Was kommt nach den Fallpauschalen?
Zur Bewegung in der Pflege
Dass es über das Gesundheitswesen nicht nur Deprimierendes gibt, weiß Stefan Schoppengerd zu berichten. Wenn Krankenhäuser zu Fabriken werden, dann verhalten sich die Beschäftigten wie Lohnarbeiter*innen – und streiken.
Am 19. September wurde an der Uniklinik des Saarlandes (UKS) in Homburg buchstäblich in letzter Minute ein Streik abgesagt. Eine Woche zuvor, am 12. September, hatte ver.di das Ergebnis der Urabstimmung verkündet: knapp 98 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder haben für einen unbefristeten Erzwingungsstreik gestimmt. Erzwungen werden sollte ein »Tarifvertrag Entlastung«, also eine tariflich fixierte Personalbemessung in der Pflege und anderen Arbeitsbereichen des Krankenhauses, die den enormen Arbeitsdruck mildern soll. Die Geschäftsführung des UKS hatte lange darauf beharrt, gar nicht zu einem Abschluss befugt zu sein, da dies Aufgabe der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) sei. Für den Tag vor dem angekündigten Streikbeginn hatte sie dann doch zu Verhandlungen geladen, die nach über 20 Stunden ein Ergebnis brachten, das aller Voraussicht nach die Zustimmung der streikbereiten Beschäftigten finden dürfte. Förderlich für diesen Durchbruch war zweifellos, dass Gewerkschaft und Betriebsgruppe keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit aufkommen ließen, dem UKS durch OP-Absagen und Bettenschließungen Einnahmeverluste in Millionenhöhe zu bereiten. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Urabstimmungsergebnisses hatte die ver.di-Betriebsgruppe ein detailliertes Streikkonzept für die nächsten Wochen veröffentlicht. Zeitgleich gelang es über politischen Druck, die Klinikleitung zur Unterzeichnung einer Notdienstvereinbarung zu bewegen, die im Einzelnen regelte, wie Streikmaßnahmen anzukündigen und so vorzubereiten sind, dass die Notfallversorgung gesichert ist, andere Behandlungen aber dem Streikgeschehen entsprechend abgesagt werden. Zum angekündigten Streikbeginn war dieser Vereinbarung gemäß etwa ein Drittel der 1.300 Betten des UKS zur Schließung gemeldet.
Rückenwind hatte die Mobilisierung in Homburg gleich doppelt – der jüngst beendete Streik an den Unikliniken Essen und Düsseldorf bot ein Beispiel dafür, dass eine Vereinbarung für mehr Personal an landeseigenen Unikrankenhäusern durchaus möglich ist; zugleich geben gesetzliche Neuerungen auf Bundesebene den Klinikleitungen die Gewissheit, dass sie nicht allein auf den Mehrkosten sitzen bleiben.
Der Streik in Essen und Düsseldorf war der bisher längste und umfangreichste Streik, den es je in deutschen Krankenhäusern gegeben hat. Beendet wurde er in einem Schlichtungsverfahren, das nicht zur Unterzeichnung eines Tarifvertrages führte, aber zum Abschluss einer »schuldrechtlichen Vereinbarung«. Diese beinhaltet genaue Zahlen neu zu schaffender Stellen, ein Verfahren zur Ermittlung des Personalbedarfs nach Schichten und Stationen sowie Regelungen für den Fall der Nicht-Erfüllung dieses Bedarfs (»Konsequenzenmanagement«). Die Form der schuldrechtlichen Vereinbarung ist ein Kompromiss, der dem Arbeitgebereinwand Rechnung trägt, nicht ohne Zustimmung der TdL einen Tarifvertrag abschließen zu können. Sie hat keine festgelegte Laufzeit, kann aber nach sechs Monaten mit einer Frist von drei Monaten gekündigt werden. Eine Nachwirkung wie bei einem Tarifvertrag gilt hier nicht.
Außerdem können die Beschäftigten keine unmittelbaren Rechte aus der Vereinbarung ableiten. Gleichwohl enthält sie weitreichende Festlegungen zur Entlastung durch Personalaufstockung. Das Schlichtungsergebnis wurde von knapp drei Vierteln der Gewerkschaftsmitglieder per Urabstimmung angenommen.
Zu den wichtigsten bundespolitischen Neuerungen gehört die Festlegung, dass jede neu geschaffene Stelle in der Pflege sowie künftige Tarifsteigerungen in vollem Umfang durch die Krankenkassen zu finanzieren sind. Die Verabschiedung des »Pflegepersonalstärkungsgesetzes« (PpSG) zeigt, bei all seinen Unzulänglichkeiten, dass der jahrelange Druck für mehr Personal auf mehreren Ebenen Wirkung entfaltet. Es könnte sich aber auch in einem weiteren Punkt als treibend für Kämpfe um die Gestaltung von Krankenhäusern und Gesundheitssystem insgesamt erweisen. Unter den Kritiker*innen des seit bald 15 Jahren geltenden Systems der Krankenhausfinanzierung über Fallpauschalen / DRGs sorgte für Staunen, dass die Pflegepersonalkosten künftig aus den Pauschalen herausgerechnet und bis auf Weiteres nach dem Prinzip der Selbstkostendeckung finanziert werden sollen. Andere Berufsgruppen melden sich bereits mit der Forderung zu Wort, diese Entscheidung auf alle Beschäftigten im Krankenhaus auszuweiten – die Fallpauschalen würden damit auf ein Instrument zur Abrechnung der Sachkosten zurückgestutzt. Ein profitorientiertes Bewirtschaften von Krankenhäusern würde damit erheblich erschwert werden; entsprechend stark dürften die Bemühungen der Privaten in den nächsten Jahren ausfallen, das fortschrittliche Moment des PpSG wieder zu kassieren.
Eine weitere Ebene, auf der die bundesweite Pflegebewegung aktiv ist, sind die Volksentscheide für mehr Krankenhauspersonal, die in Berlin, Hamburg, Bayern und Bremen die Landesgesetzgebung zugunsten der Krankenhausbeschäftigten verändern sollen und die einen Ansatzpunkt für gemeinsames Handeln von Beschäftigten und ihren außerbetrieblichen UnterstützerInnen bieten.
Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik«, das sich aus ver.di-Gliederungen und Organisationen wie der attac-AG Soziales und dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte zusammensetzt und seit Jahren Aufklärungsarbeit gegen die Ökonomisierung der Krankenhäuser leistet, veranstaltet vom 19. bis 21. Oktober einen Kongress unter dem Titel »Was kommt nach den Fallpauschalen?« Angesichts ihres aktuellen Aufwinds dürfte er ein interessanter Termin für die Diskussion strategischer Fragen der Pflegebewegung werden.
Stefan Schoppengerd ist Redakteur der Zeitung express und aktiv im Bündnis Krankenhaus statt Fabrik.
(Zuerst erschienen in: express. Zeitung für eine sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, 8-9/2018)
* Der Kongress hat in der Zwischenzeit stattgefunden und viele Aktive der lokalen Solidaritätsbündnisse, der Streiks, des Netzwerks kritischer Mediziner*innen und des vdää zusammen gebracht. Es wurde voneinander gelernt und es sind Verabredungen formuliert worden.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: 2018 Ökonomisierung und Privatisierung, 4/2018)