Wie entsteht ein Hype?
Gine Elsner zum Problem der Experimente mit Stickstoffdioxid
Plötzlich war der Hype da. Er begann am 29. Januar 2018 und dauerte eine gute Woche. Rundfunk und Fernsehen begannen. Die Printmedien folgten. »Kritik von der Kanzlerin« titelte die Frankfurter Rundschau am 30. Januar 2018. »Diese Tests an Affen oder sogar Menschen sind ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen«, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Der Bundesverkehrsminister Christian Schmidt (CSU) hatte »keinerlei Verständnis für solche Tests zum Schaden von … Menschen«. Die Umweltministerin sprach von »dreisten und unseriösen Methoden«, die Bundeswirtschaftsministerin erklärte, es gebe klare ethische Grenzen, die nicht überschritten werden dürften. Der niedersächsische Ministerpräsident nannte die Tests »absurd und widerlich«. Was war geschehen?
Geschehen war, was seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik gängige Praxis in der Arbeitsmedizin-Forschung ist: dass nämlich Menschen in Simulationskammern bestimmten Schadstoffen ausgesetzt werden, damit anschließend die Folgen untersucht werden können. Niemand in der Öffentlichkeit hatte je an solchen Untersuchungen Kritik geübt.
Jetzt ging es um eine experimentelle Studie im Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der RWTH Aachen, bei der 25 gesunde junge Menschen in einer Arbeitsplatz-Simulationsanlage von 41?m² einmal wöchentlich für drei Stunden einer Exposition von Stickstoffdioxid ausgesetzt wurden. Die Versuchsteilnehmer bekamen 100 Euro pro Tag. Anschließend wurden ihr Blut, Schleim und Nasensekret untersucht.1
Auftraggeber der Studie war die Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor (EUGT), eine Lobbyorganisation der Autoindustrie, die 2007 gegründet wurde und sich im Sommer 2017 auflöste.2 Auch die EUGT war zuvor schon bekannt, und vor allem war bekannt, dass einige Arbeitsmedizinprofessoren im Beirat dieser Organisation saßen. Geschäftsführer der Organisation war Michael Spallek, langjähriger Betriebsarzt bei VW. Das Volkswagenwerk trug seine Lohnkosten. Als habilitierter Privatdozent der Frankfurter Goethe-Universität hat er direkten Kontakt zu Forschung und Lehre.3 Mit dem Direktor des Frankfurter Instituts für Arbeitsmedizin publiziert Spallek seit 2008. Als jener nach Frankfurt berufen wurde, zitierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung den »neuen Star« mit den Worten, die Luft in Frankfurt sei so sauber wie lange nicht mehr.4
Es war ein US-amerikanischer Zeitungsartikel, der den jetzigen Hype bewirkte. Er verwies auf Affenversuche in den USA im Auftrag der EUGT. In der Folge wurden die Aachener Simulationsversuche bekannt, die bereits im Sommer 2017 veröffentlicht worden waren.5 Offensichtlich verfügen die Amerikaner über mehr Potenzen, Skandale öffentlich zu machen, als wir. Denn auch der Abgasbetrug wurde ja in den USA entdeckt.
Anhörung im Bundestag und Aktuelle Stunde
Am 2. Februar 2018 fand im Bundestag auf Antrag von Bündnis 90/Die Grünen eine Aktuelle Stunde statt zu den Abgasversuchen. Oliver Krischer, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Grünen, kritisierte, Prof. Dr. Helmut Greim, inzwischen 82 Jahre alt, Vorsitzender des EUGT-Beirats und Toxikologe, habe die Stickoxide als nicht gefährlich deklariert. Christian Schmidt (CSU), der geschäftsführende Verkehrsminister, sprach von einem inakzeptablen Skandal, denn die Tests seien allein zu Zwecken der Reinwaschung von Dieselmotoren durchgeführt worden, wofür ihm jedes Verständnis fehle. Er griff seinen Vorredner an und nahm Bezug auf einen Untersuchungsausschuss, der anderthalb Jahre zuvor stattgefunden hatte: »Wo war die Opposition im Untersuchungsausschuss gewesen? Weshalb haben Sie vor eineinhalb Jahren nichts gesagt? Sie, Herr Krischer, waren Obmann im Untersuchungsausschuss.« Denn es wurde deutlich – auch durch Kirsten Lühmann (SPD), Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur –, dass in dem Untersuchungsausschuss anderthalb Jahre zuvor Helmut Greim angehört wurde und von Tierversuchen und Menschenversuchen berichtet hatte. Die SPD-Abgeordnete hatte ein Problem damit, seinerzeit nicht nachgefragt oder interveniert zu haben – jetzt aber die Sache zu skandalisieren. Auch der CSU-Abgeordnete Steffen Bilger, ebenfalls Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur, sagte: »Was wir wissen, entspricht nicht ethischen und moralischen Kriterien.« Die Abgeordnete der Linken gab zu, dass man über einen Skandal rede, der seit drei Jahren bestünde. Nur die FDP-Abgeordnete exkulpierte die RWTH ebenso wie der Abgeordnete der AfD, der sagte, dass die RWTH gegen kein geltendes Recht verstoßen habe. Alle anderen Abgeordneten hatten das Problem, dass sie jetzt einen Sachverhalt skandalisierten, den sie einige Zeit zuvor akzeptiert hatten.
Denn noch nie hatte die Politik Anstoß daran genommen, dass Menschen in Simulationskammern schädlichen Expositionen ausgesetzt würden. 1980 legte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Auftrag des Bundesministers für Forschung und Technologie eine »Denkschrift zur Lage der Arbeitsmedizin« vor.6 Bundesminister für Forschung und Technologie war seit 1974 Hans Matthöfer (1925-2009), der ein Forschungsprogramm zur Humanisierung des Arbeitslebens ersann und dazu eine Bestandsaufnahme zu den vorhandenen Forschungskapazitäten anforderte. Dieses Forschungsprogramm sollte vor allem auch Wissenschaftler der Sozialwissenschaften in die Forschungsarbeiten zur Humanisierung der Arbeit einbeziehen.7 Denn im Ergebnis erbrachte die DFG-Denkschrift eine labormäßige, apparateintensive und experimentelle Forschungsrichtung in den Instituten der Arbeitsmedizin. So wurde deutlich, dass es mindestens 20 Simulationskammern gab: Klimakammern, Schallschutzkammern (u.a. für experimentelle Schichtarbeit), Ganzkörper-Vibrationsanlagen, Expositionskammern (für Schadstoffbelastungen) oder eine Unterdruckkammer.8
Diese Denkschrift blieb nicht unkritisiert – aber der Kreis der Kritiker war äußerst gering, und unter ihm waren nur vier Ärzte.9 Niemand von Politik oder Presse fragte nach, was in diesen Kammern passierte. Sie interessierten sich auch nicht dafür, als in den folgenden Jahren Menschen Lösemitteldämpfen in Simulationskammern ausgesetzt wurden – zum Beispiel in Gießen oder Hannover.10 Im ersten Fall wurden sieben Probanden in einer Versuchskammer insgesamt acht Stunden lang einer Exposition ausgesetzt, und im zweiten Fall wurden 16 männliche Probanden jeweils zweimal vier Stunden lang gegenüber verschiedenen Konzentrationen des Lösemittels exponiert.
Das Experiment ist in der Medizin immer noch die Methode der Wahl
Dass auch die Ethikkommission der RWTH die Stickstoffdioxid-Experimente an den Probanden befürwortete, liegt daran, dass das Experiment nach wie vor in der Medizin die Methode der Wahl ist. Denn Medizin ist vor allem dazu da, Krankheiten zu heilen. Es geht in der medizinischen Forschung darum, neue Heilverfahren zu entwickeln. Die müssen erprobt werden: zunächst am Tier. Einem Tier wird eine bestimmte Schädigung zugefügt, und dann wird im Experiment überprüft, ob das neue Heilmittel die Schädigung bekämpft. Von der medizinischen Forschung, die auf neue Heilverfahren orientiert, wurde die experimentelle Situation dann auf die Arbeitsmedizin übertragen.
50 Prozent der medizinischen Doktorarbeiten sind experimentelle. Eigentlich haben nur experimentelle Arbeiten die Chance, mit einer Bestnote (»magna« oder »summa cum laude«) bewertet zu werden.11 Alle methodischen Forschungsansätze, die nicht experimenteller Art sind, gelten in der Medizin als suspekt. Vermutet wird oft, dass gerade in der experimentellen Situation die Objektivität gewahrt werde. Doch eine experimentelle Situation widerspiegelt niemals die Alltagssituation, unter der Menschen leben und arbeiten. Sie reduziert zwar die Komplexität, möglicherweise aber in nicht akzeptabler Weise. Die Probanden in der Aachener Simulationskammer waren jung und gesund und widerstandsfähig; sie konnten in der Kammer lesen oder Gesellschaftsspiele machen. In der wirklichen Arbeitswelt sitzt aber niemand ruhig da und liest oder spielt, sondern er hetzt, arbeitet vielleicht im Akkord; er ist vielleicht auch nicht jung und widerstandsfähig. Die experimentelle Anordnung verändert stets die Umwelt, die sie zu erforschen meint.
So bleibt zu hoffen, dass das Experiment aus der Arbeitsmedizin nun allmählich verschwindet. Politik und Presse sollten wachsam bleiben und öfter nachfragen.
Prof. Dr. med. Gine Elsner, Fachärztin für Arbeitsmedizin, Diplomsoziologin, war bis 2009 Direktorin des Instituts für Arbeitsmedizin, Fachbereich Medizin der Goethe-Universität, Frankfurt am Main.
1 Hessischer Rundfunk (HR), Hörfunk »Der Tag« vom 31. Januar 2018; »Aachener Student: So war es im Abgastest«, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. Februar 2018
2 Dohmen, F. u. a.: »Zum Affen gemacht«, in: Der Spiegel Nr. 6/2018, S. 60-63
3 »Arbeitsmedizin an den Hochschulen Deutschlands 2018«, in: Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin 53/2018, S. 660
4 »Mann der millionenfachen Messwerte«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. Februar 2011
5 Brandt, P. /Bertram, J. /Chaker, A. /Jörres, R. A. /Kronseder, A. /Kraus, T. /Gube, M.: »Biological effects of inhaled nitrogen dioxide in healthy human subjects (Biologische Effekte von inhaliertem Stickstoffdioxid bei gesunden menschlichen Subjekten)«, in: International Archives of Occupational and Environmental Health 89/2017, S. 1017-1024
6 DFG: »Denkschrift zur Lage der Arbeitsmedizin und der Ergonomie in der Bundesrepublik Deutschland«, Boppard 1980
7 Matthöfer, H.: »Humanisierung der Arbeit und Produktivität in der Industriegesellschaft«, Köln/Frankfurt am Main 1977, S. 177
8 DFG-Denkschrift, a.a.O., S. 39
9 Elsner, G. /Hauss, F. /Karmaus, W. /Müller, R.: »Arbeitsmedizin und Ergonomie in der BRD – Stellungnahme zu einer Denkschrift der Deutschen Forschungsgemeinschaft«, in: Argument-Sonderband 73, Berlin (West) 1981, S. 167-178; Abholz, H.-H. u. a.: »Von den Grenzen der Ergonomie und den Möglichkeiten der Arbeitswissenschaft«, in: Zeitschrift für Arbeitswissenschaft 35 (7 NF) 1981, S. 193-199
10 Knecht, U. /Ulzhöfer, A.: »Bio-Monitoring nach iso-Propylbenzol-Einwirkung«, in: »Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin«, Fulda 1996, S. 225-227; Bader, M. /Rosenberger, W. /Wrbitzky, R. /Blaszkewicz, M. /van Thriel, C.: »Experimentelle Studie zur Untersuchung der inneren Belastung mit N-Methyl-2-pyrrolidon (NMP) nach inhalativer und dermaler Exposition«, in: Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin 41/2006, S. 105
11 Siehe dazu Elsner, G.: »Konstitution und Krankheit. Der Arbeitsmediziner Helmut Valentin (1919-2008) und die Erlanger Schule«, Hamburg 2011, S. 119-124
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Arbeit und Gesundheit, 2/2018)