GbP Sonderausgabe 2014 Elena Chatzimichali

Solidarität-Widerstand-Selbstorganisation

Interview mit Elena Chatzimichali von Solidarity for All

Die Krise hat in Griechenland nicht nur viel zerstört, sondern auch neue solidarische Initiativen hervorgebracht – in einem bislang nicht gekannten Ausmaß und in vielen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Und es ist noch mehr gelungen: nämlich die unterschiedlichen Initiativen und Gruppen miteinander zu vernetzen und ins Gespräch zu bringen: Die Organisation Solidarity for All mit Sitz in Athen hat sich dies zur ureigensten Aufgabe gemacht. Wir haben Elena Chatzimichali, eine der »Hauptamtlichen« von Solidarity for All gebeten, uns die Arbeit und den politischen Ansatz des Netzwerks – besonders im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung – zu erläutern.

Griechenland ist nun mittlerweile im fünften Jahr der Krise. Es sind viele Initiativen der Selbsthilfe entstanden. Welche gibt es bzw. mit welchen Problemen beschäftigen sie sich? Wie entwickeln sie sich: Werden es mehr?

Elena Chatzimichali: Die enorme Armut der Bevölkerung (einer von zwei Haushalten hat Schwierigkeiten, die Grundbedürfnisse zu stillen), die steigende Arbeitslosigkeit, die flexible und unbezahlte Arbeit und die Schwarzarbeit sind für uns nicht mehr Zahlen oder Daten sondern harte Realität – nach fünf Jahren der Krise und der Durchsetzung der härtesten Sparpolitik durch die griechische Regierung und die Troika. Unter diesen Umständen hat aber ein großer Teil der Bevölkerung gezeigt, dass er sich nicht aufgibt, sondern weitermacht und gemeinsam kämpft für das Überleben und um das Recht auf Gesundheit, Bildung, Kultur und die common goods.

Die Schaffung all dieser Strukturen der sozialen Solidarität, ihre kontinuierliche Vergrößerung und ihre geographische Ausbreitung in ganz Griechenland und die Mobilisierung von mehr und mehr Menschen sind ein Beispiel für die Organisation der Menschen »von unten«, ein Beispiel für den Widerstand gegen die Barbarei. Es handelt sich um selbstorganisierte Kollektive, deren Mitglieder versuchen, sofort Lösungen für praktische Probleme zu finden, z.B. bei der Ernährung oder der Gesundheit bzw. medizinischen Versorgung. Gleichzeitig aber schaffen sie Räume für Widerstand und Ansprüche. Die solidarischen Initiativen findet man in Häusern, in kommunalen Gebäuden oder Arbeiterzentren. Sie haben regelmäßige Versammlungen und alle Mitglieder können mitreden und mitentscheiden. Alle Entscheidungen über die tägliche Arbeit aber auch über Aktionen und Veranstaltungen der solidarischen Initiativen werden bei Vollversammlungen getroffen. Ihre Aktionen sind vielfältig – je nach dem, mit welchen Problemen sie sich beschäftigen. Die unterschiedlichen Fachgebiete sind: Gesundheit (Soziale solidarische Kliniken und Apotheken), Nahrung (Märkte ohne Zwischenhändler, Suppenküchen, Sammlung und Verteilung von Lebensmitteln-Paketen), Bildung (kostenlose Nachhilfestunden für Schülerinnen und Schüler und Griechisch-Unterricht für MigrantInnen), Rechtshilfe (Beratung bei Steuerfragen, Bankkredite u.ä.), Musik-und Kulturkurse, Kooperativen und soziale Lebens- mittelgeschäfte, Netzwerke gegen Zwangsräumungen.

Im letzten Jahr ist es uns gelungen, ein Treffen der solidarischen Gruppen zu organisieren, um gemeinsame Aktionen zu koordinieren – entweder nach Ort oder thematisch – und sich auch gegenseitig zu unterstützen. Die verschiedenen Gruppen und Initiativen haben es geschafft, effizienter zu werden und sich durch ihre unterschiedlichen Erfahrungen, theoretischen Ansätze und Praktiken zu verbinden. Ich möchte hier drei relevante Beispiele erwähnen:

Vom 2.-3. November 2013 organisierten die sozialen Kliniken und Apotheken aus ganz Griechenland ein Treffen in Athen. Bei diesem wurden die gemeinsamen Grundsätze der Solidaritätsbewegung im Gesundheitsbereich diskutiert und parallel wurde entschieden über gemeinsame Aktionen für die Verteidigung des öffentlichen Charakters des Gesundheitswesens und für den Zugang der unversicherten Patienten in Krankenhäusern (inzwischen haben drei Millionen Menschen wegen Arbeitslosigkeit keine Sozialversicherung mehr).

Vom 29.-30. März 2014 fand noch ein Treffen in der Agricultural University in Athen statt, bei dem sich 103 solidarische Strukturen und Kooperativen, die sich mit Problemen der Nahrung beschäftigen, und rund 100 Produzenten/ Landwirte trafen. In den Diskussionen und Workshops wurde die Nahrungsmittelkrise als Hauptfolge der Austeritätspolitik, der Memoranda und des vorherrschenden Entwicklungsmodells gesehen. Es wurde eine Reihe von Vorschlägen über die weitere Entwicklung dieser Bewegung erarbeitet.

Rund 40 solidarische Strukturen in Attika kochen jeden Tag und bringen das Essen den kämpfenden entlassenen Putzfrauen des Finanzministeriums, die seit 86 Tagen außerhalb des Ministeriums campen und dafür kämpfen, ihre Stellen zurückzubekommen. Sie haben vor Gericht Recht bekommen, aber die Regierung folgt dem Urteil einfach nicht.

Wann hat sich Solidarity for All gegründet und welche Aufgabe und welches Ziel habt Ihr Euch gesetzt? Wie nah seid Ihr dem schon gekommen?

Die Initiative Solidarity for All, inspiriert vom Dreiklang Solidarität- Widerstand-Selbstorganisation, wurde im September 2012 gegründet als offenes Kollektiv mit dem Ziel, bei der Erweiterung der solidarischen Bewegung in Griechenland zu helfen. Sie versucht die Kommunikation zwischen solidarischen Netzwerken und Strukturen zu fördern, Wissen zu sammeln und auszutauschen. Wir möchten die ganze Vielfalt von Projekten weder repräsentieren noch koordinieren, sondern wir versuchen, einen Knotenpunkt auf nationaler Ebene zu schaffen und einen gemeinsamen öffentlichen Raum für Begegnung, Kommunikation und gemeinsame Aktionen zu ermöglichen, neuen Projekten zu helfen und Menschen für die solidarischen Bewegungen zu mobilisieren. Dies steht für uns im Vordergrund. Auf unserer Website aber auch per Telefon kann man Informationen über die solidarischen Initiativen bekommen oder in Kontakt kommen mit Menschen, die bei einem Netzwerk mitmachen möchten oder sich mit ihm solidarisch erklären wollen, oder mit Menschen, die Hilfe brauchen.

Wir organisieren außerdem in enger Kooperation mit lokalen Solidaritätsstrukturen landesweite Solidaritätskampagnen, wie z.B. »eine Flasche Olivenöl für jeden Arbeitslosen«, »Bildung für Alle«, oder wir versuchen, Instrumente zu schaffen, die von den Initiativen für ihre Kampagnen oder ihre Arbeit gebraucht werden könnten, wie z.B. einen »Solidaritätskalender « oder die »Märkte ohne Zwischenhändler«.

Wir fördern weiterhin eine internationale Kampagne für Solidarität mit der griechischen Bevölkerung. Wir sind daran interessiert, a.) die Menschen im Ausland auf unserer Webseite zu informieren, wie die Situation in Griechenland ist, b.) zu zeigen, dass die verschiedenen Wege, auf denen Menschen sich selbst in Kollektiven organisieren, Formen von Widerstand sind, und c.) Unterstützung zu suchen. Aus diesem Grund fördern wir die horizontalen Beziehungen zwischen den solidarischen Freunden und Netzwerken und den solidarischen Strukturen in Griechenland. Im September werden wir in unserer neuen Broschüre mehr Informationen über die Organisation und die neuesten Aktionen der Solidaritätsbewegung in Griechenland geben.

Die Mitglieder von Solidarity for All arbeiten in Teams auf den verschiedenen Feldern und alle nehmen Teil an den regelmäßigen wöchentlichen Treffen, bei denen wir unsere Arbeit organisieren und unsere Entscheidungen gemeinsam treffen. Solidarity for All wird aus einem Fonds unterstützt, der von SYRIZA- Abgeordneten im Parlament gegründet wurde mit dem Ziel der wirtschaftlichen Unterstützung von sozialen solidarischen Strukturen und Initiativen. Mitglieder und freiwillige Menschen bei Solidarity for All kommen aus dem ganzen Spektrum der Linken, aus sozialen Bewegungen und Aktivisten.

Wie sieht Eure Arbeit konkret z.B. im Gesundheitsbereich aus? Gibt es eine landesweite Vernetzung der verschiedenen solidarischen Praxen mit Euch? Wie sieht die Zusammenarbeit aus?

Bei Solidarity for All gibt es eine Gruppe, die sich mit dem Feld Gesundheit beschäftigt. Wir sind ständig in Kommunikation mit den Sozialen Kliniken und Apotheken, wir sammeln Informationen, Daten und Statistiken, wir verbinden Menschen mit Strukturen und Gesundheitsnetzwerken, und wir informieren Bürger über ihr Recht auf Gesundheitsversorgung. Mit unserer Erfahrung helfen wir auch bei der Gründung neuer sozialer Kliniken, und wir sind Mitglieder des Koordinationskommittes der Vollversammlung der Solidarischen Kliniken in Attika, die es seit einem Jahr gibt, und wir sind Mitglied des landesweiten Netzwerks von Kliniken.

Mit dem Grundprinzip, eine Grundversorgung für die nicht versicherten Patienten zu bieten, ohne aber die Verpflichtung des Staates zu ersetzen, schaffen die sozialen solidarischen Kliniken und Apotheken weiterhin Orte der Begegnung und des kollektiven Widerstands gegenüber dem Abbau des öffentlichen Gesundheitssystems.

Landesweit gibt es rund 40 aktive soziale Kliniken – nicht mitgerechnet die sozialen Apotheken der Kommune, die von Programmen der Europäischen Union finanziert sind oder die NGOs. Diese 40 Kliniken befinden sich in Kontakt und sind miteinander vernetzt; sie haben schon zwei landesweite Treffen gemacht und landesweite Aktionen durchgeführt, meistens zum Thema: Zugang der unversicherten Menschen in die Sekundärversorgung. Am 4. und 5. Oktober 2013 wurden in verschiedenen Städten Griechenlands Pressekonferenzen von Kliniken organisiert mit dem Zweck, über die Folgen der Austeritätspolitik im Gesundheitswesen zu informieren und auch darüber, was die Sozialen Kliniken machen. Landesweit fanden am 17. Oktober 2013 Veranstaltungen und Demonstrationen in Krankenhäusern statt.

Alleine in Attika gibt es derzeit 15 soziale Praxen, die auch bei der Koordinierungsgruppe mitmachen. Neue gründen sich. Die meisten arbeiten erst seit dem letzten Jahr. Grund dafür sind sowohl die Bedürfnisse einer wachsenden Zahl von unversicherten Menschen, als auch die Aktivierung und die Verfügbarkeit von freiwilligen Bürgern, von Ärzten und von Arbeitslosen aus dem Gesundheitssektor. Eine ständige Kommunikation und gemeinsame Aktionen in Attika sind wichtig und deswegen gibt es seit Juli 2013 diese Koordinationsgruppe.

Parallel zur Teilnahme an den landesweiten Aktionen sind am 30. Januar 2014 Interventionen in zwei onkologischen Krankenhäusern von Attika, Agios Savvas und Metaxa, organisiert worden. Diese Aktionen fokussierten auf die unversicherten Krebspatienten, die keinen freien Zugang zu Behandlung und Medikamenten finden können. Krebs kann aber nicht warten, und die Menschen sollten nicht warten müssen bis zum Tod, nur weil sie arbeitslos und unversichert sind. In vielen Fällen werden die Kosten für die Behandlung zu Steuerschulden beim Finanzamt, und am Ende verlieren die Leute, laut der neuesten Gesetze über Schulden ihre Häuser. In dieser Mobilisierung beteiligten sich auch Mitarbeiter der Krankenhäuser aktiv. Sozialen Kliniken waren mehrmals im Jahr auf der Seite der Arbeiter im Gesundheitswesen gegen die Entlassungen von Personal und gegen die Schließung von Krankenhäusern. Wir nahmen ebenfalls teil an dem Streik gegen die Schließung der Polikliniken von EOPYY (die frühere Nationale Organisation für die primäre Gesundheitsversorgung).

Im Juni 2014 organisierten die sozialen Kliniken in Attika ein großes Fest der Solidarität in jedem Stadtteil, wo es eine Klinik gibt, unter dem Motto: »Wir machen die Solidarität übertragbar«. Seit zwei Wochen nehmen die sozialen Kliniken an der Sammlung von Medikamenten und medizinischer Versorgung für die Menschen in Palästina teil.

Unsere Überzeugung ist, dass Gesundheit keine Ware ist, sondern ein Gut für alle Menschen, vor allem für die Schwächsten, diejenigen, die in den letzten Jahren unter der Krise und der kriminellen Politik der Sparmaßnahmen der griechischen Regierung gelitten haben.

Die Krise dauert nun schon einige Jahre und die vielen Aktivisten arbeiten seitdem – so unser Eindruck – wahnsinnig viel für all diese Projekte. Seid Ihr nicht langsam erschöpft? Wie lange haltet Ihr das noch durch?

Trotz der – körperlichen und geistigen – Müdigkeit der Menschen, die sich aktiv an den Strukturen der sozialen Solidarität beteiligen, und trotz der ständig neuen Schwierigkeiten, geben die Begegnungen mit den Menschen und die kleinen alltäglichen Siege die Kraft und den Mut, weiter durchzuhalten und noch aktiver zu werden. »In der Krise keiner allein« ist noch immer eine bewegende Kraft. Vor allem aber ist die Gründung von diesen sozialen Gemeinden ein Beispiel für Organisation, Aktivierung, Engagement, Politisierung und Widerstand- kurzum: ein Bruch mit der Ideologie, dass Andere für unser Leben entscheiden.

Mehr Informationen zu der Initiative und auch eine Bankverbindung für Spenden finden Sie in der auf Deutsch übersetzen Broschüre: »Solidarität ist die Macht der Völker! für eine internationale Solidaritätskampagne mit der griechische Bevölkerung«, hg. von Solidarity for All, Athens 2013, in: http://www.solidarity4all.gr/ sites/www.solidarity4all.gr/files/ deutsch.pdf

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)


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