GbP Sonderausgabe 2014 Nadja Rakowitz

Austeritätspraxen

Nadja Rakowitz über zwei Delegationsreisen nach Griechenland

Mindestens seit Mitte des Jahres 2012 erreichten den vdää Anfragen und manchmal Hilferufe aus Griechenland wegen der sich rasant verschlechternden medizinischen Versorgung. Gleichzeitig gab es ebenfalls Anfragen aus verschiedenen Ecken Deutschlands, ob wir wüssten, wie man sich hier solidarisch zeigen könnte. Wir wollten nicht untätig bleiben. Im Herbst beschloss der vdää zusammen mit medico international, eine Delegation nach Griechenland zu schicken und sich vor Ort zu informieren. Dieses Jahr im Februar fuhr wieder eine Delegation. Nadja Rakowitz fasst die Eindrücke zusammen.

Der vdää hat sowohl in diesem als auch im Jahr 2013 eine Delegationsreise nach Griechenland organisiert, 2013 nach Athen und Thessaloniki1 und 2014 nach Athen. Wir wollten uns ein Bild von den Auswirkungen der Austeritätspolitik auf das Gesundheitswesen machen und mit Menschen aus solidarischen Initiativen sprechen und die Möglichkeiten von konkreter praktischer Solidarität ausloten.

Der erste Eindruck, den man von Athen, aber auch Thessaloniki hat, wenn man abends in die Stadt kommt, ist dunkel: Die Lichter sind ausgegangen. In den großen vier- bis fünf-stöckigen Wohnkomplexen ist kaum ein Fenster erleuchtet. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass viele Menschen inzwischen ohne Strom leben oder zumindest Strom sparen müssen. Ein paar Zahlen mögen das veranschaulichen: Im Winter 2013/2014 hatten 44 Prozent der Haushalte in Athen nicht das Geld, die Wohnung zu heizen; ca. 20 Prozent der Bevölkerung leben an oder unter der Armutsgrenze. Was machen diese Menschen, wenn sie krank werden? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man aktuell mit offenen Augen durch griechische Städte geht. Auf dem Land oder in den Zentren des Tourismus mag das ganz anders sein oder zumindest: erscheinen. Griechenland ist ein Land der Widersprüche.

Bei unserem ersten Besuch in Athen 2013 hatten wir Gelegenheit, im größten Krankenhaus von Athen, Evangelismos, mit ca. 20 ÄrztInnen, Pflegekräften und Mitgliedern der Betriebsgewerkschaft zu sprechen. Sie berichteten, dass es im – öffentlich geführten – Krankenhaus an Arzneimitteln, Verbandsmaterial und einfachsten Dingen mangelt. Selbst Klopapier und Desinfektionsmittel sucht man in vielen Krankenhäusern vergeblich. Viele ÄrztInnen und Pfleger waren zu dieser Zeit schon entlassen worden oder waren von sich aus gegangen (z.B. nach Deutschland), so dass die Personaldecke sehr dünn war. Hinzukommt, dass die Krankenhäuser mehr zu tun haben, weil sich die Menschen Besuche beim niedergelassenen Arzt nicht mehr leisten können und deshalb lieber warten, bis sie sich als Notfall ins Krankenhaus begeben können. »Therapie nach Leitlinien erhält kaum noch jemand«, erklärte ein junger Mediziner, »und Unversicherte schon gar nicht«.

Schon im Jahr 2013 waren offiziell rund 30 Prozent der griechischen Bevölkerung nicht mehr krankenversichert. Wer ohne Versicherungsschutz krank wird, muss die Kosten einer Behandlung vor Ort in bar bezahlen oder aber die Rechnung wird an das Finanzamt weitergereicht, das versucht, das Geld am Ende des Jahres zusammen mit den Steuern einzuziehen. Ende des Jahres 2013 verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das nun auch die Pfändung von selbstgenutzten Häusern oder Eigentumswohnungen gestattet, sofern ihr Wert einen gewissen Freibetrag überschreitet.

Für die Beschäftigten im Krankenhaus heißt das, dass sie zusätzlich zur offiziellen medizinischen Versorgung auch noch versuchen, Menschen ohne Versicherung irgendwie mit durchzuschleusen. Der Gedanke, Kranke aus Geldgründen einfach unversorgt wieder nach Hause zu schicken, ist für viele von ihnen unerträglich. Die Beschäftigten stehen dadurch unter immensem Druck – und das bei Lohnkürzungen um 30-50 Prozent und manchmal über Monate nicht bezahlten Bereitschafts- oder Nachtdiensten und bei Kürzung der Überstundenzuschläge. Sie forderten uns auf, darüber in Deutschland zu berichten und diese Zustände öffentlich zu machen.

Wie dramatisch die Situation des Gesundheitswesens in Griechenland ist, wurde uns 2013 bei einer der monatlich stattfindenden und von der solidarischen Praxis in Thessaloniki organisierten Demonstrationen klar. Hinter einem Banner mit der Aufschrift: »Die Schließung von Krankenhäusern tötet« zog die Demo in die Notaufnahmen von zwei großen Krankenhäusern und die Aktivisten forderten den kostenlosen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle – auch die Unversicherten.

Sowohl in Athen als auch in Thessaloniki haben wir so genannte »Solidarische Kliniken« besucht. Giorgos Vichas, ein Arzt und Mitbegründer der Praxis in Ellinko, berichtete, dass Ärzte des Sanitätsdienstes bei einer Demo im Sommer 2011 diese Idee entwickelt hatten. Sie wollten unabhängig vom Staat, aber auch von NGOs eine eigenständige Struktur schaffen, um in dieser »humanitären Krise« Menschen ohne Versicherung zu helfen – ob mit oder ohne griechischen Pass. Er berichtet, dass viele KrebspatientInnen keine Medikamente mehr bekommen (viele davon sind nach Auskunft unserer Gesprächspartner gestorben), dass Schwangere nicht mehr versorgt wurden (weil die Entbindung in einem Krankenhaus 800 Euro kostet) und dass Kinder nicht mehr geimpft, manche sogar unterernährt seien.

Dass sich die Situation mit dem letzten Memorandum im Herbst 2012 noch einmal verschlechtert hat, zeigen alleine die Zahlen. Im Februar 2013 erzählte Vichas, dass in Elliniko bis dahin 6000 PatientInnen versorgt worden seien – mit einem starken Anstieg in den Monaten davor. Im Februar 2014 berichtete er bereits von 20 000 PatientInnen im Jahr 2013. Schon 2013 hatten uns die Leute in Griechenland von einer Zuspitzung in den letzten Monaten erzählt. Im Jahr 2014 hat diese sich weiter fortgesetzt – unter anderem deshalb, weil nun auch viele Menschen, die noch eine Krankenversicherung haben, in die Solidarischen Praxen kommen, weil sie sich die Zuzahlungen nicht leisten können.

In der Praxis Elliniko arbeiten zurzeit 250 Menschen ehrenamtlich, davon 160 ÄrztInnen, TherapeutInnen, PharmazeutInnen. Fast alle arbeiten dort zusätzlich zu einem anderen Job. Sehr wichtig ist die kostenlose Abgabe von Arzneimitteln sowie von Babynahrung, Windeln etc. Es gebe, so berichteten uns Beschäftigte, drei Krankenhäuser in Athen, mit denen die Praxis zusammenarbeitet, die ebenfalls Unversicherte versorgen – soweit es geht und an den Gesetzen vorbei. Wie die Aktivistinnen in den Kliniken/Praxen immer wieder betonen, arbeiten sie formal illegal, da sie keine Zulassung zur Patientenversorgung haben und diese auch nicht beantragen wollen.

Es ist nicht die Absicht von Giorgos Vichas und seinen KollegInnen in den anderen Solidarischen Praxen, die wir besucht haben, langfristig ein öffentliches Gesundheitssystem zu ersetzen. Im Gegenteil: Parallel zu ihrer solidarischen Praxis kämpfen sie politisch für eine gute und ausreichende öffentliche Gesundheitsversorgung – und dabei wollen sie nicht einfach zurück zum status quo ante, denn dieser sei geprägt gewesen von Korruption, Überversorgung und Ineffizienz. Diese Fehler seien schon vor der Krise von einigen Leuten, auch ÄrztInnen, kritisiert worden, aber mit wenig Erfolg. »Wir kämpfen gegen zwei Feinde: gegen die Troika und die ›Inlandstroika‹, die deren Politik umsetzt, und gegen uns selbst. Auch wir müssen uns ändern«, so Vichas. Die solidarischen und selbstorganisierten, gut funktionierenden Arbeitsformen könnten ein Vorbild für ein solidarisches Gesundheitswesen der Zukunft sein, so seine Hoffnung.

Die solidarische Praxis in Thessaloniki (KIA) arbeitet ganz ähnlich wie die in Athen, hat aber eine andere Geschichte. Sie war in ihrem Ursprung politisch und von Selbstorganisationsvorstellungen aus dem migrantischen Milieu geprägt. Darüber, wie die Solidarische Praxis in Thessaloniki medizinisch und politisch arbeitet, gibt Vasilis Tsapas im Interview (S. 28ff.) Auskunft. Auch in Thessaloniki geht die Zahl der behandelten Menschen in die tausende. Wie auch in Athen und den anderen Praxen arbeiten die MitarbeiterInnen hier unentgeltlich, d.h. nach Feierabend von ihrem anderen Job. Die Praxis versteht sich nicht karitativ, sondern politisch. Insofern werden die PatientInnen auch dazu aufgefordert, an dem Projekt zu partizipieren. (Spenden-)Gelder werden in Thessaloniki nicht vom Staat, Parteien oder Firmen angenommen, sondern nur von Privatpersonen, Vereinen, sozialen Gruppen etc. Bezeichnend auch für ihr anderes Verständnis von gesundheitspolitischen Zusammenhängen war, dass uns die AktivistInnen der KIA unbedingt auch zur von Arbeitern besetzten Fabrik VIO.ME gebracht haben. Selbstverständlich ist der Kampf der VIO.ME-Arbeiter Teil des Widerstands, zu dem auch die Solidarischen Kliniken gehören…

Bei einem zweiten Besuch von Mitgliedern des vdää im Februar 2014 in Athen knüpften wir an die entstandenen Kontakte an. Wir haben – neben Flüchtlingsinitiativen und anderen Widerstandsgruppen – vier solidarische Kliniken besucht. Drei davon sind in Athen: die Praxis in Elliniko, eine in Exarchia und eine in Peristeri; außerdem die Praxis in Piräus südlich von Athen. Die Praxis in Peristeri wurde wie die in Exarchia erst 2013 gegründet und ist kaum vergleichbar mit den großen in Elliniko oder Thessaloniki: Außer einem Medikamentenraum und einem Untersuchungszimmer mit einfacher Liege hat sie keine Ausstattung – kein Ultraschall, keine zahnärztlichen Vorrichtungen etc. Handgreifliche Armenmedizin – allerdings mit genauso engagierten und kompetenten MitarbeiterInnen wie in den großen Praxen.

Die Praxis in Piräus ist auch eine der größeren. Sie existiert seit Februar 2013 und zählte von der Eröffnung bis Februar 2014 5000 Patientenkontakte. Die Praxisräume befinden sich in den Räumen einer bis zur Krise von der Gemeinde betriebenen Praxis. In der Klinik der Solidarität von Piräus arbeiten ehrenamtlich 80 Personen mit, davon sind 30 ÄrztInnen, 15 ZahnärztInnen, zehn PharmazeutInnen, und die anderen arbeiten in der Verwaltung. Die Praxis arbeitet zusammen mit einer solidarischen Apotheke, die nach ähnlichem Muster funktioniert. Die meisten PatientInnen brauchen einen Internisten oder einen Zahnarzt. In der Praxis bzw. zusammen mit der Praxis arbeiten aber Fachärzte anderer Richtungen. Die Praxis in Piräus versorgt zusätzlich noch ca. 200 in Polizeistationen in Piräus wegen nicht gültiger Papiere inhaftierte MigrantInnen in Polizeistationen. (siehe Bericht von Bernhard Winter)

Bis Februar 2013 gab es ca. 30 solidarische Kliniken in Griechenland; inzwischen sind mindestens zehn neue Praxen dazugekommen. Abhängig von der Größe der Praxis sind auch die Öffnungszeiten und das Spektrum der medizinischen Leistungen. Inzwischen kümmern sich auch NGOs wie Ärzte der Welt (MdM) oder Ärzte ohne Grenzen (MsF), die sonst eher nicht in Europa arbeiten, und auch die orthodoxe Kirche bietet medizinische Versorgung an. Das Verhältnis der AktivistInnen in den Solidarischen Praxen zu manchen NGOs ist inzwischen aber nicht frei von Spannungen. In Elliniko z.B. halten sie manche NGOs für trojanische Pferde2; Vasilis Tsapas unterscheidet zwischen den NGOs als »Krücken des Systems« und den Solidarischen Praxen als »Gegnern des Systems«.

Die primäre (ambulante) Versorgung wurde in Griechenland zum einen von niedergelassenen ÄrztInnen geleistet, die bei der gesetzlichen Krankenversicherung (EOPYY) angestellt waren und in 350 Polikliniken der EOPPY gearbeitet haben. Ca. 70 Prozent dieser ÄrztInnen hat am Nachmittag dann noch in der eigenen Privatpraxis gearbeitet. Kurz nach unserem Besuch im Februar 2014 wurden diese 350 Polikliniken der EOPYY geschlossen, womit die gesamte Primärversorgung in Griechenland entweder von den Krankenhäusern geleistet werden muss oder von PrivatärztInnen. Im Zuge der Schließung der EOPYYPraxen wurden mehrere tausend Beschäftigte entlassen. Die ÄrztInnen wurden vor die gesundheitspolitisch im Prinzip richtige aber in Wahrheit nicht reale Wahl gestellt, entweder ganz für die EOPYY oder ganz privat zu arbeiten. Denn niemand wusste, ob und wie viele EOPYY-Praxen wieder aufgemacht werden und unter welchen Bedingungen man dann dort angestellt sein würde. So sahen sich diese ÄrztInnen mehr oder weniger gezwungen, sich privat ganz niederzulassen – was vielen auch als Absicht des Gesetzes vermutet wurde: Die EOPYY soll nur noch Leistungen von privaten Unternehmen oder ÄrztInnen einkaufen. Kein Wunder, wenn das deutsche Bundesgesundheitsministerium oberster Berater bei den »Reformen « ist! (Siehe den Text von Harald Weinberg)

Bei beiden Besuchen in Griechenland war die Situation der Flüchtlinge dort für uns auch ein zentrales Thema – und es waren jedes Mal auch die traurigsten Erfahrungen, die wir dort gemacht haben. Wie es Flüchtlingen in Griechenland ergeht, berichtet Chrissi Wilkens hier auf S. 33ff. Unsere Einschätzung und die vieler KollegInnen in Griechenland nach, kann es keine ökonomisch oder wie auch immer geartete Rechtfertigung geben, Menschen die medizinische Versorgung verweigern. Auch wenn es inzwischen im Gesundheitswesen vorsichtige Zeichen der Einsicht und Besserung gibt (siehe Text von Katarina Notopoulou), gibt es noch viel zu tun in Griechenland – und der EU, für die Griechenland ein Modellversuch scheint. Für einen grundsätzlichen politischen Kurswechsel – der weit über das Gesundheitswesen hinausgehen müsste –, braucht es massiven Druck von unten in Griechenland und – vor allem hier in Deutschland. Wir werden im Rahmen des vdää weiter daran arbeiten und weiterhin den Kolleginnen und Kollegen in Griechenland unsere praktische Solidarität erweisen.

Verweise

  1. Siehe dazu den Bericht von Nadja Rakowitz: »Gesundheit in Zeiten der Krise«, in: Gesundheit braucht Politik, Nr. 1/2013
  2. Siehe die Presseerklärung der Metropolitan Community Clinic at Helliniko »The Social Trojan Horse has Arrived « vom 6. Juli 2014, in: http:// mkie-foreign.blogspot.gr/2014/07/ the-social-trojan-horse-has-arrived. html

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014) 


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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