SMG mit diesen sozialen und emanzipatorischen Forderungen in ungünstigen Kräfteverhältnissen, die durch wirtschaftsliberale und rechte Interessenverbände dominiert werden. Als linke Gewerkschaft wurde dem SMG die Anerkennung als repräsentative Ärzt*innengewerkschaft verweigert, wodurch er von der Aushandlung der Kollektivverträge zwischen Vertragsärzt*innen und Krankenkassen ausgeschlossen ist.1 Dennoch sind seine Ideen zu Kernelementen der aktuell stattfindenden Transformation geworden. Dies ist weniger das Ergebnis eines ideologischen Bewusstseinswandels, als vielmehr die Folge gesellschaftlicher Entwicklungen, gegenüber denen das bestehende Gesundheitssystem versagt. Hierzu zählt die Zunahme chronischer und umweltbedingter Erkrankungen, die geographisch ungleiche Verteilung der Leistungserbringer*innen mit einer massiven Unterversorgung bestimmter Regionen, die Zunahme des relativen Anteils der Gesundheitsausgaben am BIP und nicht zuletzt der Wunsch der jungen Generation, mit der antiquierten Struktur des ambulanten Versorgungssystems zu brechen.2
Die aktuelle Phase der Transformation zeichnet sich durch folgende Aspekte aus:
- der Wunsch der Allgemeinärzt*innen und der nicht-ärztlichen Beschäftigten in der Primärversorgung, sich zusammenzuschließen und eine patient*innenzentrierte Gesundheitsversorgung in einem interdisziplinären Rahmen aufzubauen, beispielsweise in Gesundheitszentren mit angestellten Beschäftigten, deren Versorgungsangebot sich an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert;
- eine neue Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufe mit dem zunehmenden Delegieren ärztlicher Tätigkeiten, beispielsweise an klinisch-therapeutisch tätige Pflegekräfte;
- der Übergang von der Einzelfallabrechnung zu einer gesundheitsstatus- und erkrankungsabhängigen Finanzierung;
- eine bislang inexistente öffentliche Planung und Strukturierung der regionalen Versorgungsstrukturen;
- eine Verbesserung des Versorgungszugangs für alle, insbesondere durch spezielle Angebote für Angehörige besonders prekärer und vulnerabler Gruppen wie beispielsweise Migrant*innen;
- das Aufgreifen der durch Gesundheitsfachkräfte in Berufsausübungsgemeinschaften/kollektiven Gesundheitszentren3 angestoßenen Transformationsprozesse mit der staatlichen Gesundheitspolitik im Rahmen des Projekts »Ma Santé 2022« (Meine Gesundheit 2022).
Was es zu verhindern und zu bekämpfen gilt
Diese Konvergenz von staatlicher Gesundheitspolitik und durch die Gesundheitsarbeiter*innen getragenen Veränderungen eröffnet zwei mögliche Perspektiven: Entweder die Entwicklung wird staatlich diktiert und den Fachkräften entzogen, sodass diese zu reinen Dienstleister*innen staatlicher Politik werden. Oder die öffentlichen Institutionen begleiten den von den Beschäftigten angestoßenen Prozess. Es steht zu befürchten, dass die Verhandlungen zwischen (mehrheitlich konservativen) Ärzt*innengewerkschaften und der Krankenkasse außerhalb des demokratischen Diskurses stattfinden und so mangels einer langfristigen Vision im institutionellen Rahmen versanden werden.4
Die Austeritätspolitik der letzten Jahre beeinflusst die aktuellen politischen Entscheidungen. Die Kürzungen der Budgets der öffentlichen Krankenhäuser, deren Konkurrenz mit den lukrativen privaten Krankenhäusern, der erzwungene Zusammenschluss von Krankenhäusern, um Bettenzahlen zu reduzieren und somit Personalkosten zu reduzieren, sowie das profitorientierte stationäre Abrechnungssystem »T2A« (tarification à l›activité, ähnlich dem deutschen Fallpauschalensystem) führen zu einem Notstand in den öffentlichen Krankenhäusern. Da die Regierung beschlossen hat, die Sparpolitik im Bereich der Krankenhäuser fortzuführen, stehen hier politische Auseinandersetzungen bevor.
Die Wirtschaftsliberalen versuchen ununterbrochen, die solidarischen Elemente des Sozialstaats marktförmig umzustrukturieren. So ist die Versuchung für die aktuelle Regierung groß, die Gesundheitsausgaben in den privatwirtschaftlichen Sektor auszulagern. Dies wird beispielsweise am zunehmenden Stellenwert privater Zusatzversicherungen erkennbar.
Unter diesen Bedingungen geraten sinnvolle Elemente der laufenden Reformen – wie die Versuche, wahrhaftig gegen umweltbedingte Erkrankungen zu kämpfen, Behandlungspfade sinnvoll zu koordinieren und die Stadtteilgesundheit fördert (Patient*innenedukation, Prävention, Bürger*innenbteiligung) – in Konflikt mit den Austeritätsplänen und der neoliberalen Ideologie der Regierung. Es geht in den geschilderten Auseinandersetzungen um nicht weniger als die Wahl zwischen einer wirtschaftsliberalen Gesellschaftsform, die immer weitere Ungleichheiten produziert, und einer Gesellschaft, die auf einer solidarischen, ökologischen und humanistischen Wirtschaftsform beruht.
Didier Ménard, 68, ist Allgemeinarzt, Mitglied im französischen Syndicat de la Médecine Générale (SMG) und Vorsitzender des Stadtteilgesundheitszentrums Association Communautaire Santé Bien-Être (http://acsbe.asso.fr/) in Saint Denis (93).
Übersetzung aus dem Französischen: Paul Brettel
- Da es in Frankreich keine Kassenärztlichen Vereinigungen wie in Deutschland gibt, handeln Gewerkschaften die Kollektivverträge aus. Die Anerkennung als Vertragspartner wurde dem SMG 1984 – unter Druck durch die rechtskonservative Ärzt*innengewerkschaft CSMF – von der damaligen »sozialistischen« Regierung verweigert.
- Ähnlich wie in Deutschland ist die ambulante Versorgung in Frankreich durch das Konzept des vermeintlich »freien« Arztberufs geprägt. Insbesondere zählt hierzu die Niederlassungsfreiheit, die regelhafte Berufsausübung als Selbständige*r in Privatpraxen, die Einzelfallvergütung. Dieser Lebensentwurf wird von vielen junge Ärzt*innen, insbesondere die Mehrheit der Ärztinnen, zugunsten der Tätigkeit als Angestellte*r abgelehnt.
- Aktuell arbeiten ca. 20% der Gesundheitsfachkräfte in kollektiven Versorgungsstrukturen.
- Insbesondere da Teile der Reform im Widerspruch zur neoliberalen Wirtschaftspolitik der Regierung stehen, als auch weil die Umsetzung der Transformation in die Hände derjenigen konservativen Ärzt*innengewerkschaften gegeben wird, die die geplanten Veränderungen ablehnen.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: 2018 Ökonomisierung und Privatisierung I, 4/2018)