»Armut ist die schlimmste Form von Gewalt«
Gerhard Trabert über ambulante aufsuchende Gesundheitsversorgung sozial benachteiligter Menschen
Armut und deren Beziehung, deren Auswirkungen auf die Gesundheit, auf die Entstehung von Krankheit ist im Kontext der Armutsdebatte immer noch ein unterschätztes und vernachlässigtes Teilgebiet. Obwohl gerade an diesen engen Korrelationen deutlich wird, dass Armut in einem der reichsten Länder der Erde nicht lediglich ein Verzicht auf Konsumgüter, auf Annehmlichkeiten, auf gesellschaftliche Teilhabe bedeutet, sondern häufig mit physischem und psychischem Leid, mit höheren Erkrankungsraten, bis zu einer signifikant geringeren Lebenserwartung einhergeht.
Wie wird Armut definiert?
Es wird zwischen absoluter Armut, die physische Existenz bedrohend, und relativer Armut differenziert. Definitionsversuche relativer Armut orientieren sich schwerpunktmäßig an der finanziellen Ausstattung. Es wird daher von Einkommensarmut gesprochen. Folgende Definitionen werden diesbezüglich angewandt:
1. Armutsgefährdet ist, wer 60 Prozent oder weniger des durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommens eines Landes besitzt; (Empfehlung der Europäischen Union) entspricht in Deutschland im Jahre 2017: ca. 930 Euro, da das Durchschnittseinkommen bei ca. 1.630 Euro lag)
2. Strenge Armut ist, wenn man 40 Prozent oder weniger des durchschnittlichen monatlichen Haushaltseinkommens besitzt (2017 entspricht dies einem Betrag von ca. 680 Euro)
Äquivalenzeinkommen: dient zur Berechnung des Einkommens der sonstigen Haushaltsmitglieder: Hauptverdiener Faktor 1,0; alle übrigen Mitglieder ab dem 14. Lebensjahr erhalten den Faktor 0,5 und Kinder unter 14 Jahren den Faktor 0,3.
Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld 2 (sogenanntes »Hartz IV«) nach der Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe im Jahre 2004 (2018 = 416 Euro; davon 15,80 Euro für Gesundheitspflege)
Wie viele Menschen sind in Deutschland von Armut betroffen und wer sind sie
Nach Berechnungen des Armutsberichtes des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes aus dem Jahre 2017 für das Berechnungsjahr 2015 lag die Armutsquote bei 15,7 Prozent (Anteil der Personen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung Deutschlands auskommen mussten.) Besonders von Einkommensarmut betroffen sind Menschen mit Migrationshintergrund, Alleinerziehende, Arbeitslose, und die Personengruppe der über 65-Jährigen.
Korrelation zwischen Armut und Krankheit sowie Lebenserwartung
Schon Goethe stellte fest: »Arm im Beutel, krank am Herzen. « Dass es einen Zusammenhang zwischen Sozialer Lage und Krankheit gibt, haben zahlreiche sozial- und naturwissenschaftliche Untersuchungen belegt.
Konkrete Zusammenhänge zwischen dem sozialen Status und Krankheit konnten u.a. für das Auftreten von koronaren Herzkrankheiten (Herzinfarkt: 2-3fach erhöhtes Risiko), Schlaganfall (ebenfalls 2-3fach erhöhtes Risiko), Krebserkrankungen und Lebererkrankungen festgestellt werden. Erkrankungen der Verdauungsorgane (Magengeschwüre) und der Atmungsorgane (Lungenentzündungen, chronische Bronchitis) findet man ebenfalls häufiger als im Bevölkerungsdurchschnitt. Des Weiteren ist die Infektanfälligkeit erhöht. Bei von Armut betroffenen Kindern treten gehäuft Zahnerkrankungen und psychosomatische Beschwerdekomplexe auf. Zusätzlich zum Kontext der Psychosomatik treten psychiatrische Erkrankungen in den Vordergrund, und hier besonders Depressionen bis zum Suizid. Armut verursacht Stress und die damit assoziierten Erkrankungen.
Neben der Morbidität ist auch die Mortalität von Armut betroffener Menschen in unserer Gesellschaft erhöht. So besteht ein Lebenserwartungsunterschied von elf Jahren bei den Männern und von acht Jahren bei den Frauen zwischen dem reichsten und dem ärmsten Viertel der deutschen Bevölkerung (Lampert & Kroll 2010, Kroll et al. 2008). Die Daten des Sozialberichtes-Datenreport 2011 bestätigen diese signifikant niedrigere Lebenserwartung Armutsbetroffener. 31 Prozent der von Einkommensarmut betroffenen Männer erreichen nicht das 65. Lebensjahr. Im Hinblick auf die Zahlen zur »gesunden Lebenserwartung« liegt der Unterschied zwischen der »Armutsgruppe« (Einkommen <60 Prozent) zur »Reichtumsgruppe « (Einkommen >150 Prozent in Bezug zum Durchschnittseinkommen) bei den Frauen bei 10,2 Jahren und bei den Männern bei 14,3 Jahren. Arm zu sein, bedeutet einer großen psychosozialen Belastung ausgesetzt zu sein, besonders in unserer leistungsbezogenen Gesellschaft. Erschwerend kommt zudem hinzu, dass es immer noch eine Unkultur der Diffamierung und Schuldzuweisung gegenüber sozial benachteiligter Menschen gibt. Die häufig zu einem ausgeprägten Selbstwertverlust der Betroffenen führt.
Gesundheitsrisikofaktoren im Kontext sozialer Benachteiligung?
Was beeinflusst, bestimmt die Gesundheit von Menschen die von sozialer Benachteiligung betroffen sind? Was sind Gesundheitsrisikofaktoren? Natürlich ist von einem multikausalen Geschehen auszugehen. Individuelles Risikoverhalten (Ernährungsgewohnheiten, Zigarettenkonsum, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel), Belastungen durch Arbeit oder auch Arbeitslosigkeit, einschneidende Lebensereignisse (Trennung, Scheidung, Tod des Partners usw.), Wohnort und damit einhergehenden Umweltbelastungen (Lärm, Luftverschmutzung), Bildung, aber auch gesellschaftsstrukturelle Faktoren sind beeinflussende, bestimmende Parameter. Die Lösung des Problems wird in großen Teilen der Politik, aber auch generell in der Öffentlichkeit, teilweise auch in der Fachöffentlichkeit, einseitig im Konzept einer Bildungsförderung gesehen, d.h. auch, dass das Armutsphänomen individualisiert wird. Es handelt sich demzufolge um einen Mangel, um Defizite des einzelnen Betroffenen; gesellschaftliche Korrelationsmechanismen werden dagegen negiert, oder es wird zumindest davon abgelenkt. Der Gesundheitsrisikofaktor »Soziale Transferleistungen « und »Gesundheitsversorgungssystem« werden immer noch zu selten hinterfragt und kritisch reflektiert.
Seit 1989 wurde und wird systematisch die Errungenschaft des gesundheitlichen Solidarprinzips ausgehöhlt und teilweise abgeschafft. Zuzahlungen und Zusatzbeiträge, Eigenbeteiligungen, komplizierte administrative Antragsverfahren behindern und verhindern den Zugang zum Gesundheitsversorgungssystem. Hieraus folgt die Erkenntnis: Die derzeitige Gesundheitsversorgung von zahlreichen Bevölkerungsgruppen ist absolut unzureichend. Zahnbehandlungen, notwendige Brillenanschaffungen, Hörgerätezusatzmaterialien (Hörgerätebatterien), physikalische Maßnahmen, um nur einige wenige zu benennen, sind für von Armut betroffene Menschen nicht finanzierbar! Das notwendige Geld kann von 416 Euro nicht angespart werden. Diese – zum Leben bzw. zur gesellschaftlichen Teilhabe unbedingt notwendigen – Hilfsmittel bzw. medizinischen Maßnahmen müssen bei der Regelsatzberechnung des Arbeitslosengeldes II berücksichtigt werden. Ca. 15,80 Euro Gesundheitsbudget innerhalb des Regelsatzes sind für eine sinnvolle und notwendige Gesundheitsfürsorge zu wenig.
Armutsmedizin?!
Das Gesundheitssystem in Deutschland zeigt zunehmend Versorgungsdefizite und Lücken gegenüber verschiedenen Personengruppen auf. Dies hat strukturell bedingte gesundheitsgefährdende Auswirkungen. Gibt es so etwas wie Armutsmedizin? Ich denke nicht! Aber es gibt ein zielgruppenorientiertes sensibles Verhalten, eine notwendige betroffenenzentrierte Sensibilität, die insbesondere im Kontext von Gesundheit / Krankheit von einer adäquaten Gesundheitsversorgung eine zentrale Rolle einnehmen muss. Des Weiteren ist es wichtig, dass die Menschen, die von Einkommensarmut betroffen sind, eine absolut heterogene Gruppe von Mitbürgern darstellen. Dies haben die zuvor beschriebenen Gesundheitsrisikofaktoren verdeutlicht.
Innerhalb der Diskussion zur Gesundheitsversorgung von sozial benachteiligten Menschen in Deutschland sind 3 Handlungsebenen bzw. Aktionsbereiche von entscheidender Bedeutung:
Erstens ist eine von Respekt und Wertschätzung geprägte Diskussion zum Kontext Armut und Gesundheit einzufordern. Dies ist leider, gerade auch im Hinblick von Äußerungen politischer Entscheidungsträger, immer noch nicht der Fall. Armut als individuelles Versagen zu bezeichnen ist inhaltlich falsch und diffamierend sowie stigmatisierend.
Zweitens muss auf der praktischen Ebene schnell, kompetent, betroffenenzentriert agiert werden. Aufgrund der Feststellung, dass das bestehende Gesundheitssystem zunehmend Menschen in besonderen Lebenslagen nicht erreicht, sind Überlegungen im Sinne einer Umstrukturierung der medizinischen Versorgung notwendig. Die klassische Komm- Struktur im ärztlichen Bereich (Patient kommt zum Arzt) ist durch die Praktizierung einer Geh-Struktur, der Arzt geht zum Patienten, zu ergänzen. Ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot »vor Ort«, innerhalb sozialer Brennpunkte, Wohnungsloseneinrichtungen, Drogenberatungsstellen, Arbeitsämter, Schulen, Kindergärten muss verstärkt und konsequent realisiert und praktisch umgesetzt werden. Die Finanzierung muss staatlich gefördert werden.
Drittens sind die gesellschaftsstrukturellen Verursachungsmechanismen zu identifizieren und abzuschaffen. Entsprechend vorgegebene Rahmenbedingungen, sich widerspiegelnd in Gesetzestexten, Bestimmungen, Handlungsanweisungen usw., sind zu verändern. Beispiele hierfür wären die vollkommene Befreiung von Zuzahlungen und Eigenbeteiligungen im Gesundheitssektor für Empfänger von sozialen Transferleistungen. Finanzierung von Sehhilfen als Regelleistung durch die Krankenkassen. Umstrukturierung des dualen Krankenversicherungssystems in Richtung einheitlicher Bürgerversicherung Jeder Mensch hat ein Recht auf eine menschenrechtskonforme Gesundheitsversorgung.
Was ist konkret zu tun?!
Untersucht man das Gesundheitsverhalten der von Armut betroffenen Menschen so fällt auf, dass sie das bestehende medizinische Angebot, u.a. aus den oben beschriebenen Gründen, nicht ausreichend wahrnehmen bzw. dass das medizinische Versorgungssystem diese Mitmenschen nicht mehr erreicht. Präventive Gesundheitsangebote wie z.B. Vorsorgeuntersuchungen und Impfmaßnahmen werden seltener wahrgenommen. Viele Angebote sind für die Betroffenen zu »hochschwellig «. Aufgrund der Feststellung, dass das bestehende Gesundheitssystem viele einkommensarme Menschen nicht erreicht, sind Überlegungen im Sinne einer Umstrukturierung der medizinischen Versorgung notwendig. Die klassische Komm-Struktur im ärztlichen Bereich (Patient kommt zum Arzt) ist durch die Praktisierung einer Geh-Struktur, der Arzt geht zum Patienten, zu ergänzen. Ein niedrigschwelliges medizinisches Versorgungsangebot »vor Ort«, innerhalb sozialer Brennpunkte, Wohnungsloseneinrichtungen, Drogenberatungsstellen, Arbeitsämter, Schulen, Kindergärten wurde partiell in den vergangenen Jahren verschiedentlich praktisch umgesetzt und zeigte durchweg eine hohe Inanspruchnahmequote durch die Zielgruppe. Dies sollte interdisziplinär durch eine enge Zusammenarbeit von Sozialarbeit und Medizin geschehen.
Eine menschenrechtskonforme und würdevolle gesundheitliche Versorgung am Beispiel der Medizinischen Ambulanz / Poliklinik ohne Grenzen in Mainz sowie des Mainzer Modells
Eine solche Versorgungsstruktur, besitzt das »Mainzer Modell der medizinischen Versorgung wohnungsloser Menschen« (siehe www.armut-gesundheit.de). Das sogenannte Mainzer Modell versucht, die zunehmenden Versorgungslücken in unserem Gesundheitssystem durch ein einsprechend niedrigschwellig angelegtes und interdisziplinär ausgerichtetes medizinisches Versorgungsangebot zu schließen. Grundgedanke ist als Ergebnis der Analyse der Gesundheitssituation sozial benachteiligter und insbesondere wohnungsloser Menschen der zuvor beschriebene lebensraumorientierte (Setting-)Ansatz.
So finden regelmäßige medizinische Sprechstunden in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe statt. Dieses Konzept reduziert die Hemmschwelle eine ärztlich-pflegerische Beratung in Anspruch zu nehmen. Diagnostiziert und behandelt wird auch ohne gültigen Krankenversicherungsschutz und das Erheben von Praxisgebühr und Medikamentenzuzahlungen. Zudem besteht eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den dort tätigen Sozialarbeitern/Sozialpädagogen.
Zusätzlich werden mobile Sprechstunden (Arztmobil, fahrende Ambulanz), die eine medizinische Erstversorgung von Wohnungslosen direkt auf der »Straße« gewährleisten soll, im Sinne einer aufsuchenden medizinischen Betreuung (»medical-streetwork«), angeboten.
Innerhalb des gesamten medizinischen Versorgungskonzeptes ist eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit unabdingbare Notwendigkeit. Dies wird durch die Beteiligung verschiedener Wohlfahrtsverbände, Institutionen der Wohnungslosenhilfe, örtlichen und überörtlichen Behörden sowie ärztlichen Standesvertretungen und sonstigen Einrichtungen (Kassenärztliche Vereinigung RLP, Bezirksärztekammer, Gesundheitsamt, Krankenhäuser, Tagesklinik für psychisch Kranke, ärztlichen Praxen usw.) deutlich. Die ehrenamtliche Mitarbeit durch Vertreter verschiedener Berufsgruppen ist ein wesentlicher Mosaikstein innerhalb des Versorgungskonzeptes. Die langjährigen Erfahrungen innerhalb des Mainzer Versorgungsmodells sind durchgehend positiv. Die Behandlungs- und Patientenzahlen nehmen seit Beginn des Angebotes (September 1994) stetig zu. Diagnostik und Therapie können somit oft frühzeitig einsetzen und damit ein Fortschreiten von Krankheit verhindern. Oft werden hierdurch später notwendige stationäre Behandlungen abgewendet und damit letztendlich auch Kosten gespart.
Eine Reintegration in das bestehende Gesundheitssystem ist über solche niedrigschwellige Versorgungsangebote erleichtert und konkret möglich, wobei dies durch die gravierenden Einschnitte im Sozialsystem sowie die Entsolidarisierung im Gesundheitssystem mit einer zunehmenden Bürokratisierung und der Einführung von finanziellen Zuzahlungen deutlich erschwert wurde. Zudem nimmt der Anteil nichtversicherter Patienten zu, wie z.B. Menschen ohne Papiere (»Papierlose«), illegalisierte Menschen oder legal in Deutschland sich befindende EU-Ausländer, besonders aus Osteuropa, die z.B. für eine Saisontätigkeit umworben wurden und dann keine weitere Beschäftigung erhielten, in Deutschland blieben und häufig ebenfalls keine oder eine unzureichende Krankenversicherung besitzen. All diese Entwicklungen im Gesundheitssektor machen neue Versorgungsstrukturen für sozial benachteiligte Menschen notwendig, die ein multidisziplinäres Angebot beinhalten.
Aufgrund dieser praktischen Erfahrungen eröffnete im Mai 2013 der Verein Armut und Gesundheit in Deutschland eine Medizinische Ambulanz (Poliklinik) ohne Grenzen (www.armutgesundheit. de) für sozial benachteiligte Menschen:
Die Poliklinik ohne Grenzen beinhaltet ein sowohl medizinisch interdisziplinäres als auch multidisziplinäres Angebot. Dies bedeutet, dass es Sprechstunden und Gesundheitsberatungsangebote von verschiedenen medizinischen Fachdisziplinen so wie nicht medizinischen Fachgruppen im Sinne eines biopsychosozialen Behandlungskonzeptes gibt. Innerhalb des medizinischen Bereichs sind u.a. allgemeinärztliche, kinderärztliche, dermatologische, chirurgische, gynäkologische, zahnärztliche, psychiatrische Sprechstunden vorgesehen. Darüber hinaus finden insbesondere krankenpflegerische, sozialarbeiterische und psychologische Sprechstunden statt. Zu diesem Versorgungsangebot gehört auch ein mobiles aufsuchendes ärztliches Behandlungsangebot, das sogenannte Arztmobil.
Die Besetzung der Sprechstunden wird einerseits durch festangestellte Mitarbeiter gewährleistet. Andererseits, und dies ist der größte personelle Anteil, werden die Sprechstunden durch ehrenamtliche, pensionierte, mit hoher Fachkompetenz ausgestattete Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter, angeboten. Sämtliche Gesundheitsversorgung- und Beratungsleistungen sind kostenfrei. Gerade die Sozialarbeit leistet hier einen wichtigen Integrations- und Inklusionsbeitrag.
Es soll mit dieser »Poliklinik für Arme « keine Alternativversorgungsstruktur etabliert werden, sondern eine dringend notwendige komplementäre Versorgungseinrichtung für die Menschen geschaffen werden, die immer häufiger durch die Aushöhlung unseres Gesundheitsversorgungsnetzes, nicht mehr menschenwürdig, kompetent und umfassend sozialmedizinisch betreut werden.
Deshalb ist ein wichtiger Bestandteil dieses Versorgungskonzeptes die enge Kooperation und Vernetzung mit niedergelassenen ärztlichen KollegInnen, den stationären Einrichtungen (Krankenhäuser, Institutsambulanzen), Beratungsstellen und Selbsthilfeeinrichtungen sowie dem Job-Center und dem Sozialamt.
Wertschätzung, Salutogenese, Resilienzförderung
Der dänische Therapeut Jesper Juul hat einen interessanten Begriff in die deutsche Sprache »eingeführt«, den Begriff der Gleichwürdigkeit. Diesen Begriff gibt es in der deutschen Sprache nicht, wohl aber in anderen Sprachen. Für mich drückt dieser Begriff eine fundamentale menschliche Beziehungs- und Kommunikationsebene aus. Menschen in Würde zu begegnen und ihnen damit ein Stück Würde, die bei armen Menschen oft verloren gegangen ist, wieder zurückzugeben. Diese Würde spiegelt sich gerade auch in einer für jedermann, unabhängig von seinem sozialen Status zugänglichen und umfassenden Gesundheitsversorgung wider.
Richard Wilkinson und Kate Pickett veröffentlichten im Jahre 2009 die wissenschaftlichen Expertise »The Spirit Level. Why More Equal Societies Almost Always Do Better«. Darin belegen die Autoren, anhand zahlreicher fundierter wissenschaftlicher Analysen, dass mit zunehmender Ungleichverteilung der vorhandenen gesellschaftlichen Ressourcen, bei Armen, wie interessanterweise auch bei Reichen, die Problemkonstellationen ansteigen. Physische sowie psychische und soziale Probleme und im weitesten Sinne Störungen nehmen zu, wie Stress, Depressionen, Gewalt, Konkurrenz, soziale Verwahrlosung; die Lebenserwartung fällt insgesamt geringer aus. Mehr Gleichheit hingegen fördert das gegenseitige Vertrauen, mit der Folge, dass die Menschen glücklicher sind, und dass damit in allen gesellschaftlichen Klassen die Lebenserwartung steigt, Depressionen deutlich geringer festzustellen sind, die Quote von Gewalttaten geringer ausfällt, und vieles mehr. Sinngemäßes Fazit der Autoren: Wir benötigen nicht mehr Wachstum, wir benötigen mehr Gleichheit. In Deutschland nimmt die Ungleichheit in den letzten beiden Jahrzehnten, besonders in den letzten Jahren, deutlich zu.
Literatur beim Verfasser erhältlich.
Prof. Dr. med., Dipl.-Sozialpädagoge Gerhard Trabert, Leiter der Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit der Nationalen Armutskonferenz (NAK), Stellvertretender Sprecher der NAK Deutschland, Sprecher der Landesarmutskonferenz Rheinland- Pfalz, 1. Vorsitzender des Vereins Armut und Gesundheit; Email: gerhard.trabert@ hs-rm.de
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ambulante Versorgung, 1/2018)