Ökonomisierung in der Pflege
Denis Badorf ist aktiv bei »Pflege am Limit« und wenn man seinen Erfahrungsbericht hier liest, dann weiß man, warum. Er zeigt, wie Pflege in Zeiten von Ökonomisierung und Gesundheitswirtschaft aussieht.
Die Pflege hat den Wandel der Ökonomisierung auch erfahren wie viele andere Bereiche, als sie 2004 in die Fallpauschalen eingegliedert wurde. Ich persönlich habe meine Ausbildung in einer Kölner Klinik für Psychiatrie absolviert. Zu einer Zeit, wo die Fallpauschalen in der Psychiatrie noch nicht wirksam waren. Daraufhin habe ich in zwei Kölner Kliniken gearbeitet und möchte Erfahrungen mit Ihnen teilen, um zu zeigen, wie sich die Ökonomisierung auf meinen und den Alltag meiner Kolleg*innen ausgewirkt hat.
Während der Ausbildung wurde mir ein sehr humanistisches Weltbild vermittelt. Die Ausbilder*innen haben uns klar gesagt: Ihr werdet Abstriche machen müssen, aber macht sie an der richtigen Stelle. Lieber weniger dokumentiert und nur das, was wirklich dokumentiert werden muss. Dafür nehmt Ihr Euch mehr Zeit für die Patient*innen. Während meiner Ausbildung hatte ich Einsätze in fünf Kölner Kliniken. Hierbei merkte ich schon eine gewisse Anspannung und Belastung auf den Stationen. Schnell wurde mir bewusst, die Pflege ist ein Kostenpunkt und wir Krankenpflegeschüler*innen wurden als billige Arbeitskräfte und Lückenbüßer ausgenutzt. Dennoch hatte ich viele Praxisanleiter*innen, die wirklich engagiert und bemüht waren, soweit es ging, mir was beizubringen. Das betraf vor allem meine Praxiseinsätze in somatischen Kliniken. Meine Einsätze in der Psychiatrie waren von einer anderen Situation geprägt. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine Fallpauschalen für die Psychiatrie. Dadurch hatte ich für jeden Patienten die Zeit, die er oder sie benötigte. Ich hatte die Zeit, Patient*innen zuzuhören und mir ihre Sorgen und Nöte anzuhören. Die Patient*innen wurden erst entlassen, als alle an der Behandlung Beteiligten sich sicher waren, dass man sie bedenkenlos entlassen konnte. Kurz gesagt: Der Mensch stand im Mittelpunkt und es war ist das, was ich unter guter Pflege verstehe.
Als meine Ausbildung abgeschlossen war, trat ich meine erste Stelle als examinierter Gesundheits- und Krankenpfleger auf einer unfallchirurgischen Station an. Ich war euphorisiert und dachte, nun bin ich bereit, Menschen bei der Genesung zu helfen und gute Pflege zu leisten. Die ersten Wochen im Sommer waren auch entsprechend entspannt. Als dann im Herbst die Phase begann, in denen der Arbeitsdruck höher wurde, merkte ich schnell, wie die Situation in dem Haus wirklich war. Die Arbeit war nicht mehr zu schaffen. Dienste, in denen ich mit einem Schüler für 25 Patient*innen allein zuständig war, waren an der Tagesordnung. Mein Gedanke war: Das ist nur eine Phase und es wird in ein paar Tagen wie vorher. Eine Illusion! Die Phase im Sommer war die Ausnahme, nicht die Regel. Dauerhaftes Klingeln und das Gefühl, die Patient*innen zu vernachlässigen, waren an der Tagesordnung. Wochenlanges Arbeiten ohne Pause und tägliche Überstunden waren an der Tagesordnung. Auch Spätdienste, in denen ich bis 23 oder 24 Uhr auf der Arbeit war und am nächsten Morgen um 6 Uhr wieder auf Station sein musste, waren nichts Ungewöhnliches. Dennoch war das nur der Anfang. Als ich dann mit Nachtdiensten anfangen sollte, waren 10 Nachtdienste und 15 Tagdienste hintereinander keine Ausnahme. Junge Kolleg*innen mussten die Nachtdienste alleine stemmen, weil ältere Kolleg*innen sich schlicht geweigert haben, Nachtdienste zu absolvieren.
Der Tiefpunkt war ein Nachtdienst, als ich mit einer Kollegin aus einem Zeitarbeitsunternehmen für zwei Stationen zuständig war. Im Verlauf des Dienstes erfuhr ich, dass die Kollegin, die mir als Krankenschwester »verkauft« wurde, keine Ausbildung hatte und bisher nur im Pflegeheim als Pflegehelferin gearbeitet hat. Kurz gesagt musste ich im Nachtdienst für beide Stationen die Behandlungspflege durchführen und die Medikation für den nächsten Tag vorbereiten. Genauer gesagt für 55 Patienten. Dieser Dienst war dann der letzte für mich in diesem Haus. Ich habe daraufhin das Haus verlassen und mir zwei Monate Auszeit genommen, um einfach mal Zeit für mich zu haben.
Nun trat ich meine zweite Stelle in einem Kölner Krankenhaus an und dachte, das, was in meinem alten Haus ablief, war die Ausnahme. Auch hier wurde mir schnell wieder klar, dass durch den Kostendruck die Dokumentation im Vordergrund stand. Fünf Operationen bei Patient*innen, die erst am selben Tag aufgenommen wurden, waren die Regel. Des Weiteren kamen Notfälle dazu, die dann am nächsten Tag ebenfalls operiert werden sollten. Bisher dachte ich immer, dass es an mir lag, wenn die Arbeit nicht vollständig geleistet wurde. Heut bin ich mir sicher, dass an der Pflege einfach lang gespart wurde und die Krankenhausbetreiber eiskalt einkalkulieren, dass ihre Pflegekräfte pflichtbewusst die eigene Gesundheit hinten anstellen und sich für die Patient*innen aufopfern. Nach etwa einem Jahr habe ich dann beschlossen, in die Zeitarbeit zu gehen, weil die Arbeitsbedingen dort einfach besser sind. Das liegt vor allem am Pflegenotstand. Die Zeitarbeitsunternehmen können sich eine übertarifliche Bezahlung und bessere Arbeitsbedingungen schlicht leisten, weil sie aufgrund des fehlenden Personals von den Trägern der Einrichtungen entsprechendes Honorar für die Vermittlung verlangen können.
Der letzte Wechsel ist nun ein halbes Jahr her. Ich kann mittlerweile so arbeiten, wie ich es in der Ausbildung gelernt habe. Mein Arbeitgeber hält mir den Rücken frei. Ich kann mich auf die Pflege von alten Menschen konzentrieren. Ich habe die Zeit, eine Bewohnerin in den Arm zu nehmen, wenn das nötig ist. Dennoch merke ich den Kostendruck in dem Pflegeheim. Sollte einer krank werden, ist die Arbeit auf der Station schlicht nicht zu leisten. Die Station, auf der ich tätig bin, geht über zwei Etagen. Unten sollen eigentlich die Bewohner*innen liegen, die wirkliche Pflege benötigen, oben die eigentlich weitgehend Selbstständigen. Jedoch werden entgegen der Absprache mit dem zuständigen Wohnbereichsleiter auch oben schwerst-pflegebedürftige Patient*innen eingeplant. Sie gehen dort komplett unter und werden dann, sobald unten wieder Platz ist, verlegt. Das ist demente Patient*innen mehr als dramatisch. Demente Menschen benötigen einen festen Tagesablauf. Ein Zimmerwechsel ist daher für diese Menschen traumatisch, weil die Orientierung für die Bewohner*innen erschwert wird. Für die Betreiber dieses Heims ist gute Pflege wichtig, aber nur solange die Zahlen stimmen. Aus diesem Grund wird eben eine maximale Belegung angestrebt, allerdings bei einer Besetzung, die nur funktioniert, wenn keiner der Beschäftigten krank wird.
Mittlerweile steht für mich außer Frage, dass die Ökonomisierung der Pflege fatal ist. Gewinne stehen über dem Menschen. In der Vergangenheit war die Pflege eines Menschen reine Nächstenliebe und nichts anderes ist die Pflege heute für uns. Wir pflegen uns fremde Menschen aus nächster Liebe. Trotzdem gibt es viele Träger von Einrichtungen, die diese Nächstenliebe skrupellos ausnutzen. Die Frage, die sich mir stellt, ist: Was ist uns gute Pflege wert? Sollte es nicht eine Frage der Wertschätzung sein, dass die Menschen die letzte Phase ihres Lebens in Würde leben können? Gute Pflege darf kein Preisschild haben.
Denis Badorf ist aktiv bei »Pflege am Limit«.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: 2018 Ökonomisierung und Privatisierung, 4/2018)