GbP 4-2018 Kai-Uwe Helmers

Ökonomisierung

Kai-Uwe Helmers zur Begrifflichkeit der Ökonomisierung des Gesundheitswesens

»Die Vulgärökonomie tut in der Tat nichts, als die Vorstellungen
 der in den bürgerlichen Produktionsverhältnissen
 befangenen Agenten dieser Produktion doktrinär zu
 verdolmetschen, zu systematisieren und zu apologe-
tisieren [...] und alle Wissenschaft wäre überflüssig,
 wenn die Erscheinungsform und das Wesen
 der Dinge unmittelbar zusammenfielen.«
(Karl Marx: »Das Kapital«, Band 3, MEW 25, S. 825)

In einer kapitalistischen Logik zwingt die Ökonomie alle Verhältnisse zum Verharren in dieser Logik und damit zugleich ihrer wirtschaftlichen Dynamik, welche emanzipative Entwicklungen behindert, erschwert und grundsätzlich Veränderungen verhindert. Ökonomie meint in seiner ursprünglichen Bedeutung das Haushalten mit den Gegebenheiten, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln das Notwendige und darüber hinaus das Mögliche zu organisieren.

Ich betrachte hier im Zusammenhang mit dem Gesundheitswesen die Ökonomisierung als die (reelle) Subsumtion gesellschaftlichen Lebens und Austausches unter eine kapitalistische Logik. Der Begriff der Ökonomisierung, wie ich ihn entwickele oder verstehe, hat Überschneidungen und Parallelen zu dem Begriff der Landnahme, wie Klaus Dörre ihn entwickelt (Klaus Dörre 2012). Die Erschließung geographischer oder gesellschaftlicher Bereiche (innere Landnahme), verstanden aus der Grundvoraussetzung heraus, dass diese expansive Entwicklung notwendig für den Fortbestand des Kapitalismus ist und zugleich aus ihm folgt. Ökonomisierung verstanden als Prozess, eine notwendige gesellschaftliche Arbeit, hier den medizinischen Versorgungsbedarf zu decken, mittels wirtschaftlicher Logik kapitalistisch zweckmäßig zu organisieren.

Ökonomismus oder der Mythos vom neoliberalen Sachzwang

»Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist, Verhältnisse, die man nicht besser schildern kann als durch den Ausruf eines Franzosen bei einer projektierten Hundesteuer: Arme Hunde! Man will euch wie Menschen behandeln!«
(Karl Marx: »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie.
 Einleitung«, MEW 1, S. 385)

Der Begriff Ökonomisierung wird unterschiedlich gebraucht. Ökonomisierung soll hier nicht als Effizienzsteigerung oder verbesserte Wirtschaftlichkeit des Gesundheitswesens bzgl. der medizinischen Versorgung verstanden werden. Es meint hier nicht, mit dem geringst notwendigen Aufwand die beste Versorgung herzustellen im Sinne einer »material rationalen« Herangehensweise nach Max Weber. Etwas verkürzend gesagt entspräche ein solches Konzept einer Ziel- bzw. Wertorientierung der eingesetzten Mittel. Dieses entspricht in etwa der Grundlage für die Formulierung im deutschen Sozialgesetzbuch einer ausreichenden und das Notwendige erfüllenden medizinischen Versorgung bei geringst möglichen wirtschaftlichem Aufwand. Weber kritisiert nicht die zugrundeliegende Struktur der hier gemeinten Ökonomisierung.

Dass der Ökonomisierungsprozess im Kern mit dieser partial rationalen Sicht bricht, wurde schon früh deutlich durch einen Blick in die USA: Das marktwirtschaftlichste Gesundheitssystem gilt als das unwirtschaftlichste in diesem Sinne. Es gibt verschiedene Sichtweisen darüber, was Ökonomisierung in diesem Zusammenhang beschreibt und ausmacht. So versteht Hans-Ulrich Deppe Ökonomisierung u.a. auch analog zu Begriffen wie Medikalisierung oder Biologisierung (Deppe 2000). Dies formuliert Deppe als Antwort auf den vorhergehenden und alles dominierenden neoliberalen Diskurs, demzufolge der Markt und der Wettbewerb alles zum Optimum führe. In diesem Diskurs wurde ein scheinbarer Sachzwang und eine Notwendigkeit entwickelt, die Medizin (und mit ihr viele andere Bereiche) marktwirtschaftlich zu organisieren, um so eine vermeintlich bessere und geradezu optimale Anpassung an die notwendigen Veränderungen zu erreichen. Die wichtigsten und einflussreichsten Argumentationsfiguren hierfür waren die der fehlenden Kosteneffizienz des bestehenden Gesundheitssystems, die des demographischen Wandels, die der scheinbar notwendigen Rationierung von Medizin vor dem Hintergrund angeblicher Ressourcenknappheit, die der vermeintlich steigenden Kosten im Zusammenhang mit der technischen und pharmakologischen Entwicklung. Das Gespenst der angeblichen Kostenexplosion durfte auch bei Tageslicht sein Unwesen treiben. All diese Argumentationsfiguren sind eingehend widerlegt.

In dem Diskurs zur Ökonomisierung wurde von neoliberaler Seite, und damit aus vorherrschender Sicht, die Begrifflichkeit ihrer Markttheorie bruchlos auf die Medizin angewandt. Eine abstruse und in der Sache falsche Anwendung: So ist ein/e Patient*in nicht in der Lage, wie ein/e Kund*in über die Qualität der Ware zu urteilen und sich nach einem Abwägungsprozess dafür oder dagegen zu entscheiden. Ein/e Patient*in ist kein/e Kund*in, sondern ein hilfesuchender Mensch und es geht nicht nur um eine Ware, die benötigt wird zur Behandlung, sondern notwendig um eine zwischenmenschliche Beziehung. Die idealtypischen Vorstellungen von Wettbewerb mit Kundensouveränität und freier Wahl durch die Kund*innen existiert in der Medizin nicht Wettbewerb führt nicht zur Verbesserung der medizinischen Versorgung, denn im Wettbewerb geht es um Gewinne und nicht um die beste Versorgung.

Diese idealtypischen Vorstellungen des Neoliberalismus beschreiben die Problemlage und das reale wirtschaftliche Geschehen im Gesundheitswesen nicht. Deutlich wird dies am Privatisierungsprozess der Krankenhäuser. Es sind wenige große Konzerne, die sich den »Markt« der Krankenhausversorgung teilen. Es ist zu erwarten, dass sich der Konzentrationsprozess weiter fortsetzen wird und die großen Konzerne wie z.B. Fresenius Helios, Asklepios und Sana um einiges wachsen und evtl. weiter fusionieren werden. In einer Studie aus dem Jahr 2011 der Schweizer Eidgenössischen Technischen Hochschule wurden 43.000 multinationale Konzerne ermittelt. Nach tiefer gehender Analyse waren es davon jedoch nur 1.318 Unternehmen, die den Großteil der Wirtschaft kontrollieren. Innerhalb dieser wiederum konnten 147 Konzerne identifiziert werden, deren Vernetzung noch stärker ist und etwa 40% der Weltwirtschaft kontrollieren. (nach Kühn 2012, siehe Hilferding 1910).

In diesem Zusammenhang kann davon gesprochen werden, dass die Kategorien von Problem und Lösung nicht passen. Ökonomisierung kann in diesem erkenntnistheoretischen Sinne als Ökonomismus bezeichnet werden. Damit dieser Ökonomismus als quasi falsche Antwort gegeben werden konnte, wurde in dem neoliberalen Diskurs zuvor eine Problematisierung des Gesundheitswesens vorgenommen, die mit falschen Argumenten eine angstbesetzte Sorge erzeugte und der eine neoliberale Lösung als Fluchtpunkt diente. Oder anders ausgedrückt: Von der präformierten Antwort her wird eine passende Problemlage des Gesundheitswesens konstruiert und entwickelt.

Wenn ideologiekritische, diskurstheoretische und erkenntnistheoretische Aspekte benannt werden, halte ich es für angemessener, nicht von Ökonomisierung zu sprechen, sondern von Ökonomismus. Mit Hilfe der neoliberalen Ideologie wird die für den Kapitalismus notwendige, expansive und zerstörerische Ausweitung begründet und neue Räume werden ausgelotet. Der Begriff des Ökonomismus wird in der Geschichte des Marxismus-Leninismus als polemische Charakterisierung für eine, aus der Sicht des Leninismus, »opportunistische« Strömung gebraucht, die den politischen Kampf auf bloß öko­nomische Reformen und bürgerlich-demokratische Inhalte beschränken wolle und die Notwendigkeit einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse leugne. Gramsci verstand darunter eher die deterministische Auslegung der ökonomischen Kritik und wollte die notwendige Kritik nicht alleine auf der ökonomischen Ebene verorten (vgl. Haug 1980/1985«).

Ökonomisierung als prozesshaftes Geschehen

»Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.«
(Brief von Karl Marx an Arnold Ruge,
 1843, MEW 1, S. 344)

Unter Ökonomisierung des Gesundheitswesens verstehe ich einen Prozess, in dem das Gesundheitswesen von Marktförmigkeit durchdrungen wurde und wird. Das Prinzip der Kapitalverwertung, Werte zu verwerten, hielt in vielen Bereichen des Gesundheitswesens Einzug. Es kann ins Gesundheitswesen (Kapital) investiert werden mit der legitimen Erwartung, hier Gewinne zu erwirtschaften. Dazu schreibt Nadja Rakowitz: »Gewinne zu machen (in den Krankenhäusern, Anm. des Autors) war bis Mitte der 1980er Jahre schlichtweg gesetzlich verboten. Ein großer Teil der Gelder im Gesundheitswesen zirkulierte also zwischen öffentlichen, nicht-profit­orien­tierten Institutionen: zwischen den gesetzlichen Krankenkassen, die die Leistungen bezahlten, und den Krankenhäusern. Dieses Geld – immerhin geht es da seit Jahren um Hunderte Milliarden Euro – wurde mit der einen Hand eingenommen und mit der anderen direkt für die Bezahlung von Leistungen wieder ausgegeben […] Inzwischen ist ein großer Teil davon Kapital geworden und dient der Profitgewinnung.« (Rakowitz 2017)

Die Ökonomisierung ist kein Prozess der auf dem ideologischen Übergewicht der neoliberalen Argumente, Texte, Diskurse und/oder der öffentlichen Meinungsvorherrschaft gründet. Die Werte, sprich das angehäufte Kapital im Kapitalismus, müssen verwertet, also vermehrt werden, andernfalls werden Investitionen abgezogen oder nicht mehr getätigt. Es droht die Insolvenz des Unternehmens, denn die Konkurrenz setzt sich auf Grund höherer Gewinne langfristig durch. Das Gesundheitswesen wird zum Geschäftsfeld. Anders ausgedrückt, kann die Ökonomisierung nicht als Resultat des Ökonomismus im Sinne einer falschen Ideologie, falscher Erkenntnisse oder Überbetonung ökonomischer Faktoren verstanden werden, sondern als zunehmende Anwendung kapitalistischer Methodik zur Erwirtschaftung von Gewinnen. Es ist die Dynamik von Kapital, Wert, Ware und Arbeit.

Hier spiegelt sich die zunehmende marktförmige Durchdringung der Gesellschaft wider. Das Kapitalverhältnis setzt seine Wirkmächtigkeit durch. Die Ausweitung des Gesundheitswesens u.a. durch Entwicklung weiterer Behandlungsmethoden, neuer Anwendungsbereiche und Versorgung von immer mehr Menschen und tendenziell aller Menschen ist Teil dieser Dynamik und macht dieses Feld besonders attraktiv.

Parallel zum Kern des Gesundheitswesens sind der pharmakologisch-industrielle und der medizintechnische industrielle Komplex mit der Herstellung von technischen Untersuchungsmitteln und medizinischen Verbrauchsprodukten gewachsen. Diese Industrien waren weit vor dem Kern des Gesundheitswesens – mit dem Aufgabenbereich der unmittelbaren Versorgung von Kranken – kapitalistisch durchorganisiert und vollumfänglicher Teil der Kapitalverwertung. Hier soll zumindest erwähnt werden, dass auch Bereiche wie Apotheken, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Sanitätsgeschäfte, orthopädische Schuhversorgung, Zahntechnik, Vertrieb und Herstellung medizinischer Hilfsmittel etc. einen forcierten Ökonomisierungsprozess durchlaufen haben und weiter durchlaufen.

Der Prozess der letzten Jahrzehnte, in dem das Gesundheitswesen mehr und mehr Marktförmigkeit erlangt hat, ist nach Hagen Kühn analog zu den ursprünglichen Industrialisierungsprozessen zu verstehen:

  • »Rückgang der kleinen, vorkapitalistischen Arten der Produktion (Einzelpraxis, einzelnes Krankenhaus etc.);
  • fabrikmäßig zusammengefaßte, auf dem planmäßigen Einsatz von technischen und organisatorischen Mitteln beruhende Produktion (Krankenhausketten, Ambulatorien, Medical Groups, Integrated Networks etc.); ...
  • Möglichkeiten der Kalkulier- und Standardisier-, Kontroll- und Steuerbarkeit der Arbeitsprozesse auf dieser technologischen Basis; damit nun auch die Möglichkeit, die unmittelbare medizinische Versorgung (über Zulieferer und Versicherer hinaus) zum unmittelbaren Anlagebereich für Kapital werden zu lassen;
  • Marktkonkurrenz und Kapitalverwertung;
  • die Trennung der Produzenten (Ärzte) von den Produk­tions­mitteln und die daraus resultierende Verwandlung von selbständigen Ärzten in erstens abhängig Beschäftigte oder scheinselbständige Kontraktnehmer und zweitens in Unternehmer und Manager.« (Hagen Kühn, 11/1998)

Paul H. Ellwood, ein US-amerikanischer Gesundheitsexperte, »prognostizierte bereits 1971, HMOs (Organisationen in den USA, die Krankenversicherung und medizinische Versorgung aus einer Hand anbieten; Anm. K.-U. H.)‚ könnten Veränderungen im Gesundheitswesen stimulieren, die einige der klassischen Merkmale der industriellen Revolution aufweisen – Konversion zu größeren Produktionseinheiten, technologische Innovationen, Arbeitsteilung, Substitution von Arbeit durch Kapital, dynamische Konkurrenz und Rentabilität als eine unverzichtbare Bedingung des Überlebens‘ (Elwood et al 1971).« (zitiert nach Kühn, 11/1998)

Passend dazu bemängelt das »Bündnis Krankenhaus statt Fabrik« 2017 in einem fortgeschrittenen Stadium der Ökonomisierung: »Medizin und Pflege werden radikal umgewälzt, wie in einer Fabrik: Patienten werden wie Werkstücke behandelt; technisierte, häufig ärztliche Verrichtungen werden aufgewertet; Beziehungsarbeit wird abgewertet; die Zeit ist immer zu knapp; Patienten klagen über eine zunehmende Desorganisation ihrer Behandlung; Über-, Unter-, Fehlversorgung finden sich nebeneinander; die Gesundheitsberufe werden deprofessionalisiert.«

Die Ärzt*innen und das Geld – Ökonomie und ambulante Medizin

»Der menschliche Leib ist von Natur sterblich.  Krankheiten können daher nicht ausbleiben. Warum  wird der Mensch erst dem Arzte unterworfen,  wenn er erkrankt, und nicht, wenn er gesund ist? Weil nicht nur die Krankheit, weil schon der Arzt ein Übel ist.« (Karl Marx: »Die Verhandlungen  des 6. rheinischen Landtags«, MEW 1, S. 59)

Die ambulant tätigen Ärzt*innen verfolgten stets ihr finanzielles Interesse mit großem Geschick. Das wurde und wird ärztlicherseits zu gerne kaschiert. Erich Wulff, Psychiater und als Professor für Sozialpsychiatrie bis 2003 tätig, schreibt dazu: »Die Mystifizierung der Arzt-Patient-Beziehung scheint mir also kein Zufall zu sein, sondern eine Notwendigkeit, die sich aus der Situation ergibt, ökonomischen Motiven folgen zu müssen und diese doch zu verleugnen.« Und im Weiteren heißt es: »So erscheint es mir beinahe ein Euphemismus, zu sagen, daß das Vergütungssystem die Arzt-Patient-Beziehung ›beeinflußt‹. Finanzielle Motive beeinflussen die Prioritäten und wirken sich so auf Entscheidungen aus, die nach der ärztlichen Berufsethik lediglich vom Wohle des Patienten abhängig gemacht werden dürften. Sie bringen den Arzt auch dazu, dem Eide des Hippokrates entgegen zu handeln, der von ihm verlangt, reiche und arme Kranke genau gleich zu behandeln. Derartige Anklagen sind allerdings schon häufig geäußert worden. Als bloße Feststellungen sind sie nahezu wertlos. Es muß darum gehen zu zeigen, auf welche konkrete Art und Weise ein ganz bestimmtes Vergütungssystem, dasjenige der Krankenkassen in der BRD, die Motive des ärztlichen Handelns beeinflußt, wie dadurch Prioritäten verschoben werden, wie dadurch die Gefahr entsteht, daß sowohl die rationale als auch die affektive Seite des Arzt-Patient-Verhältnisses zu einem Handelswert wird. Erfahrungsgemäß ist die individuelle Moral für eine ganze Berufsgruppe nur ein sehr schwacher Halt gegen die sich bietenden ›Versuchungen‹« (Wulff 1971).

Das Vergütungssystem der in der Niederlassung tätigen Ärzt*innen in der Bundesrepublik war lange gekennzeichnet durch Einzelleistungsvergütung. So gab es keine Pauschalen, sondern jede einzelne Tätigkeit wurde entlohnt. Das führte zu einer massiven Ausweitung der Leistungen. Zum anderen wurde in Verhandlungen die Vergütung für die einzelnen Leistungen in Analogie zu den Tarifverhandlungen gesteigert. So kam es zu einer »doppelten Dynamisierung« der ärztlichen Honorare und zu einem überproportional wachsenden Einkommen der ambulant tätigen Ärzteschaft bis in die 1980er Jahre. In dieser Zeit kam es zu einer Fixierung vieler schmerzgeplagter Menschen auf Spritzen. Die Ärzt*in verdiente schnell und einfach viel Geld und der leidende Mensch hoffte auf schnelle Heilung.

Diese Praxis wurde bereits in den 1970er Jahren und immer wieder aus den Reihen des vdää als Ökonomisierung bzw. Kommerzialisierung der Medizin kritisiert und führte in den 1990er Jahren zur Einführung von Budgets und einer komplizierten Mischung aus pauschaler Vergütung und Einzelleistungsvergütung. In einer modifizierten Form gilt dieses Vergütungssystem bis heute weiter. Es erklärt, warum z.B. die sprechende Medizin schlecht und intervenierende Medizin so gut bezahlt wird. Im Bereich der ambulanten Medizin ist der ökonomische Modus stets zentral, wird aber mit größter Selbstverständlichkeit kaschiert und geleugnet. Gravierende Einkommensunterschiede unter den einzelnen ärztlichen Berufsgruppen und zu anderen Berufsgruppen werden nicht thematisiert.

Nadja Rakowitz schreibt in diesem Zusammenhang: Die »Ökonomisierung der Medizin ist mindestens seit 1945 integratives Moment des Korporatismus im Gesundheitswesen. Allerdings war diese Ökonomisierung im Gegensatz zur jetzt diskutierten eben nicht marktförmig. Die Strukturen in der ambulanten medizinischen Versorgung waren und sind gemäß den betriebswirtschaftlichen Kalkülen der Pharma- und Geräteindustrie und vor allem der niedergelassenen Kas­senärzte organisiert. [...] Vor diesem Hintergrund wirkt die Diskussion über die aktuelle oder erst drohende Ökonomisierung des Gesundheitswesens etwas schräg, denn sie suggeriert, dass das Gesundheitswesen irgendwann nicht ökonomisiert gewesen sei. [...] Wenn heute die offiziellen Ärztevertreter ebenfalls die Ökonomisierung oder gar den Neoliberalismus beklagen, heißt das nicht, dass diese Kritik die gleiche Stoßrichtung oder die gleiche Perspektive (schon gar nicht die gleiche Motivation) hat, wie eine linke Kritik«. (Nadja Rakowitz 2006)

Hagen Kühn schreibt dazu 2018: »Die ›Gesundheitsreformen‹ der vergangenen Jahrzehnte sind keine Gesundheitspolitik im Sinne gezielter Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheit, Verhinderung von Krankheit und der effektiven und humanen Versorgung und Betreuung von Kranken. […] Selbst das ›Kostenproblem‹ ist mehrfach reduziert: es interessieren nicht die immateriellen Kosten wie Leid, Schmerz, Ängste, Unsicherheit, Zeitverluste etc. im Gesundheitswesen, sondern lediglich monetäre Kosten. [...] Es ist nicht unwichtig zu erkennen, dass wir es nicht mit ›Fehlern‹ oder politischem ›Versagen‹ zu tun haben. Vielmehr folgt diese Tendenz der realen systemischen Logik der Kapitalverwertung. Für diese sind jeglicher Aufwand zur Reproduktion der lohnabhängigen Bevölkerung ›Kosten‹ (Jargon: ›Lohnnebenkosten‹). Kosten sind komplementär zu den Gewinnen. Und so wie kapitalwirtschaftliche Gewinne niemals zu hoch sein können, können Kosten niemals zu niedrig sein. Gesellschaftlich und politisch ist – machtbedingt – die kapitalwirtschaftliche Sichtweise gleichbedeutend mit dem, was als ›wirtschaftliche Vernunft‹ angesehen wird. […] Es fällt dann nicht auf, dass wir in einer Wirtschaftsgesellschaft leben, die den gesamten Teil des gesellschaftlichen Reichtums, der das Leben der lohnabhängigen Bevölkerung reproduziert, als Kosten behandelt und nicht etwa als Ziel des Wirtschaftens schlechthin« (Hagen Kühn 2018).

Kai-Uwe Helmers ist Facharzt für Allgemeinmedizin in Hamburg und Mitglied der vdää Regionalgruppe Hamburg

Quellen

  • Ulrich Bauer (2007): Jahrbuch Kritische Medizin 44 (im Archiv http://www.jkmg.de zugänglich)
  • Hans Ulrich Deppe (1987): »Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar«
  • Hans Ulrich Deppe (1998): »Neoliberalismus und Gesundheitspolitik in Deutschland«, in: »Strategien der Gesundheitsökonomie«, Hrsg. Heidrun Kaupen-Haas, Christiane Rothmaler
  • Hans Ulrich Deppe (2000): »Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems«
  • Klaus Dörre (2012): »Landnahme«, Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus
  • Wolfgang Fritz Haug (1980/1985): »Was ist Ökonomismus«, in: http://www.wolfgangfritzhaug.inkrit.de/documents/Was_ist_Oekonomismus.pdf
  • Rudolf Hilferding (1910): »Das Finanzkapital«
  • Hagen Kühn: Jahrbuch für Kritische Medizin und Gesundheitswissenschaften (JKM) Nr. 27, 29, 34, 42, 44, 49 (Alle Beitrage bis auf den aus JKM 49 sind offen zugänglich im Archiv des JKM, unter http://www.jkmg.de)
  • Hagen Kühn (2004): »Die Ökonomisierungstendenz in der medizinischen Versorgung«, in: »Markt versus Solidarität«, Hrsg.: Gine Elsner, Thomas Gerlinger, Klaus Stegmüller
  • Hagen Kühn, (2012): »Auf dem Weg in die Postdemokratie«, Arbeitsgruppe alternative Wirtschaftspolitik, in: http://www.alternative-wirtschaftspolitik.de
  • Hagen Kühn (2018): »Überlegungen zu einer Politischen Ökonomie der Gesundheitspolitik«, unveröffentlichter Text
  • Nadja Rakowitz (2010): »Zur Subsumtion des Gesundheitswesens unter das Kapital«
  • Nadja Rakowitz (2006): »Kritik der politischen Ökonomie des Gesundheitswesens«
  • Nadja Rakowitz (2017): »Gesundheit ist eine Ware, Mythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesens«, (3. Auflage), unter https://www.rosalux.de/publikation/id/6940/gesundheit-ist-eine-ware/
  • Erich Wulff (1971): »Der Arzt und das Geld«, in Das Argument 69, 13. Jahrgang

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: 2018 Ökonomisierung und Privatisierung I, 4/2018)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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