GbP Sonderausgabe 2014 Vasilis Tsapas

Solidarität als Widerstand

Interview mit Vasilis Tsapas* von der Sozialen Klinik der Solidarität in Thessaloniki

Die Initiative »Koinoniko Iatreio Allileggyis« (Soziale Klinik der Solidarität) in Thessaloniki kämpft gegen die Auswirkungen der Krisenpolitik und bietet Gesundheitsversorgung für jene Menschen an, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Wir sprachen mit einem Mitglied des Kollektivs, dem Intensivmediziner Vassilis Tsapas.

Kannst Du kurz die Geschichte von KIA in Thessaloniki umschreiben? Kannst Du erzählen, wie viele Leute aktuell bei Euch mitarbeiten, welche Berufe sie haben und was ihre Motivation ist?

Vasilis Tsapas: Die Geschichte von KIA begann im Herbst 2011. Im Rahmen eines Hungerstreiks von MigrantInnen »ohne Papiere« haben sich einige ÄrztInnen zusammengefunden, um medizinische Unterstützung zu leisten. Im Anschluss daran wurde die Idee geboren, eine Ambulanz zu gründen, die medizinische Versorgung für jene Menschen anbietet, die keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Zu Beginn waren dies vor allem MigrantInnen, viele von ihnen »ohne Papiere«. Dies hat sich mit der Krise jedoch stark verändert. Der Gewerkschaftsdachverband GSEE hat uns Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt und wir haben begonnen die Ambulanz aufzubauen.

Derzeit sind ca. 150-200 Menschen in bei KIA aktiv. Viele davon haben Gesundheitsberufe: PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen aller Fachrichtungen, ApothekerInnen und ZahnärztInnen. Die meisten von uns aber haben andere Berufe und es gibt natürlich auch Arbeitslose und einige PensionistInnen – diese Menschen arbeiten im Sekretariat, als AssistentInnen in der Apotheke und in der Zahnarztpraxis oder in anderen nicht-medizinischen Bereichen. Es gibt auch ein großes Netzwerk von ÄrztInnen in der Stadt, die PatientInnen von KIA kostenlos behandeln.

Die Motivation der Menschen in unserer Initiative ist stark politisch. Es geht nicht nur darum, einige Menschen, ob wenige oder viele – das ist eigentlich nicht der Punkt – medizinisch zu behandeln. Unser Ziel ist es, dass sich die Gesundheitspolitik, wie wir sie heute kennen, grundlegend ändert. Und dafür kämpfen wir.

Wie sind Eure Entscheidungsstrukturen?

KIA ist ein basisdemokratisches, selbstverwaltetes und selbstorganisiertes Kollektiv mit antiautoritärer und antihierarchischer Struktur. Alle Entscheidungen werden in Basisversammlungen getroffen, wo alle gleichberechtigt teilnehmen und mitentscheiden können. Die wichtigen Themen werden im Kreis diskutiert, wo jede/r spricht und die Entscheidungen werden nach dem Konsensprinzip getroffen.

Wer sind Eure Patienten? Welche Probleme haben sie? Hat sich die soziale Zusammensetzung der Patienten in den letzten Jahren geändert?

Die überwiegende Mehrheit der PatientInnen sind »Leute von Nebenan«. Am Anfang von KIA waren ca. 70% unserer PatientInnen MigrantInnen, viele davon »ohne Papiere«. Das hat sich inzwischen geändert – jetzt sind die meisten GriechInnen, die arbeitslos und unversichert sind, ja sogar Selbstständige, die sich ihre Versicherung einfach nicht mehr leisten können.

Welche Möglichkeiten der medizinischen Versorgung habt ihr? Wo liegen die Grenzen?

Zu KIA kommen Menschen, die alle möglichen chronischen Gesundheitsprobleme haben – darunter sind auch PatientInnen, die psychologische Unterstützung brauchen. Alle diese Menschen erhalten ihre Medikamente kostenlos in unserer Apotheke. In der Praxis gibt es zwei Zahnarztstühle, die jeden Tag, morgens und nachmittags besetzt sind. Seit ein paar Monaten behandeln wir auch schwangere Frauen. Labortests, CTs, MRIs usw. werden in Laboren der Stadt, die mit der Praxis kooperieren, kostenlos durchgeführt. Wir können kaum akute Notfälle behandeln. Wir können natürlich auch keine sekundäre Gesundheitsversorgung bieten. Aber wir haben in der Vergangenheit mehrmals Druck ausgeübt, zum Beispiel durch Proteste in Krankenhäusern, um zu erreichen, dass unversicherte PatientInnen dort kostenlos aufgenommen werden – mit kleinem Erfolg allerdings.

Mit welchen öffentlichen Einrichtungen arbeitet Ihr zusammen? Seid Ihr vernetzt mit den anderen solidarischen Kliniken und mit anderen solidarischen Initiativen? Wie sieht die Vernetzung und Zusammenarbeit aus?

Es gibt keine Zusammenarbeit mit staatlichen Einrichtungen – denen stehen wir ja gegenüber. Das ist eine politische Entscheidung von KIA. Es gibt eine Zusammenarbeit mit Gewerkschaften – wir haben zum Beispiel Proteste innerhalb von Krankenhäusern zusammen organisiert. Wir sind in einer losen Vernetzung mit anderen sozialen Kliniken und Initiativen in ganz Griechenland. Viele dieser Strukturen haben eine andere politische Ausrichtung als KIA in Thessaloniki. Es gibt eine engere Zusammenarbeit, was praktische Sachen betrifft, zum Beispiel beim Austausch von Medikamenten, und eine lockere Zusammenarbeit über gemeinsame politische Ziele. Es gab bereits zwei Vernetzungstreffen und ein drittes Treffen ist gerade in Planung. Diese Treffen halten wir für wichtig, weil da politische Diskussionsprozesse stattfinden.

Werdet Ihr auch angefeindet oder bekämpft von staatlichen Instanzen?

KIA wurde bisher von staatlichen Instanzen wenig bekämpft. Vor ein paar Jahren wurde die Stromversorgung »versehentlich« für einige Stunden unterbrochen – sonst aber hatten wir wenig Probleme. Andere soziale Kliniken in Griechenland hatten jedoch größere Probleme. In Athen zum Beispiel gab es einen Polizeieinsatz wegen »Drogenhandels «. Es ging eigentlich um Medikamente, Benzodiazepine und Opiate, die einige PatientInnen brauchen. Die soziale Klinik in Drama wurde aus dem Gewerkschaftshaus zwangsgeräumt. Das sind ein paar Beispiele. Vielleicht scheint es zynisch, aber viele Menschen werden von Krankenhäusern oder anderen staatlichen Gesundheitseinrichtungen zu uns geschickt, um medizinische Versorgung oder Medikamente zu bekommen!

Was versteht Ihr unter Solidarität? Was sind Eure politischen Zielsetzungen und welche Auseinandersetzungen gibt es darüber?

Bei KIA differenzieren wir sehr stark zwischen Solidarität und Wohltätigkeit. Wir stehen auf derselben Ebene mit unseren PatientInnen und wir versuchen eine gleichberechtigte Beziehung mit ihnen aufzubauen. Wir versuchen in der Praxis zu zeigen, dass es eine andere Art und Weise gibt miteinander zu leben und zu arbeiten. Wir wollen zeigen, dass es durch Selbstorganisierung und Selbstverwaltung sowie durch solidarische Finanzierung möglich ist, Probleme zu lösen und gemeinsam zu kämpfen.

Wir wissen, dass durch die von uns angebotene medizinische Behandlung die Gefahr groß ist, dass wir das System stützen – deshalb kämpfen wir gleichzeitig auch gegen die Politik, die für die so genannte Krise verantwortlich ist. Mit so genannt will ich sagen, dass diese Krise ja kein unvorhersehbares Ereignis war, das »passiert« ist. Es gibt nun mal keinen Kapitalismus ohne Krisen.

KIA kämpft natürlich für ein offenes Gesundheitssystem für alle Menschen, die in Griechenland leben. Unabhängig davon, ob sie GriechInnen sind oder MigrantInnen, egal ob mit oder »ohne Papiere«. Wir sind ein Kollektiv mit starken politischen Positionen gegen Rassismus, Faschismus und andere Formen der Diskriminierung und dafür kämpfen wir! In KIA finden sich viele Menschen zusammen, aus der ganzen linken und autonomen Szene. Es gibt immer lebendige politischen Diskussionen über viele Dinge. Wir versuchen aber gemeinsam – und das schaffen wir auch – die Punkte zu finden, die uns einander näher bringen und nicht jene, die uns trennen.

Wie unterscheidet Ihr euch von NGOs?

Es gibt ganz wesentliche Unterschiede zwischen KIA und NGOs: Wir sind finanziell unabhängig in dem Sinne, dass wir nur solidarische Finanzierung akzeptieren. Also Spenden von Privatpersonen, Gewerkschaften, sozialen Strukturen usw. Wir haben keine Beziehungen, weder finanzielle noch andere, mit dem Staat, der EU, der Kirche oder Unternehmen. Diese stehen für uns auf der anderen Seite, weil wir glauben, dass sie für die so genannte Krise verantwortlich sind. Die meisten NGOs sind eine Krücke des Systems – wir aber stehen dem System gegenüber. Und auch die Art und Weise, wie wir organisiert sind, ist selbstverständlich ganz anders.

In der deutschen Presse war in den letzten Wochen zu lesen, dass das Gesundheitsministerium aktuell große Anstrengungen unternimmt, dass auch Menschen ohne Krankenversicherung medizinisch behandelt werden. Wie sind da Eure Erfahrungen?

Es gibt Pläne, dass in Zukunft auch unversicherte Personen wieder Zugang zu den Krankenhäusern haben sollen. Das ist aber noch nicht verwirklicht. Bisher wurden einige komplizierte und sehr bürokratische Verfahren dafür entworfen, die aber momentan nur auf dem Papier existieren und noch nicht umgesetzt worden sind. Was die medizinische Versorgung betrifft, ist es so, dass ÄrztInnen für bestimmte Gruppen von unversicherten Personen, vielleicht sogar für die Meisten – das ist noch nicht klar –Medikamente verschreiben können. Damit bekommen auch unversicherte PatientInnen in Apotheken Medikamente, ohne den ganzen Preis bezahlen zu müssen. Das bedeutet, dass sie zumindest in diesem Punkt mit versicherten Personen gleichgestellt werden. Man muss aber dazu sagen, dass in den letzten Monaten die Selbstbehalte für Versicherte angehoben worden sind. Für viele Medikamente müssen 40-50% oder sogar mehr des Preises bezahlt werden. Vor der Krise lag dieser Prozentsatz zwischen 10-25%. Letztendlich bedeutet das also eine Nivellierung nach unten, die zwar die Situation von nichtversichterten PatientInnen leicht verbessert, aber gleichzeitig die Situation von Versicherten massiv verschlechtert.

Was sich nicht geändert hat ist, dass unversicherte PatientInnen Labortests, CTs, MRIs, Ultraschalluntersuchungen usw. weiterhin selbst bezahlen müssen. Und ein massives Problem bleibt die Tatsache, dass MigrantInnen »ohne Papiere« weiterhin völlig vom Gesundheitssystem ausgeschlossen bleiben!

Zum Schluss eine spekulative Frage: Wie wird Griechenland in fünf Jahren aussehen?

Diese Frage kann ich als Mitglied von KIA nicht beantworten – die Menschen bei KIA gehören zu einem breiten politischen Spektrum und die Meinungen über die Zukunft sind sicherlich unterschiedlich. Ich kann aber diese Frage als Person beantworten. Ich bin eigentlich pessimistisch. Obwohl sehr deutlich ist, welche Rolle die PolitikerInnen in der so genannten Krise gespielt haben, die uns zur sozialen Katastrophe gebracht hat, glauben die Menschen immer noch, dass die etablierten Politikstrukturen die Lösung bringen können. Die Menschen glauben immer noch, dass ihre politischen Rechte und Pflichten auf ihre Stimme bei Wahlen begrenzt sind. Und sie hoffen sogar, dass es eine Lösung geben wird, während sie auf ihrer Couch zu Hause die Tatsachen betrachten. Es ist sehr wahrscheinlich, das die nächsten Wahlen in Griechenland von einer Partei, die sich selbst als linksradikal definiert, gewonnen werden – und viele Menschen hoffen, dass das die Lösung des Problems sein wird. Ich kann aber nicht verstehen, wie man glauben kann, dass eine linke Verwaltung innerhalb des kapitalistischen Systems die Situation zu Gunsten der Gesellschaft verändern könnte.

Wie kann man glauben, dass die etablierten Politikstrukturen die Lösung bringen können? Wir sehen doch tagtäglich, dass diese weltweit den Interessen des Kapitals und nicht der Gesellschaft dienen. Ich fürchte, dass wir die Tragödie der Sozialdemokratie noch einmal erleben werden. Die große Gefahr beim Scheitern einer linken Regierung ist, dass nachher die Rechtsradikalen oder sogar die Faschisten kommen und das könnte auch das Ende der gesamten linken Bewegung bedeuten. Insofern bin ich der Meinung, dass wir uns jetzt schon ganz stark weg von Vertretungsstrukturen und hin zu Antikapitalismus und mehr Basisdemokratie und Selbstverwaltung bewegen müssen.

Dr. Vasilis Tsapas arbeitet in einem Krankenhaus in Thessaloniki und engagiert sich ehrenamtlich in der Sozialen Klinik der Solidarität in Thessaloniki (KIA)

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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