GbP Sonderausgabe 2014 Editorial

»Die Sonntage haben ihre Farbe verändert…«

Warum wir dieses Heft gemacht haben - Wulf Dietrich/Kathrin Niedermoser/ Nadja Rakowitz/Bernhard Winter

»Ein wolkenverhangener Sonntag« – so heißt eines der schönsten Rembetiko-Lieder aus den 40er Jahren von Vasilis Tsistsanis. Bis heute kennt dies wahrscheinlich nahezu jeder Grieche und jede Griechin – und man hört es oft in Kneipen und im Radio. Schon der Titel verrät eine gewisse Melancholie, die allen Rembetiko-Liedern eigen ist; sie reflektieren die Katastrophen der griechisch- türkischen Geschichte ebenso wie die Armut der griechischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Die Musik strahlt bis heute etwas Widerständiges gegen den Mainstream aus… Und sie lebt gerade wieder auf in der krisengeschüttelten griechischen Gesellschaft.

»Die Sonntage haben ihre Farbe verändert… « – das ist der Titel eines Liedes des – von Faschisten der »Goldenen Morgenröte« im Jahr 2013 ermordeten – Hiphop-Musikers Pavlos Fyssas alias Killah P. Wir haben es für diese Sonderausgabe von Gesundheit braucht Politik, die sich ausschließlich mit den Folgend der Krise und der Austeritätspolitik für das griechische Gesundheitswesen und die griechische Gesellschaft beschäftigt, aus dem Griechischen übersetzt (Anm. 1), um vermittelt darüber die Stimmung gerade auch unter den jungen Leuten in Griechenland zu beschreiben. »Die Sonntage haben ihre Farbe verändert…« Ein treffendes und trauriges Bild für die aktuelle Situation in Griechenland – und gleichzeitig wie auch die Rembetiko-Lieder Ausdruck von Widerständigkeit und Selbstbewusstsein, die uns bei unseren Besuchen und Kontakten in Griechenland auch oft begegnet sind. Deshalb soll hier nicht nur das Elend eines zugrunde gerichteten Gesundheitswesens beschrieben und seine Folgen analysiert werden, sondern auch die Ansätze von praktischer Solidarität, die in dieser Krise – auch oder gerade im Gesundheitswesen – entstanden sind, vorgestellt werden, denn sie sind für die Auseinandersetzung um ein besseres Gesundheitswesen in einer besseren Gesellschaft (in einer besseren EU) über die Grenzen von Griechenland hinaus von Bedeutung.

Damit sind auch schon ein paar Gründe benannt, warum sich der vdää schon seit längerer Zeit besonders mit Griechenland beschäftigt und warum wir diese Sonderausgabe machen: Griechenland steht hier auch stellvertretend für die anderen Krisenländer in der EU. Hier zeigt sich in besonders krasser Weise, was die Neoliberalen in der EU bereit sind in Kauf zu nehmen, um ihre Ideen praktisch werden zu lassen. Während bis vor der Krise das so genannte »Harmonisierungsverbot « galt, das beinhaltete, dass sich die EU nicht in die Gesundheitssysteme einzelner Länder einmischte, wird nun mit den Vorgaben in den verschiedenen Memoranden unmittelbar in die Gesundheitssysteme, aber auch die Alterssicherungssysteme und Tarifautonomie (siehe: »Sixpack«! Anm. 2) der einzelnen Länder eingegriffen. Der Sozialstaat, der sich dabei herauskristallisiert, ist ein gänzlich anderer als der, auf den wir hier in der Bundesrepublik noch vertrauen; er erinnert viel mehr an das US-amerikanische Modell, das hochgradig privatisiert ist, in dem bei weitem nicht alle Menschen (den gleichen) Zugang zur Versorgung haben, in dem noch viel mehr als in Deutschland gilt, dass sich die Qualität der Versorgung am Portemonnaie entscheidet…

Was wir hier in Griechenland sehen und was wir in diesem Heft analysieren, ist also auch eine Diskussion um die Zukunft der EU. In diese Diskussion wollen wir uns mit dieser Ausgabe von Gesundheit braucht Politik ebenfalls einmischen und uns auch nicht nur an eine ärztliche Leserschaft, sondern an alle Interessierten wenden, die Griechenland und das Gesundheitssystem als Symptom für die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Tendenzen verstehen.

Dabei gehen auch wir davon aus, was viele unserer Freunde in Griechenland über die Austeritätspolitik und ihre Folgen gesagt haben: »Die Bestie wird auch zu Euch kommen…« Auch wenn es seit einiger Zeit vermeintliche Erfolgsmeldungen gibt, wie: »Griechenland hat einen Nettoüberschuss erwirtschaftet« oder »Griechenland ist zurück am Markt« etc., wissen wir doch, dass diese Erfolge nicht bei den Massen der Bevölkerung ankommen. Deren Lebensbedingungen verschlechtern sich aktuell immer noch weiter. Inzwischen leben 34,6 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, das sind mehr als 3,7 Millionen Menschen, wie die griechische Statistikbehörde ELSTAT Mitte Juli bekannt gegeben hat. »Ihr Erfolg ist unser tägliches Drama«, sagt Katarina Notopoulou (Anm. 3), die in der Sozialen Klinik der Solidarität (KIA) in Thessaloniki arbeitet.

Wir beginnen die Darstellung mit einer Analyse der polit-ökonomischen Geschichte der Krise von Karl Heinz Roth und einer Beschreibung des Gesundheitswesens in Griechenland vor der Krise von Andreas Xanthos und von Katarina Notopoulou aus der heutigen Perspektive. Daraus wird deutlich, dass hier nicht ein besonders gutes modellhaftes Gesundheitswesen zerstört wurde, zu dem man einfach zurückkehren sollte. Es gab zwar einerseits einen allgemeinen Zugang zur Versorgung in einem mehr oder weniger staatlichen Gesundheitswesen, aber dennoch war es über weite Teile geprägt durch Korruption – wer das berühmte »Fakelaki« zahlen konnte, wurde besser behandelt. Aber – bis zur Krise wurde niemand einfach weggeschickt oder sich selbst überlassen.

Dies ist jetzt der Fall für mindestens 30 Prozent der Bevölkerung und – »sowieso« für die vielen Migranten und Flüchtlinge, die in Griechenland stranden auch wegen der Dublin-Abkommen der EU. Über die aktuelle gesundheitliche Versorgung und die Folgen der Austeritätspolitik berichten die Artikel von Nadja Rakowitz, die verschiedenen Übersetzungen aus dem Lancet und David Stuckler/Sanjay Basu bzw. Wulf Dietrich, der die Studie der Beiden: »Sparprogramme töten« vorstellt. Über die Situation der psychisch Kranken und über die Schließung von großen psychiatrischen Krankenhäusern berichtet Dimitris Ploumpidis. Von der besonders schlimmen Situation der vielen Migranten und Flüchtlinge in Griechenland berichten Chrissi Willkens und Bernhard Winter.

Wie sich viele Griechinnen und Griechen im Gesundheitswesen zur Wehr setzen und wie die Solidarischen Praxen arbeiten und wie sie Solidarität als Widerstand verstehen, erklärt uns Vasilis Tsapas, Arzt in KIA in Thessaloniki, in einem Interview mit Kathrin Niedermoser vom österreichischen Verein »weltumspannend arbeiten«, von dessen Solidaritätsarbeit für die solidarischen Praxen in Griechenland wir hier ebenfalls berichten. Wie sich verschiedene solidarische Netzwerke nicht nur im Gesundheitswesen sondern auch in vielen anderen Bereichen des Lebens entwickeln, berichtet uns Elena Chatzimichali von der Initiative »Solidarity for All« in Athen.

Harald Weinberg, Bundestagsabgeordneter für »Die LINKE« analysiert für uns die Rolle der deutschen Politik bzw. des deutschen Gesundheitsministeriums beim – gesundheitspolitisch fatalen – Umbau des griechischen Gesundheitswesens. »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!« Während sich in Deutschland gerade der Widerstand gegen die Ökonomisierung der Krankenhäuser und die DRG zu formieren beginnt, werden DRG nun als Heilsbringer in Griechenland eingeführt; und auch die ambulanten Strukturen scheinen nach dem – schlechten – deutschen Vorbild umgebaut zu werden. Gleichzeitig findet ein Braindrain aus Griechenland nach Deutschland statt, der die Situation jetzt und in den nächsten Jahren noch schlechter machen wird…

Die Sonntage haben ihre Farbe verändert… Mit den Übersetzungen von ein paar Liedern von Pavlos Fyssas geben wir hier der kritischen Jugend eine Stimme und erinnern zugleich daran, dass die Krise nicht nur fortschrittlichen Widerstand in Griechenland hervorbringt, sondern auch mörderischen Faschismus. Die faschistische Partei »Goldene Morgenröte« hat immerhin 8-10 Prozent der Wählerstimmen bei den letzten Wahlen bekommen. Von Migranten wissen wir, dass es in Athen »No go-Areas« für Flüchtlinge gibt: Als erkennbarer Ausländern muss man in manchen Vierteln um sein Leben fürchten. Auch dies gehört zur griechischen Realität im Jahr 2014. Allerdings zeigte sich gerade am Gesundheitswesen die ganze Dummheit der Faschisten am augenscheinlichsten: Auch die Goldene Morgenröte wollte eine »solidarische Gesundheitsaktion « (für Praxen reicht das Engagement nicht) machen und »griechisches Blut« nur für Griechinnen und Griechen in einer Blutspendeaktion sammeln. Die Aktion wurde ein Flop, denn hier offenbarte sich der ganze Schwachsinn faschistischer Ideologie…

Für unsere Freundinnen und Freunde wie für uns ist dagegen klar, dass die Forderung nach gleicher Versorgung aller weder am Geldbeutel, noch an der Hautfarbe oder dem Pass scheitern darf. Dafür streiten die Kolleginnen und Kollegen in den solidarischen Praxen, dafür streiten wir im vdää und im Verein »weltumspannend arbeiten«. Allerdings sind die Bedingungen unserer Bemühungen mit den griechischen im Moment nicht vergleichbar, und der Ausdauer und Großzügigkeit unserer griechischen KollegInnen und FreundInnen gilt unser ganzer Respekt. Die Besuche in Griechenland und die Diskussionen mit den Aktivisten haben aber auch uns verändert. Mancher Konflikt im deutschen Gesundheitswesen oder unter der Ärzteschaft kommt uns seitdem noch kleinlicher vor. Und umgekehrt haben sie uns gelehrt bzw. wieder daran erinnert, dass Solidarität – schon gar als internationale – praktische Arbeit ist und viel Zeit und Energie kostet…

Auch dass dieses Heft in Kooperation mit den österreichischen Kolleginnen und Kollegen von weltumspannend arbeiten (Siehe Artikel auf S. 42) zustande gekommen ist, mag ein Zeichen für die internationale Solidarität sein. Wenn Sie, lieber Leser und liebe Leserin, sich solidarisch zeigen wollen, dann bitten wir Sie, unsere hier versammelten Erkenntnisse zu verbreiten und sich gegen die Austeritätspolitik zu engagieren und die KollegInnen und AktivistInnen in Griechenland bei ihrem Kampf zu unterstützen.

Anmerkungen

1 Wir möchten an dieser Stelle Hans Bernhard Schlumm von der Universität Korfu danken für die so gelungene Übersetzung der Lieder von Pavlos Fyssas.
2 Vgl. Klaus Busch / Christoph Hermann / Karl Hinrichs / Thorsten Schulten: »Eurokrise, Austeritätspolitik und das Europäische Sozialmodell. Wie die Krisenpolitik in Südeuropa die soziale Dimension der EU bedroht«, Internationale Politikanalyse FES, November 2012
3 »Ihr Erfolg – unser Drama« – Interview mit Katerina Notopoulou über die griechische Partei Syriza bei den Europawahlen, in: express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit, Nr. 06/2014; Niels Kadritzke: »Griechenland: Die Krise, die wir nicht sehen«, Nachdenkseiten, 18. Juli 2014, www.nachdenkseiten. de/?p=22431

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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