Arbeiter*innenmedizin 4.0
Von Phil Dickel
»Nach mir die Sintflut ist der Wahlruf jedes Kapitalisten und jeder Kapitalistennation. Das Kapital ist daher rücksichtslos gegen Gesundheit und Lebensdauer des
Arbeiters, wo es nicht durch die Gesellschaft zur Rücksicht gezwungen wird.« – Karl Marx
Aus dieser von Marx formulierten Erkenntnis leitete sich der Fundamentalsatz der italienischen Arbeitermedizin ab: »Es gibt nur eine Gruppe in der Fabrik, die ein unmittelbares Interesse hat, die Gesundheit des Arbeiters zu schützen: nämlich die Arbeiter selbst.«
Vor diesem Hintergrund entwickelte die italienische Arbeiter*nnenklasse auf Grundlage einer subjektwissenschaftlichen Perspektive in den späten 1960er Jahren ein neues epidemiologisches Modell zur Erforschung von Produktionsverhältnissen und deren Auswirkung auf Gesundheit.
Ein striktes Gebot der Nichtdelegierung führte dazu, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter in den entstehenden Fabrikräten um das Thema Gesundheit organisierten und v.a. begannen, eigene Erhebung zum Thema durchzuführen. Es gründete sich die sogenannte Arbeitermedizin, welche einen beträchtlichen Anteil an der Entstehung des modernen Gesundheitsschutzes der Arbeiter*innen haben sollte.
Knapp 50 Jahre später sind viele Fabriken, in denen eine starke Arbeiterinnenmacht organisiert werden konnte, aus Europa in den globalen Süden verlagert worden. Nach mehreren Jahrzehnten neoliberaler Arbeitsmarktreformen herrschen vielerorts flexibilisierte Arbeitsverhältnisse. Outsourcing, Standortverlagerung, prekäre Arbeit ohne Tarifvertrag zu Niedriglöhnen und eine Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort ist die kennzeichnende Strategie des neoliberalen Rollback.
Wie steht es in diesen Zeiten um die Gesundheit der Menschen und wie steht diese in Zusammenhang mit den sich verändernden Produktionsverhältnissen? Während im Fordismus die Lebenserwartung aller gesellschaftlichen Klassen relativ stetig und gleichmäßig anstieg, ist in den letzten Jahrzehnten der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den reichen und armen Klassen gewachsen. In einigen Ländern Europas und v.a. in den USA stagniert bzw. fällt die Lebenserwartung von ärmeren Klassen das erste Mal seit langer Zeit. Eine Untersuchung von Unger und Schulze (2013) zeigt, dass sich die sozialen Unterschiede in der gesunden Lebenserwartung auch in Deutschland im Beobachtungszeitraum (1989, 1999 und 2009) ausgeweitet haben. Diese Ausweitung konnte auf zunehmende Unterschiede zwischen den Einkommens- bzw. Bildungsgruppen in Bezug auf die Gesundheitszufriedenheit zurückgeführt werden. Fundierte Untersuchungen zum Thema Arbeit, Arbeitsbedingungen, Stress und Gesundheit sind in Deutschland dagegen rar gesät. Eine Ausnahme bildet eine Untersuchung der Forscher Dragano et al. (2015), in der mittels deskriptiver Analysen eines breiten Spektrums an physischen und psychischen Arbeitsbelastungen, Informationen u?ber die Belastungen einzelner Berufsklassen in Deutschland gesammelt und beschrieben wurden. »Hierbei zeigte sich für die Mehrzahl der untersuchten Belastungen, dass sie mit sinkender beruflicher Position anstiegen. Entsprechend hoch war auch die als mittlere Anzahl der erfahrenen Einzelbelastungen gemessene Gesamtbelastung in den unteren Berufsklassen.«
Dass es einen Zusammenhang zwischen den neuen Formen der Arbeitsorganisation und einer zunehmenden gesundheitlichen Ungleichheit gibt, scheint logisch, es fehlen aber die einschlägigen Studien und Informationen dazu, so auch Dragano et al.
Neue gewerkschaftliche Strategien, um auf eine ungesunde Arbeit 4.0 zu reagieren, wurden im April diesen Jahres auf einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung formuliert. Ein neues Normalarbeitsverhältnis soll unterschiedliche Lebensphasen absichern und selbstbestimmtere Arbeitszeiten ermöglichen. Die Arbeit solle wieder um das Leben kreisen anstatt das Leben um die Arbeit. Eine Arbeitszeitverkürzung, wie in der letzten Tarifrunde auch von der IG Metall aufgegriffen, wird hier unter dem Begriff der »kurzen Vollzeit für alle« diskutiert. Eine Initiative, die sicherlich in die richtige Richtung geht.
Aber wie könnte heute, anknüpfend an die italienische Arbeitermedizin, eine neue subjektwissenschaftliche Perspektive, die das tagtäglich gesammelte Wissen der Arbeiter*innen mobilisiert und mit einbindet, aussehen?
Was hieße es in Zeiten von »Atmenden Fabriken«, »just in time production«, neuen digitalen Arbeitnehmerüberwachungssystemen, von »Desk-Sharing«, »Bring your own device« und »Crowdworking«, eine kollektive Forschungsperspektive zum Thema Gesundheitsschutz zu entwickeln? Wie sähe heute eine standardisierte Form der Berichterstattung aus der organisierten Traurigkeit der Arbeitsverdichtung, des Dauerstresses unter den beschleunigten Arbeitsabläufen, der ständigen Erreichbarkeit und der Flut von Wissen, der Einsamkeit durch Roboterisierung und der entgrenzten Arbeit (Work-Life-Blending) aus? Gesundheit wird heute im Kontext von Lohnarbeit zunehmend als private Ressource und Investitionsgut des oder der Einzelnen angesehen.
Es wird Zeit für einen gesellschaftlichen Aufbruch zur Repolitisierung des Themas Gesundheit und einer Arbeiter*innenmedizin 2.0. Denn noch sind wir weit entfernt von einer nicht entfremdeten und dann hoffentlich gesundheitsförderlichen Arbeit oder Tätigkeit »in der kommunistischen Gesellschaft, wo jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mit eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe.« (Karl Marx / Friedrich: »Die deutsche Ideologie« (1846), MEW 3, S. 33)
Phil Dickel ist Allgemeinarzt in der Weiterbildung und Mitglied im Kollektiv der Poliklinik Veddel in Hamburg, außerdem Mitglied im Vorstand des vdää.
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Arabeit und Gesundheit, 2/2018)