Gesundheitskämpfe in Italien
Von der Arbeitsmedizin zur Arbeitermedizin* – von Helmut Wintersberger
Wir veröffentlichen hier – leicht gekürzt – einen Aufsatz von Helmut Wintersberger, der zuerst 1978 im Jahrbuch für kritische Medizin erschienen ist. Beim Lesen wird dies am Duktus, an der politischen Perspektive und auch dem Optimismus bezüglich der Arbeiterbewegung deutlich. Wir wollen mit diesem Beitrag an diesen etwas in Vergessenheit geratenen fortschrittlichen Ansatz erinnern.
Im Zeitraum zwischen 1960 und 1968 war in Italien bei sinkender Beschäftigung, wachsender Produktion und stagnierenden Löhnen eine rasante Zunahme der Arbeitsunfälle zu verzeichnen. In einigen italienischen Schlüsselbetrieben hatten sich die Arbeitsbedingungen durch Arbeitsintensivierung (ohne flankierende Investitionen) in einem Ausmaß verschlechtert, dass sich die wachsende Unzufriedenheit der Arbeiter am Ende des Dezenniums (vor allem im »heißen Herbst« 1969) in Arbeitskämpfen manifestierte, die manchmal tumultartige Formen annahmen. Es ist ein Verdienst der italienischen Gewerkschaftsbewegung, die in diesen umstrukturierten Manifestationen freiwerdenden Energien in dauerhafte Errungenschaften der italienischen Arbeiterklasse umgesetzt zu haben.
Diese Errungenschaften sind gesetzlicher, organisatorischer und kultureller Art. Zu den gesetzlichen Neuerungen gehört zweifellos die Verabschiedung des »Statuts der Rechte der Arbeiter« im Jahr 1970. Die bedeutendste organisatorische Innovation stellt die Einführung eines neuen Systems der betrieblichen Arbeitervertretung, der Fabrikräte bzw. Delegiertenräte dar, bei welchem jede homogene Arbeitergruppe (im Schnitt ca. 50 Arbeiter) durch einen jederzeit abberufbaren Delegierten im Fabriksrat vertreten ist. Eine der größten kulturellen Errungenschaften der italienischen Arbeiterklasse ist die Konstruktion eines neuen arbeitswissenschaftlichen Paradigmas, der Arbeitermedizin, welche das traditionelle Paradigma durch die Integration des Expertenwissens mit der Arbeitererfahrung überwindet. Im Forschungsprozess wird die Objektrolle des Arbeiters durch die Subjektrolle des kollektiven Arbeiters (homogene Gruppe) ersetzt.
Prävention als Partizipation – Fundamentale Begriffe der Arbeitermedizin
Angesichts des Ansteigens der Arbeitsunfälle, der Berufskrankheiten im engeren und weiteren Sinn sowie der Frühinvalidität, eines Trends, der sich in allen entwickelten kapitalistischen Ländern beobachten lässt, muss man zu dem Schluss gelangen, dass die traditionelle Arbeitsmedizin sowie die bisherigen Präventionsmaßnahmen gescheitert sind. Dieses Scheitern ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass der Gesundheitsschutz der Arbeiter an die Arbeitsinspektorate, die Werksärzte und ähnliche Institutionen delegiert worden ist. Die Zahl der Arbeitsinspektoren steht aber in keinem Verhältnis zu den Aufgaben, die zu bewältigen sind; die Werksärzte wiederum werden vom Unternehmer bezahlt und haben daher auch dessen Interessen wahrzunehmen. Der Gesundheitsschutz der Arbeiter kann dabei nursolange eine Rolle spielen, als die Profitinteressen des Unternehmers nicht gefährdet werden. Daraus leitet sich der Fundamentalsatz der Arbeitermedizin ab: Es gibt nur eine Gruppe in der Fabrik, die ein unmittelbares Interesse hat, die Gesundheit des Arbeiters zu schützen: nämlich die Arbeiter selbst.
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Die Nichtdelegierung (non-delega)
Die Nichtdelegierung ist ein Prinzip, das von der italienischen Arbeiterklasse während der Arbeitskämpfe der späten 60er Jahre entwickelt worden ist und inzwischen bereits in vielen Betrieben angewandt wird. Es gehört heute schon zur Plattform der drei repräsentativen Gewerkschaften, der kommunistisch-sozialistischen CGIL, der katholischen CISL und der sozialdemokratischen UIL. Nichtdelegierung bedeutet einfach, dass die Arbeiter in den Fabriken ihre Gesundheit selbst schützen müssen, das heißt: Der Gesundheitsschutz der Arbeiter darf an niemanden delegiert werden, nicht einmal an die Gewerkschaften. Das heißt aber auch, dass sich die Arbeiter in die Lage versetzen müssen, die Einhaltung der Sicherheitsbestimmungen selbst zu kontrollieren. Nichtdelegierung bedeutet ferner, dass die Arbeiter dem Unternehmer das Recht nehmen, die Arbeitsorganisation ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Arbeiter zu bestimmen.
Die Verwirklichung der Nichtdelegierung hat jedoch drei Voraussetzungen:
- Die Arbeiter müssen wissen, welche Beeinträchtigungsfaktoren in jedem Teil der Fabrik wirksam sind und in welchem Ausmaß.
- Sie müssen wissen, welche negativen Auswirkungen diese Faktoren auf ihre Gesundheit haben (Unfälle, Berufskrankheiten im engen und weiten Sinn, Krankenstände usw.).
- Sie müssen wissen, mit welchen technischen und organisatorischen Lösungen diese Faktoren beseitigt werden können.
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Die homogene Arbeitergruppe (gruppo operaio omogeneo)
Die homogene Arbeitergruppe ist die kleinste Zelle in der Fabrik, ein Produkt der modernen Arbeitsorganisation. Sie ist durch gleiche Arbeitsumwelt und des halb durch gleiche Risiken charakterisiert. Jedes Mitglied der homogenen Gruppe befindet sich täglich in derselben Situation. Der Arbeiter stellt ohne technische Instrumente (Thermometer, Phonometer usw.) aufgrund seiner eigenen Intelligenz und aufgrund seiner eigenen Erfahrungen die Auswirkungen der Arbeitsumwelt auf seine und seiner Arbeitskollegen Gesundheit fest.
Das Arbeitsrisiko ist daher für die homogene Gruppe ein klarer Begriff. Sie misst es:
- an der Zahl jener Arbeiter, bei denen leichte Gesundheitsstörungen auftreten (Husten, Verdauungsstörungen usw.);
- an den Krankenständen;
- an der Häufigkeit, mit der dieselben Krankheiten immer wieder auftreten;
- am häufigen Personalwechsel, an freiwilligen Kündigungen und Versetzungen;
- an den Jahren oder Monaten, die notwendig sind, um einen lebhaften und kräftigen jungen Arbeiter in ein müdes und desinteressiertes Individuum zu verwandeln, welches froh ist, sich am Wochenende ausschlafen zu können;
- an der Unfallhäufigkeit in der Abteilung.
Die homogene Gruppe, die denselben Risiken ausgesetzt ist und von denselben Störungen, denselben Unfällen und denselben Krankheiten heimgesucht wird, und zwar mit einer Wahrscheinlichkeit, die über der Norm liegt, ist von größtem wissenschaftlichen Interesse. Wichtig ist es, diese Erscheinungen auf der Ebene der Gruppe zu analysieren (statistisch, epidemiologisch) und nicht auf der Ebene des einzelnen Individuums, wo sie nicht interpretierbar sind.
Dieses epidemiologische Verfahren, welches die Entwicklung und das Verhalten von Krankheiten nicht auf individueller, sondern auf kollektiver Ebene betrachtet, wird von der Arbeiterklasse im Rahmen der spontanen Beobachtung sicherlich seit Jahrhunderten angewandt. Vergessen wir nicht, dass die Arbeiter seit Jahrhunderten die Silikose als eine durch den Staub in Bergwerken und Steinbrüchen verursachte Berufskrankheit erkannt haben, während die »medizinische Wissenschaft« noch im zwanzigsten Jahrhundert namhafte Spezialisten hervorbrachte, die die These vertraten, diese Krankheit sei keine Berufskrankheit, sondern eine besondere Form von Tuberkulose.
Die homogene Arbeitergruppe gibt sich jedoch nicht mit der Feststellung von Krankheitshäufigkeiten zufrieden, sie forscht auch nach den Krankheitsursachen (Stäube, Gase, Arbeitshetze usw.). Der Begriff der homogenen Arbeitergruppe mag zwar in Österreich und in der BRD völlig unbekannt sein; er entspricht jedoch auch hier der Realität. Die homogene Gruppe zu finden, zu organisieren, aufzuklären und zu aktivieren ist von fundamentaler Bedeutung für die Schaffung des Klassenbewusstseins in den Fabriken. Für Gewerkschafter und fortschrittliche Arbeitsmediziner stellt sie den einzigen Ansatz für arbeitsmedizinische Forschung und gesundheitspolitische Aktion in den Fabriken dar.
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Die kollektive Bewertung (validazione consensuale)
Unter der kollektiven Bewertung versteht man die Feststellung der Zufriedenheit oder Unzufriedenheit mit gegebenen Arbeitsbedingungen beziehungsweise der Erträglichkeit oder Unerträglichkeit einer gegebenen Arbeitssituation durch die homogene Arbeitergruppe. Nur der Arbeiter bzw. die homogene Arbeitergruppe. die täglich acht Stunden denselben Risiken am Arbeitsplatz ausgesetzt ist, kann wirklich beurteilen, welcher Schaden für die Gesundheit des Arbeiters aus dieser Arbeitsumwelt resultiert.
Arbeitsumwelt und Krankheit – Typologie krankmachender Faktoren
Unter Arbeitsumwelt versteht man die Gesamtheit der Produktionsbedingungen, unter denen sich investiertes Kapital und Arbeitskraft in Ware, Profit und gesundheitliche Schäden verwandeln. Das Untersuchungsschema, welches die italienische Arbeiterklasse entwickelt hat, teilt die gesundheitsschädlichen Faktoren in der Arbeitsumwelt in vier Gruppen:
- Faktoren, die auch in einer Wohnung vorhanden sind; dazu gehören: Temperatur, Feuchtigkeit, Belüftung, Beleuchtung, Lärm und Kubatur (der für einen Arbeiter verfügbare Raum).
- Substanzen oder bestimmte Energieformen, die es in einer Wohnung im allgemeinen nicht gibt; dazu gehören: Stäube, Gase, Dämpfe, Vibrationen, ionisierende Strahlen.
- Ermüdungsfaktoren, die mit der Tätigkeit der Muskeln zusammenhängen, das heißt schwere körperliche Arbeit.
- Ermüdungsfaktoren, die nicht unmittelbar mit körperlicher Arbeit zusammenhängen, sondern mit folgenden Arbeitsbedingungen: schnelles Arbeitstempo, verantwortungsvolle oder repetitive und monotone Arbeit, geistige Anstrengung oder Überanstrengung der Augen, wechselnde Arbeitszeit, Zwangshaltungen, autoritäre Betriebsführung usw.
Die zugrundeliegende Vorstellung besteht darin, dass die vier Gruppen von in der Arbeitsumwelt wirksamen Faktoren schädliche Folgen für die Gesundheit der Arbeiter haben. Dabei handelt es sich um Unfälle, unspezifische Krankheiten und Berufskrankheiten (im engeren Sinn). Das Schema, welches die Arbeiterklasse der Untersuchung der gesundheitsschädlichen Faktoren in der Arbeitsumwelt zugrunde legt, stellt eine echte Alternative zur traditionellen Arbeitsmedizin und Arbeitshygiene dar; denn:
- die Faktoren werden um die dritte und vierte Gruppe erweitert (körperliche und nervliche Belastung);
- es setzt der eindimensionalen, monokausalen Betrachtung jeweils nur eines einzigen Faktors die globale Betrachtung aller Faktoren, die in einem Produktionsbereich (Schweißerei, Lackiererei) auftreten, entgegen und trägt so der Tatsache Rechnung, dass auf den Arbeiter (Schweißer, Lackierer) alle vorhandenen Faktoren gleichzeitig einwirken; denn wenn auch die einzelnen Faktoren unter den maximalen Arbeitsplatzkonzentrationen (MAK-Werten) liegen, können sie zusammengenommen doch gesundheitliche Störungen hervorrufen.
Es ergibt sich daher die Notwendigkeit, den Unternehmern und den Ärzten das umfassendere Untersuchungsschema aufzuzwingen, welches die gleichzeitige Wirkung aller Faktoren in einem Produktionsbereich berücksichtigt. Und hierfür ist die Erfahrung der homogenen Arbeitergruppe der einzige Bezugspunkt.
Die derzeitige Situation in Italien ist dadurch charakterisiert, dass die Arbeiter Konzentrationen akzeptieren, die sicherlich schädlich sind und über den international anerkannten Werten liegen. Ein betriebliches Kampfziel ist daher die Bestimmung von MAK-Werten, jenseits derer die Arbeitsumwelt als nicht mehr zumutbar angesehen wird. Früher gab es dafür nur aus Tier- oder Menschenversuchen gewonnene allgemeine Richtwerte. Mit dem von der italienischen Arbeiterklasse entwickelten Instrumentarium ist es aber möglich geworden, auf die konkreten Besonderheiten einer jeden Arbeitsumwelt einzugehen und spezielle MAK-Werte zu bestimmen. Absolutes Kampfziel ist es aber zweifellos, die MAK-Werte auf Null zu drücken, das heißt, die schädlichen krankmachenden Stoffe gänzlich aus der Arbeitsumwelt zu eliminieren.
Epidemiologische Methoden: Datenerfassung und Dokumentation
Welche Informationen sind dazu erforderlich?
Zur Kontrolle der krankmachenden Faktoren benötigt man vor allem die genaue Kenntnis der jeweiligen Arbeitsumwelt.
a. Qualitative Informationen über die Arbeitswelt: Zunächst muss man wissen, welche krankmachenden Faktoren in der Arbeitsumwelt vorhanden sind (Staub, Hitze, schlechte Beleuchtung, Lärm, schnelles Arbeitstempo usw.). Hierbei spielt die spontane Beobachtung durch die Arbeiter eine wesentliche Rolle.
b. Quantitative Informationen über die Arbeitsumwelt: Man muss wissen, in welchem Ausmaß die Faktoren vorhanden sind, zum Beispiel: Wie groß ist-der Lärm (in Dezibel)? Wie stark/schwach ist die Beleuchtung (in Lux)? Wie viel Staub ist in der Luft (Anzahl der Partikel)? usw.
c. Der Zusammenhang – Arbeitsumwelt und Gesundheit: Man muss die möglichen beziehungsweise wahrscheinlichen Folgen der Krankheiten, Unfälle, Störungen, Zahl der Krankenstände kennen.
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Erhebungsverfahren
1. Stufe: Spontane Beobachtung: Die spontane Beobachtung ist ein wichtiges Instrument zur Kontrolle der Arbeitsumwelt; die erste Feststellung giftiger Substanzen und anderer krankmachender Faktoren in der Arbeitsumwelt entspringt der Sinneswahrnehmung der Arbeiter (Geruch, Geschmack, Gehör und Auge). Dieser Weg ist sicher nicht wirksam genug, da er zwar häufig die Präsenz krankmachender Faktoren feststellen, diese aber nicht exakt identifizieren kann. Es wäre jedoch falsch, die Bedeutung der spontanen Beobachtung zu unterschätzen; sie stellt vielmehr den Ausgangspunkt eines komplexen Forschungsprogramms der italienischen Arbeiterklasse dar. Der Arbeiter bringt sein physisches und psychisches Unbehagen durch spontane, meist unstrukturierte Äußerungen zum Ausdruck.
2. Stufe: der Standard-Fragebogen: Die Resultate der spontanen Beobachtung haben im Wesentlichen eine Alarmwirkung, die von den Gewerkschaften zur Erarbeitung eines umfassenden und gesicherten Wissens über die Arbeitsumwelt und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit der Arbeiter eingesetzt wird. Hierzu eignet sich ein standardisierter Fragebogen, der von der im vorangegangenen Abschnitt behandelten Typologie ausgeht. Der Fragebogen wird im Allgemeinen von einem Mitglied der Gruppe ausgefüllt, und zwar nach der Sammlung der Beobachtungen aller Gruppenmitglieder, die jede einzelne Frage gemeinsam analysieren, diskutieren und beantworten.
3. Stufe: Programmierte kontinuierliche Datenerfassung: Ausgehend von der spontanen Beobachtung der Arbeiter erreicht man über die Ausfüllung und Auswertung des standardisierten Fragebogens die dritte Stufe der programmierten und kontinuierlichen Erfassung der Daten aus der Arbeitsumwelt sowie der damit zusammenhängenden medizinalstatistischen Daten über die gesundheitliche Lage der Arbeiter. Die Grundlagen dieses Systems bilden vor allem zwei Instrumente, das Umweltregister und das Gesundheitsregister.
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Die Dokumentation
Die Dokumentation erfolgt auf zwei Ebenen: auf Gruppenebene werden diese im Umweltregister und im Gesundheitsregister festgehalten, auf individueller Ebene im Gefahrenbuch und im Gesundheitsbuch. Das Umweltregister enthält abteilungsweise und gruppenweise alle Daten über Gefahren und Risiken in der Arbeitsumwelt. Das Gesundheitsregister enthält alle gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die sich in einem Zeitraum bei einer homogenen Gruppe in der Form von Unfällen, Berufskrankheiten, Krankenständen, Invalidität usw. manifestiert haben.
Diese beiden Register ermöglichen es, auf betrieblicher, Branchen- oder nationaler Ebene Arbeitsumwelt und negative Auswirkungen auf die Gesundheit gegenüberzustellen, mit dem Ziel, in einer epidemiologischen Untersuchung die Krankheitsursachen festzustellen und zu eliminieren. Dieser Umstand ist für die Gewerkschaften vor allem bei der Aufstellung der qualitativen Forderungen sehr bedeutsam.
Das Gefahrenbuch enthält auf individueller Ebene alle Daten aus dem Umweltregister. Aus diesem Dokument ist daher der Zusammenhang zwischen Arbeitsumwelt und Krankheit, zwischen Arbeitsumwelt und Unfall ersichtlich. Es dient aus diesem Grund:
- bei der Durchsetzung von Ansprüchen des Arbeiters gegenüber dem Unternehmer beziehungsweise der Unfallversicherung;
- bei der Prävention, Diagnose und Heilung durch den Arzt;
- bei der Bestimmung der generellen und spezifischen Eignung für eine bestimmte Arbeit.
Das Gesundheitsbuch begleitet den Arbeiter während seines ganzen aktiven Lebens. Er verwendet es nicht nur bei Untersuchungen im Betrieb, sondern auch bei Untersuchungen durch den Kassenarzt. Da alle Untersuchungsergebnisse im Gesundheitsbuch festgehalten sind, können das Entstehen und Fortschreiten einer Krankheit beobachtet und somit Prävention, Diagnose, Heilung und Rehabilitation erleichtert werden. Gefahrenbuch und Gesundheitsbuch können ferner zum Ausgangspunkt einer neuen Arzt-Patient-Beziehung werden, in weicher beiden eine wesentliche Rolle bei der Bestimmung der Diagnose und der Feststellung der gesundheitlichen Beeinträchtigung zukommt.
Schlussfolgerungen
Ich habe den Versuch unternommen, mit diesem Beitrag einen Einblick in die Gesundheitskämpfe zu geben, die während der letzten Jahre in den italienischen Fabriken auf der Grundlage eines neuen epidemiologischen Modells geführt wurden. In einer Schulungsbroschüre der italienischen Metallarbeitergewerkschaften heißt es eingangs, dass es sich dabei um ein »erstes Modell« handelt. »Wir betonen den Begriff erstes Modell, denn nur die Kritik an diesem Modell basierend auf den breiten Erfahrungen der italienischen Arbeiterklasse und der Gewerkschaften – kann zur Konstruktion eines Modells führen, welches ein Maximum an Effektivität in sich birgt.«
Bruno Trentin hat einmal – unter Bezugnahme auf die europäische Gewerkschaftsbewegung – den Satz geprägt: »Entweder gelingt es uns, die italienische Art des Arbeiterkampfes in die anderen Länder Europas zu exportieren, oder es wird dem Kapital gelingen, die DGB-Politik nach Italien zu importieren.« Mit etwas vorsichtigeren Formulierungen hat sich einer der führenden gesundheitspolitischen Strategen der KPI, Giovanni Berlinguer, zu ebendiesem Thema zu Wort gemeldet: »Wir sind leider das einzige Land – ich sage leider, denn es wäre wünschenswert, dass diese Erfahrungen Verbreitung finden – das einzige Land, wo das Thema Gesundheit ein Thema des Kampfes der Volksmassen geworden ist und wo die werktätigen Klassen, organisiert von den Gewerkschaften und von den Arbeiterparteien, die führende Rolle im Kampf um die Gesundheit spielen.« Und an anderer Stelle meint Berlinguer: »Ein Rechtsvergleich würde in der Tat zeigen, dass das Statut der Arbeiterrechte und einige Kollektivverträge, die zwischen 1969 und 1973 in Italien abgeschlossen wurden, avantgardistische Errungenschaften im Rahmen der kapitalistischen Welt darstellen. Den Vergleich der einzelnen Paragraphen überlasse ich den Juristen und Gewerkschaftern. Es gibt jedoch einige Konzepte, einige theoretische Positionen aus den Erfahrungen dieser Jahre, die in den Massen verwurzelt sind und deren Bedeutung wahrscheinlich über die Frage der Gesundheit sowie über die Grenzen Italiens hinausreicht.«
Die Verbreitung der italienischen Arbeitermedizin begegnet bei Intellektuellen in Österreich oder der BRD keinen großen Schwierigkeiten. Der vorliegende Beitrag wurde in ähnlicher Form im März 1976 im Allgemeinen Krankenhaus in Wien vor Ärzten, Sozialwissenschaftlern und Medizinstudenten vorgetragen und fand dort größtes Verständnis. Schwieriger ist es, die Arbeitermedizin den Gewerkschaften und den Arbeitern selbst näherzubringen.
Der Artikel beruht im Wesentlichen auf einer von Sandra Gloria bearbeiteten Schulungsbroschüre des Gewerkschaftsverbandes CG IL sowie einer Schulungsbroschüre der Metallarbeitergewerkschaft FLM (beide aus dem Jahr 1971). Die Arbeitermedizin hat inzwischen (trotz der Wirtschaftskrise in Italien) weitere Fortschritte gemacht. Die Ausdehnung der Arbeitsumwelt- und Gesundheitsregister auf rund 7 Millionen Arbeiter, die Herausgabe der Zeitschrift »Medicina dei Lavoratori« durch das gewerkschaftliche Forschungs- und Dokumentationszentrum in Rom, die Einrichtung von zwölf regionalen gewerkschaftlichen Koordinationszentren gegen die Gefahren in der Arbeitsumwelt, der Ausbau der Schulungsmöglichkeiten und die Heranbildung von arbeitswissenschaftlich bestens ausgebildeten Arbeiterkadern mögen dies beispielhaft belegen. Demgegenüber mag das im Beitrag erwähnte »Arbeiter-Ärzte-Studenten-Kollektiv« (ein Beweis für die fruchtbare Verbindung von Arbeiter- und Studentenbewegung in Italien am Ende der 60er Jahre) aus heutiger italienischer Sicht überholt sein. Ich habe es dennoch im Text belassen, weil es ein strategischer Ansatzpunkt für die Umsetzung der Arbeitermedizin in Österreich oder der BRD sein könnte.
Aus: Jahrbuch für kritische Medizin, Band 3., Argument-Sonderband AS 27, Wolfgang Fritz (Hrsg.), Berlin 1978
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Arbeit und Gesundheit, 2/2018)