Sind Globuli wirklich alles?
Leserbrief zum Artikel „Esoterik in Zucker“ in GbP 4/17
Im vergangenen Jahr wurde im vdää heftig über die Einschätzung der Homöopathie diskutiert. Ausgangspunkt war, dass homöopathische Mittel im deutschen Arzneimittelrecht eine bevorzugte Position einnehmen und sie nicht den Zulassungskriterien anderer Arzneimittel unterliegen. Auf der vergangen JHV wurde in einem eigenen Workshop zur Homöopathie darüber diskutiert. Leider gibt der Homöopathie Artikel in GbP Nr. 4/17, der Nachdruck eines alten Artikels, den Stand der Auseinandersetzung nicht wieder. Deshalb erlaube ich mir, diesen Artikel mit folgender Stellungnahme zu ergänzen.
1. Der Hauptkritikpunkt des Artikels ist, dass die „Kügelchen-Medizin“ nach EBM-Kriterien nicht wissenschaftlich, oder besser naturwissenschaftlich, nachvollziehbar sei. Wir wissen aber, dass Evidenz-basierte Medizin nur einen kleinen Bereich der heute praktizierten Medizin ausmacht. Das EBM Raster passt häufig bei lebensgefährlichen Erkrankungen oder hochspezialisierten Interventionen, also im Krankenhaus und beim Spezialisten - hier gibt es die Studien -, nicht aber für weite Bereiche der Alltagsmedizin. Tatsache ist, dass es nur für einen Teil der ärztlichen Tätigkeiten eine »rationale Basis« in Form von Studien gibt (Abholz). Nach EBM Kriterien müsste man auch die Akupunktur, TCM, Psychotherapie, anthroposophische Medizin, Ayurveda Medizin und viele andere Therapierichtungen aus dem Arsenal medizinischer Optionen verbannen. Auch die meisten der IGeL Leistungen wären hier zu nennen.
2. Naturwissenschaftlich betrachtet, ist homöopathische Pharmakotherapie nichts als eine leere Versprechung und nicht haltbar. Deshalb ist vom streng naturwissenschaftlichen Standpunkt die Kritik berechtigt. Aber hat diese biomedizinische Sichtweise wirklich ein so festes Fundament? Es macht die Homöopathie vielleicht nicht besser, aber wie viele evidenzbasierte Erkenntnisse der Schulmedizin haben sich im Nachhinein als falsch, nutzlos oder gar schädlich erwiesen? Angesichts der vielen Fehlentwicklungen der naturwissenschaftlichen Medizin sollte diese sehr vorsichtig in der Kritik anderer Heilverfahren sein.
3. Donner-Banzoff beschreibt in derselben Ausgabe von GbP die vier Aspekte ärztlicher Tätigkeit. Pharmakotherapie ist dabei nur Teil einer Behandlungsebene. Weitaus wichtiger ist die Ebene des „Partners“. Dieser Aspekt wird von homöopathisch ausgerichteten Ärztinnen und Ärzten vielleicht weitaus besser bedient als von Technologie-fixierten Schulmedizinern. Die „Kügelchen“ mögen dabei eine Nebenrolle spielen.
4. Heinz-Harald Abholz weist in seinem Artikel in derselben Ausgabe von GbP darauf hin, dass Medizin mehr als Pharmakotherapie ist. Die Kritik von Thomas Kunkel aber konzentriert sich ausschließlich auf die pharmakotherapeutischen Seite der Homöopathie. Andere Aspekte dieser Therapieform bleiben dabei völlig unberücksichtigt. Ernsthafte und seriöse Homöopathie ist aber mehr als das Verteilen von vielleicht wirkungslosen Kügelchen. Selbstredend gibt es Kurpfuscher, die die Verteilung von homöopathischen Arzneimitteln mit Homöopathie verwechseln. Aber, schlechte Ärztinnen und Ärzte gibt es leider auch in der Schulmedizin.
5. Sicher kann man über den Sonderstatus von homöopathischen Arzneimitteln im Arzneimittelrecht diskutieren. Dabei dürfte es für Homöopathen problematisch sein, eine naturwissenschaftlich begründete Wirkweise ihrer Medikation nachzuweisen, da nach der homöopathischen Theorie jeder Patient individuell unterschiedlich ist und es daher schwierig ist, kontrollierte Versuchsbedingungen zu schaffen. Ein weitaus wesentlicheres Argument ist aber, dass wir in Deutschland 2.750 Wirksubstanzen in circa 86.000 Arzneimitteln auf dem Markt haben. Nur etwa 250 dieser Wirksubstanzen wurden bisher einer „frühen Nutzenbewertung“ unterzogen. Eine „späte Nutzenbewertung“ ist ausdrücklich gesetzlich nicht vorgesehen. Das soll nicht heißen, dass die restlichen Substanzen wirkungslos und ohne Nutzen wären, doch wissen wir auch, dass etliche dieser Arzneimittel wirkungslos, überflüssig, eventuell schädlich sind und letztlich Voodoo Charakter haben. Solange es also keine wissenschaftlich basierte Nutzenbewertung aller in Deutschland zugelassenen Arzneimittel gibt, sollte man sich nicht über den Sonderstatus der homöopathischen Arzneimittel erregen.
6. Die Kritik an der Homöopathie wird auch mit deren Nähe zu nationalsozialistischem Gedankengut und mystischen Verschwörungstheorien begründet. Diese Einschätzung verwundert. Sicher war in der Nazizeit der Zentralverein homöopathischer Ärzte zusammen mit der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und den anthroposophischen Ärzten Teil der „neuen deutschen Heilkunde“, die ihre Ideologie aus rassenhygienischem und erbbiologischem Denken begründete. Aber – gemordet haben im Nationalsozialismus die naturwissenschaftlich ausgerichteten Ärzte. Sie haben die Rassenhygiene und Erbbiologie als wissenschaftliche Methode etabliert, die schließlich Grundlage für Sterilisation und Ermordung tausender von psychisch Kranken bildete. Sie haben die KZ-Versuche unternommen. Auch ist die Nähe der organisierten Ärzteschaft im Nationalsozialismus zu den Machthabern ebenso bekannt wie die Neigung der deutschen Ärzteschaft zu konservativ bis rechtsradikalen Weltanschauungen vor und nach dem 2. Weltkrieg. Deshalb bleibt vollständig unverständlich, warum ausgerechnet homöopathisch orientierten Ärztinnen und Ärzten und damit auch der von ihnen praktizierten Medizin eine besondere Nähe zum Nationalsozialismus vorgeworfen wird.
7. Im Artikel werden die Kassenausgaben für homöopathische Medikamente mit fragwürdigen Zahlen kritisiert. Mit 10 bis 20 Euro pro Fläschchen sind diese Präparate unvergleichlich billiger als die meisten schulmedizinischen Präparate. Jährlich geben die Kassen ca. 500 Millionen Euro für homöopathische Behandlungen aus. Was aber ist das gegen die 5 Milliarden Euro, die nach seriösen Schätzungen ohne weiteres allein durch eine rationale Arzneimitteltherapie in der schulmedizinischen Pharmakotherapie eingespart werden könnten? Wenn wir uns also über Arzneimittelpreise erregen, und das sollte jede engagierte Ärztin und jeder engagierte Arzt tun, dann hätten wir wirklich andere Probleme, als uns über angeblich überhöhte Preise für „Kügelchen“ zu erregen.
8. Und schließlich, wir wollen doch alle Autonomie und Partizipation der Patienten. „Ärzte sollten die oberste Schicht als Ziel jedoch nicht aus dem Auge verlieren, d.h. die Stärkung der Entscheidungsautonomie des Patienten (Schicht des Partners)“ (Donner-Banzhoff). Weshalb aber vertrauen so viele Patientinnen und Patienten alternativen Heilmethoden und sind misstrauisch gegen naturwissenschaftlich basierte Therapieansätze? Die Heilsversprechen der Schulmedizin, die immer wieder lautstark von Industrie und Ärztevertretern postuliert werden, werden von unseren Patientinnen und Patienten durchaus kritisch gesehen. Die naturwissenschaftliche Medizin produziert tagtäglich Enttäuschungen bei unseren Patienten, welche sicher auch bedingt sind durch die Industrialisierung des heutigen Gesundheitswesens und die katastrophalen Arbeitsbedingungen. Wenn man also meint, die Homöopathie bekämpfen zu müssen, dann sollte man dafür sorgen, dass die naturwissenschaftliche Medizin glaubwürdiger wird.
9. Ich frage mich, warum wir als kritischer Verein mit unseren Ärztevertretern in ein Horn blasen müssen. Wenn der G-BA Vorsitzende Hecken und die KBV lautstark ein Verbot der Homöopathie als Satzungsleistung der gesetzlichen Krankenversicherungen fordern und das mit den Todesfällen in einer von den Behörden zugelassenen, nicht homöopathisch orientierten Klinik begründen, dann sollte man zumindest nachdenklich werden. Der kommende Deutsche Ärztetag in Erfurt wird sich sicher bei der Verabschiedung der Weiterbildungsordnung mit der Forderung des „Münsteraner Kreises“ (siehe: http://www.muensteraner-kreis.de/homoeopathie.html) nach Abschaffung der Zusatzbezeichnung Homöopathie beschäftigen. Eine unsinnige Forderung, denn gerade durch diese Zusatzbezeichnung wird eine Kooperation von wissenschaftlicher und homöopathischer Medizin ermöglicht.
10. Fazit: Die Wirksamkeit der Homöopathie ist nicht nach EBM-Kriterien nachgewiesen. Dies ist kein Alleinstellungsmerkmal, sondern kennzeichnet auch etliche andere alternative oder schulmedizinische Therapieansätze. Die Aggressivität, mit der die Homöopathie immer wieder bekämpft (aber auch verteidigt) wird, verwundert. Über Akupunktur, traditionelle chinesische Medizin oder Psychotherapie wird weitaus emotionsloser diskutiert. Die Kosten der Homöopathie sind im Vergleich zu den Gesamtkosten des Gesundheitswesens zu vernachlässigen, dafür werden ihre Leistungen von vielen Versicherten gefordert. Sicher hat die Homöopathie ihre Grenzen und sollte nur in Kooperation mit der naturwissenschaftlichen Medizin praktiziert werden. Aber wir haben im deutschen Gesundheitswesen weitaus wichtigere Probleme zu lösen, ich nenne hier nur die Regulierung des Arzneimittelmarktes oder die Reform des Krankenkassenwesens, als dass wir uns auf alternative Heilmethoden einschießen müssten. Der Artikel macht es sich mit seinem schulmedizinischen Verriss der Homöopathie zu einfach und lenkt damit ab von wesentlicheren Problemen der Medizin und des deutschen Gesundheitswesens.
Wulf Dietrich
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ambulante Versorgung, 1/2018)
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Ambulante Versorgung, 1/2018)