Von Austerität zur Leugnung der Fakten
Die Austeritätspolitik aus Public Health Perspektive
Die englische Zeitschrift The Lancet verfolgte von Anbeginn der Krise die Auswirkungen der Austeritätspolitik auf das Gesundheitswesen und die Gesundheit der Menschen in Griechenland mit kritischen und gut recherchierten Artikeln. Niemand wird später – wenn das ganze Ausmaß der Zerstörungen und des menschlichen Leids offenbar wird, das diese Politik anrichtet – sagen können: »Das haben wir nicht gewusst.« Thomas Kunkel hat einige Ergebnisse aus verschiedenen Artikeln zusammengefasst.
Bereits im Jahr 2011 veröffentlichte eine Autorengruppe um Alexander Kentikelenis einen Lancet-Artikel mit dem Titel Health effects of financial crisis: omens of a Greek tragedy 1. Darin beschreiben die AutorInnen die im Vergleich zu anderen europäischen Staaten besonders drastischen Auswirkungen der Finanzkrise auf die griechische Bevölkerung und das Gesundheitssystem.
Bereits damals wurden massive Anstiege der Arbeitslosigkeit festgestellt (von 6,6% in 2008 auf 16,6% in 2011), insbesondere der Jugendarbeitslosigkeit (von 18,6% auf 40,1%) während des Anstiegs der griechischen Staatsschulden von 105,4% auf 142,8% des BIP zwischen 2007 und 2010.
Der Aufsatz von 2011 stellt anhand von Survey- und Routinedaten eine sich bereits in den ersten beiden Jahren der Krise deutlich negativ abzeichnende Entwicklung im griechischen Gesundheitswesen dar, u.a. einen deutlich zurückgehende Zahl der von den Befragten als notwendig empfundenen (Zahn-)Arztbesuchen, v.a. aufgrund von verschlechterten Zugangsbedingungen. Die AutorInnen führen das auf die Kürzungen, den Personalmangel, den Mangel an Medizinprodukten und eine Zunahme der Korruption zurück.
Auch zeichnete sich bereits eine Verschlechterung der gesundheitlichen Lage der Bevölkerung ab, sowohl in Hinblick auf die Einschätzung des eigenen Gesundheitsstatus als auch in der Zahl der Suizide (17% Zunahme von 2007- 2009). Darüber hinaus nahm die Anzahl der Gewalttaten stark zu und die Mord- sowie Diebstahlraten verdoppelten sich fast in diesem kurzen Zeitraum.
Ende des Jahres 2010 wurde ein drastischer Anstieg der HIV-Infektionsrate veröffentlicht, der sich im weiteren Verlauf bis 2012 (s.u.) noch weiter zuspitzte. Auffällig stark betroffen war die Risikogruppe der Nutzer von intravenös konsumierten Drogen, unter denen die HIV Infektionsrate in den zwei Jahren um das Zehnfache anstieg, wobei auch die Prävalenz des Heroinmissbrauchs um 20% anstieg. Gleichzeitig wurden im selben Zeitraum so scharfe Budgetkürzungen vorgenommen, dass ein Drittel der landesweiten street-work- Programme eingestellt werden mussten und 10% weniger saubere Spritzen sowie 24% weniger Kondome ausgegeben wurden, was den Anstieg der HIV-Infektionsraten in Verbindung mit dem Anstieg der Prostitution noch begünstigte.
Einen wichtigen Hinweis auf den zunehmenden Druck der Finanzkrise (bzw. der diese bekämpfenden politischen Maßnahmen) auf den Gesundheitszustand besonders vulnerabler Bevölkerungsgruppen sehen die AutorInnen in dem steigenden Anteil (von ca. 4% vor der Krise auf ca. 30%) griechischer Bürger, die medizinische Hilfe in den Street Clinics suchen, die vor der Krise hauptsächlich von Migranten in Anspruch genommen wurden. (Gemeint sind wohl die solidarischen Praxen, Anm. der Red.)
Die Autoren schließen 2011 mit dem Fazit: »Overall, the picture of health in Greece is concerning. It reminds us that, in an effort to finance debts, ordinary people are paying the ultimate price: losing access to care and preventive services, facing higher risks of HIV and sexually transmitted diseases, and in the worst cases losing their lives. Greater attention to health and health-care access is needed to ensure that the Greek crisis does not undermine the ultimate source of the country’s wealth – its people.«
Von der Austerität zur Leugnung der Fakten
Die im Artikel aus dem Jahr 2011 dargestellten Omen einer griechischen Tragödie haben sich im Laufe der folgenden Jahre leider bestätigt. Die fast identische AutorInnengruppe hat im Februar 2014 erneut einen Artikel zu den Folgen der Austeritätspolitik veröffentlicht, in der sie unter dem anklagenden Titel Greece’s health crisis: from austerity to denialism2 differenziert darstellen, wie dramatisch die Auswirkungen der Krisenpolitik auf das Gesundheitswesen und den Gesundheitszustand der Bevölkerung sind.
Die AutorInnen unterscheiden zwischen direkten und indirekten Auswirkungen der Austeritätspolitik auf die öffentliche Gesundheit. Um kurzfristig das Defizit zu verringern gebe es zwei Strategien: Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben und Erhöhung der Einnahmen, wobei die griechische Regierung auf Geheiß der Troika vor allem Kürzungen durchgeführt hat, nachdem sie die Gesundheitsausgaben im Rahmen des ersten Rettungsschirms bei 6% des BIP gedeckelt hat.
Kürzungen
Die sehr drastischen und historisch in Europa einmaligen Kürzungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hatten unmittelbare Folgen, insbesondere – wie bereits im Artikel von 2011 beschrieben – für Risikogruppen. Die Inzidenz der HIV-Infektionen stieg weiter an, im Zeitraum von 2009 bis 2012 um das Zehnfache und die Inzidenz der Tuberkulose unter intravenös applizierenden Drogenkonsumenten verdoppelte sich allein im Jahr 2013. Die Regierung führte daraufhin ein Gesetz wieder ein, das die zwangsweise Testung auf Infektionskrankheiten von Drogenkonsumenten, Prostituierten und Migranten unter polizeilicher Aufsicht vorsieht. Das Joint United Nations Programme on HIV/AIDS forderte aber die Außerkraftsetzung des Gesetzes, da es geeignet sei, Maßnahmen zu legitimieren, die die Menschenrechte verletzen.
Die Kürzungen der öffentlichen Haushalte führte zu Einsparungen u.a. von Moskito- Eradikationsprogrammen, was mit zu einem Wiederauftreten von Malariaerkrankungen geführt hat – zum ersten Mal seit 40 Jahren.
Kürzungen im Krankenhaussektor führten zu langen Wartelisten, Überlastungen des Personals und in ländlichen Regionen zu Versorgungsengpässen bei Medikamenten und medizinischer Ausrüstung. Die öffentlichen Ausgaben für Arzneimittel zu senken, war ein erklärtes Ziel der Troika, was teilweise wegen des hohen Anteils an markengeschützten Arzneimitteln auch notwendig war. Dennoch führte die angestrebte Senkung der Arzneimittelausgaben von 4,37 Milliarden Euro in 2010 auf 2 Milliarden Euro in 2014 zu einigen unerwünschten Nebeneffekten, da manche Medikamente nun nicht mehr verfügbar sind aufgrund von Verzögerungen in der Kostenrückerstattung an Apotheken und Patienten gleichermaßen. Teilweise wurde wegen unbezahlter Rechnungen und niedriger Profitaussichten die Medikamentenversorgung durch die Pharmafirmen eingeschränkt.
Kostenverschiebung
Die Autoren kritisieren dass trotz anderslautender Rhetorik im bailout agreement durch mehrere Maßnahmen verstärkt Kosten auf PatientInnen übertragen wurden und z.B. durch die Erhöhung der Gebühren für ambulante Behandlungen und Medikamentenzuzahlungen die Hürden für die medizinische Versorgung noch weiter wuchsen.
Ein weiteres Problem für den Zugang zu medizinischer Versorgung stellt die Erosion des Versicherungsschutzes dar, da dieser vom Beschäftigungsstatus abhängt. Der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit sei einer der Hauptgründe für den Anstieg der Personen ohne Krankenversicherungsschutz. Zwar gebe es Unterstützung auf Basis einer Bedarfsprüfung, die dafür gültigen Kriterien würden jedoch die neue soziale Realität nur ungenügend abbilden. Geschätzte 800000 Personen sind ganz ohne Arbeitslosenhilfe und Krankenversicherung.
Zusätzliche Probleme beim Zugang zu medizinscher Versorgung sehen die AutorInnen insbesondere für ältere Menschen in fehlenden finanziellen Ressourcen und mangelnder Mobilität bzw. mangelnden Transportmöglichkeiten, teilweise wiederum aufgrund fehlender finanzieller Mittel.
Indirekte Auswirkungen
Die Autoren postulieren, wenn die Sparmaßnahmen wenigstens der Wirtschaft wieder auf die Beine geholfen hätten, hätte man die negativen Auswirkungen auf die Gesundheit in Kauf nehmen können (»a price worth paying «). Es zeige sich jedoch – und das habe auch der International Währungsfonds (IMF) anerkannt3 –, dass die Kürzungen negative Auswirkungen auf die Wirtschaft haben.
Angebote im Bereich psychischer Gesundheit waren von den Einschnitten besonders betroffen. Die staatlichen Ausgaben wurden zwischen 2010 und 2012 um 64% zurückgefahren mit dem Resultat, dass Stellen abgebaut, Leistungen reduziert und Angebote der Kinderpsychiatrie eingestellt wurden. Gleichzeitig stieg durch die verschärfte soziale Lage der Bedarf an psychiatrisch- psychologischen Angeboten auf 120% von 2011 bis 2013. Die verfügbaren Daten lassen auf eine 2,5-fach erhöhte Prävalenz von Depressionen, einen 36%igen Anstieg der Suizidversuche sowie einen 45%igen Anstieg der vollzogenen Suizide in den Jahren 2007 bis 2011 schließen, wobei der Anteil sozial Benachteiligter Personen darunter erhöht ist.
Das United Nations Committee on the Rights of the Child kritisierte in seinem Bericht aus dem Jahr 2012, dass das Recht auf Gesundheit sowie der Zugang zu medizinscher Versorgung in Griechenland nicht mehr für alle Kinder sichergestellt sei. Der Anteil von Kindern unter Armutsrisiko ist von 28,2% auf 30,4% zwischen 2007 und 2011 angestiegen, die Zahl der untergewichtigen Neugeborenen hat zwischen 2008 und 2011 um 19% zugenommen. Die Zahl der Fehl- und Totgeburten stieg im selben Zeitraum um 21%, was auf den eingeschränkten Zugang zu pränatalen Leistungen zurückgeführt wird. Der in den Jahren zuvor deutlich rückläufige Trend der Säuglingssterblichkeit hat sich umgekehrt und ist zwischen 2008 und 2010 um 43% gestiegen. Zusammenfassend, so die AutorInnen, wurden die unerwünschten ökonomischen Auswirkungen der Austeritätspolitik falsch eingeschätzt und die sozialen Folgekosten ignoriert, mit gefährlichen Auswirkungen auf die griechische Bevölkerung.
»Denialism«
Auf Basis der Datenlage kritisieren die AutorInnen sehr offen das Umgehen der griechischen Regierung sowie der internationalen Einrichtungen, die die Erkenntnisse über die negativen Folgen der Austeritätspolitik bisher konsequent negieren. Mit Ausnahme des European Center for Disease Control hätte die internationale Gemeinschaft in den ersten Jahren der Krise weitestgehend geschwiegen. Die Erfahrung aus anderen Krisenländern wie Island oder Finnland hätte, so die AutorInnen, den Entscheidungsträgern durchaus als Beispiel dafür dienen können, dass – anders als vom IMF empfohlen – eine Beibehaltung der Sozial- und Wohlfahrtsleistungen die schlimmsten Auswirkungen auf die Bevölkerung abfedern kann, stattdessen würde man die negativen Folgen nicht nur ausblenden, sondern sich den verfügbaren Daten auch verweigern (»Denialism«).
Stattdessen, so schließt der Artikel, wurden bereits während der Drucklegung weitere Kürzungen in Höhe von 2,66 Milliarden Euro im Gesundheits- und Sozialbereich durch die Troika angekündigt.
Übersetzung und Zusammenfassung: Thomas Kunkel
- Alexander Kentikelenis e.a.: »Health Effects of Financial Crisis: Omens of a Greek Tragedy«, The Lancet 378, Nr. 9801, Oktober 2011
- Alexander Kentikelenis e.a.: »Greece’s health crisis: from austerity to denialism«, The Lancet 383, Nr. 9918, Februar 2014
- Siehe IMF: »Greece: Ex Post Evaluation of Exceptional Access under the 2010 Stand-By Arrangement«, Juni 2013, in: www.imf.org; siehe auch:
»IWF entschuldigt sich ein bisschen bei Griechenland«, Süddeutsche Zeitung 6. Juni 2013
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)