GbP 1-2018 FES-Positionspapier

»Patient first!«

Auszüge aus einer Studie über eine patientengerechte sektorenübergreifende Versorgung im deutschen Gesundheitswesen

»Patient First« – das ist der Titel eines Positionspapiers der Friedrich-Ebert Stiftung (FES). Es wurde auf Grundlage der Beratungen einer Expertengruppe im Rahmen des FES-Projektes »Sektorenübergreifende gesundheitliche Versorgung« erstellt. Wir dokumentieren hier als Auszug die Kapitel »Die Bedarfsplanung für die hausärztliche Versorgung« sowie »Schwer durchschaubare Vergütung«, sowie anschließend schlagwortartig einen Auszug der erarbeiteten Positionen. Wir danken der FES für die freundliche Abdruck-Genehmigung.

Im Vorwort des Positionspapiers formuliert Severin Schmidt, Leiter des Gesprächskreises Sozialpolitik der FES, Folgendes: »›Patient*innen stehen an erster Stelle!‹« Wer sich mit dem deutschen Gesundheitssystem näher beschäftigt, bekommt diesen Ausspruch oft zu hören. Krankenhäuser, Kassen, Reha-Einrichtungen, niedergelassene Ärzt*innen und andere Akteure im Gesundheitswesen nehmen für sich in Anspruch, in erster Linie im Interesse der Patient*innen zu handeln. Obwohl es keinen Grund gibt, an diesem Ziel und dem Engagement der im Gesundheitswesen Beschäftigten zu zweifeln, wird dies von vielen Bürger* innen nicht immer so wahrgenommen. Jeder/jede, der/die schon einmal Patient*in im deutschen Gesundheitswesen war, kennt die unsichtbare Mauer zwischen niedergelassenen Ärzt*innen, Krankenhäusern und Einrichtungen der Rehabilitation. Als Patient*innen merken wir, dass die Kooperation und Kommunikation zwischen diesen Sektoren des Gesundheitswesens besser sein müsste. Eine funktionierende sektorenübergreifende Versorgung ist der Schlüssel zu höherer Qualität und Effizienz des Gesundheitswesens. Die Verbesserungspotenziale durch eine stärkere teamorientierte Zusammenarbeit sind enorm, insbesondere für die Patient* innen. Daran zweifelt niemand und es gibt Beispiele aus anderen Ländern, etwa den nordischen Staaten oder Kanada, die dies belegen.

Dennoch hat sich trotz einiger Bemühungen in diesem Bereich in den letzten Jahrzehnten zu wenig getan.«

Das Positionspapier unterbreitet nun konkrete und realistische Vorschläge, wie die sektorenübergreifende Zusammenarbeit im Gesundheitswesen verbessert werden kann. Die Vorschläge zeichnen sich in der Gesamtschau dadurch aus, dass die sektorenübergreifende Versorgung von einer Ausnahme zur Regel in der gesundheitlichen Versorgung gemacht wird.

Die Bedarfsplanung für die hausärztliche Versorgung

»Die bisherige raumbezogene Grundlage der Bedarfsplanung für die hausärztliche Versorgung ist nur bedingt zur Versorgungsplanung geeignet. Die über 850 Mittelbereiche wurden 2013 als Planungsbereiche für die hausärztliche Versorgung gewählt, weil sie kleinräumiger als die vorher geltende Bezugsgröße der Kreise und kreisfreien Städte sind und damit raumordnerisch eine Zentrums- und Umlandsfunktion berücksichtigen. Durchschnittlich umfasst ein Mittelbereich in Deutschland ca. 100.000 Einwohner*innen mit einer festgesetzten Verhältniszahl von einem Hausarzt oder einer Hausärztin auf 1.671 Einwohner*innen. So entfallen durchschnittlich 60 Hausärzt*innen auf einen Mittelbereich. Damit wird eine überschaubar große Zahl von hausärztlichen Praxen in einer Region zusammengeführt. Dies fördert die hausärztliche Zusammenarbeit und die ärztliche Verantwortung nicht nur für die Patient*innen, sondern auch für die umschriebene Region. Allerdings sind in der Realität Mittelbereiche keinesfalls größeneinheitlich. Sie umfassen vielmehr zwischen 10.000 und 3,5 Millionen Einwohner*innen und eignen sich von daher nicht grundsätzlich als Bezugsgröße, da sie so Einheiten von neun bis 2.100 Hausärzt*innen planerisch gleich behandeln müssten.

Es ist daher sinnvoller, die hausärztliche Bedarfsplanung künftig an einer zu versorgenden Bevölkerungszahl auszurichten, statt divergierende Raumordnungsgrößen zugrunde zu legen. Dabei soll die durchschnittliche Größe des heutigen Mittelbereichs von rund 100.000 Einwohner*innen als Richtwert für eine zu beplanende Bevölkerung herangezogen werden. Allerdings entscheidet sich der hausärztliche Versorgungsbedarf nicht nur anhand der Bevölkerungszahl, sondern vielmehr an der Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerung bzw. den räumlichen Gegebenheiten. Deshalb sollen regionale Gegebenheiten als Korrekturfaktoren, wie z. B. auch die Umlandsversorgung, für die bisherige Verhältniszahl der hausärztlichen Bevölkerung berücksichtigungsfähig sein. Eine weitere Orientierung für solche Faktoren bietet § 2 der jetzt gültigen Bedarfsplanungsrichtlinie. Der kürzlich an den GBA erteilte Auftrag, die vertragsärztliche Bedarfsplanung neu an Morbidität und Demografie auszurichten und nicht an einem willkürlichen Ist-Zustand von 1995, stellt dafür einen ersten wichtigen Schritt dar.

Die Zahl der vorzuhaltenden Hausärzt* innen wird somit auf Grundlage von VZÄ ausgewiesen, d. h. basierend auf einer ärztlichen 39-Stunden-Woche für die Grundversorgung. Die heute erwartete Mindestarbeitszeit pro Kassenarztsitz von 30 Wochenstunden (entspricht mindestens 20 Stunden Praxis Öffnungszeit) wird damit an die allgemeine Wochenarbeitszeit angeglichen. Nicht oder nur zum Teil grundversorgende Hausärzt*innen werden gar nicht bzw. nur zum jeweiligen Anteil als hausärztliche Kassenarztsitze berücksichtigt. Maßstab ist also nicht nur die Facharztrichtung, sondern auch die jeweilige konkrete Tätigkeit bzw. Versorgungstiefe. Diese kann z. B. anhand der vorliegenden Daten der Versorgungsleistungen und des Verordnungsverhaltens ermittelt werden. (…)
Die Bedarfsplanung für die sonstigen vertragsärztlichen Leistungen wird je nach Versorgungsart unterteilt in grundversorgende, spezialisierte ambulante Facharztangebote sowie aus krankheitsspezifischen oder pflegerischen Gründen notwendige stationäre Leistungen und wird entsprechend differenziert berechnet.

Vergütung in der Grundversorgung

Die derzeitige Honorierung von Ärzt*innen in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung beruht auf einem in dieser Form weltweit einzigartigen, für die Mehrzahl aller Vertragsärzt*innen unverständlichen und auch für Fachleute zum Teil nicht nachvollziehbaren hochkomplexen System. Der hier maßgebliche Einheitliche Bewertungsmaßstab (EBM) umfasst eine schwer überschaubare Zahl von Abrechnungsziffern und wird durch diverse »gedeckelte und ungedeckelte« Budgets sowie komplexe, regional unterschiedliche und in ständiger Überarbeitung befindliche Honorarverteilungsmaßstäbe ergänzt. Über nur theoretisch feste, kalkulierbare Preise ergibt sich das letztendlich gültige individuelle Honorar mit einer regelhaft erheblichen zeitlichen Verzögerung aus praxisindividuellen Leistungsbudgets. Es dominiert jedoch weiterhin die (insgesamt budgetierte) Vergütung einzelner Leistungen, die in der Regel einen Arzt-Patienten- Kontakt voraussetzt und präventive Maßnahmen nicht goutiert. Es gilt das vereinfachte Prinzip, dass die Honorierung immer einer konkret erbrachten (Einzel-) Leistung folgen muss. Der einzelne Arzt oder die einzelne Ärztin kann damit im Wesentlichen nur über eine gewisse Ausweitung der Zahl der Arzt-Patienten- Kontakte und der Leistungsmenge, konkret durch die Erhöhung der Zahl von Patient*innen sowie anhand zusätzlicher diagnostischer und therapeutischer Leistungen, sein oder ihr individuelles Honorar erhöhen. Da ähnlich gerichtete Anreize gleichzeitig in Haus- und Facharztpraxen wirken, erklären sich auch daraus die in Deutschland im internationalen Vergleich extrem hohen Arzt-Patient-Kontaktraten je Einwohner* in und Jahr.

Angesichts dieser Situation soll die bedarfsgerechte ärztliche Primärversorgung durch Hausärzt*innen mittels einer einheitlichen, populationsbezogenen und von Einzelleistungsmengen weitgehend unabhängigen Vergütungssystematik gestärkt werden.

Die kontaktabhängige Honorierung wird durch einen relevanten pauschalisierten Anteil des Honorarvolumens ersetzt:

  1. Pro eingeschriebenem/r Patient*in erhält der Hausarzt/die Hausärztin eine jährliche Koordinierungspauschale, die risikoadjustiert differenziert sein soll.
  2. Daneben kann bei Behandlungsbedarf für jede/n Patient*in (unabhängig, ob eingeschrieben oder nicht) eine einmal jährlich anfallende Behandlungspauschale abgerechnet werden.
  3. Zur Vermeidung von Leistungsdemotivation und damit verbundenen Unterversorgungsrisiken sowie zur gezielten Förderung besonders erwünschterLeistungen (z. B. häusliche Versorgung, Betreuung von Pflegeheimpatient*innen o. ä.) werden Einzelleistungsvergütungen (mit einem kleineren Anteil des Honorarvolumens) als qualitätsorientierte Vergütungsanreize ermöglicht.

Auch die sonstige fachärztliche Grundversorgung soll vorrangig über Komplexleistungen bzw. Pauschalen vergütet werden. (…)«

Die Autor*innen: Prof. Dr. Volker Amelung / Prof. Dr. Ferdinand Gerlach / Dr. Matthias Gruhl / Dr. Susanne Ozegowski / Cornelia Prüfer-Storcks / Prof. Dr. Doris Schaeffer / Prof. Dr. Christoph Straub

(Die ganze Studie – einschließlich der Fußnoten und Literaturverweise – findet sich auf der Homepage der FES unter: http://library.fes.de/pdf-files/wiso/13280.pdf)

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ambulante Versorgung, 1/2018)


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