Tragödie mit offenem Ausgang
Karl Heinz Roth über Griechenland und die Krise Europas
Gesundheit braucht Politik, so heißt die Zeitschrift des vdää und dies ist nicht bloß Name sondern auch Programm. Politik ist aber aus sich heraus nicht begreifbar, sondern nur im Zusammenhang der politischen Ökonomie. Die Krise des Gesundheitswesens in Griechenland ist eingebettet in die ökonomische Krise und die Krisenbewältigungsstrategien. Wir wollten deshalb der Analyse der Lage des Gesundheitswesens eine polit-ökonomische Krisenanalyse vorausschicken und freuen uns, dass wir dafür den Mediziner und Historiker Karl Heinz Roth gewinnen konnten. Der hier publizierte Text ist eine von uns gekürzte Fassung einer längeren Analyse1, die wir unseren LeserInnen wärmstens empfehlen.
Die Krise hat eine Vorgeschichte
1981 wurde Griechenland in die Europäische Gemeinschaft aufgenommen. In diesem Jahr gelangte auch die Panhellenische Sozialistische Partei (PASOK) erstmalig an die politischen Schalthebel. Ein sozialer Aufbruch begann: Es wurden Gesundheitszentren eingerichtet, das Rentensystem wurde aufgebaut, Basislöhne wurden durchgesetzt und die Frauenrechte gestärkt. Aber das soziale Sicherungssystem blieb unvollständig, eine elementare Grundsicherung kam nicht zustande. Auch das traditionelle Patronage-System konnte nicht überwunden werden.
Gleichwohl entwickelte sich die Wirtschaft positiv. Die Leistungsbilanzen waren stabil. Aufgrund der positiven makroökonomischen Rahmenbedingungen konnten die Wettbewerbsnachteile gegenüber den führenden Mitgliedsländern der Europäischen Gemeinschaft durch die periodische Abwertung der Nationalwährung (zwischen 1979 und 1992 um 86 Prozent) ausgeglichen werden.
Dieser Zustand endete im Jahr 1992, als sich die griechische Nationalökonomie den sogenannten Konvergenz-Kriterien des Maastricht- Vertrags unterordnete und ihre Zinssätze, Wechselkurse sowie die Obergrenze der Staatsverschuldung an die EU-Normen anpassen musste. Die nach wie vor bestehenden Wettbewerbsnachteile konnten nur noch begrenzt währungspolitisch ausgeglichen werden. Die Exporte gingen zurück. Die Leistungsbilanz drehte ins Minus. Es kam zu einem ersten verdeckten Anstieg der Staatsschulden, weil eine »innere Abwertung « durch Lohnkürzungen und Sozialabbau weitgehend versperrt war: Die griechischen Gewerkschaften waren zu dieser Zeit noch so stark, dass sie den Ausgleich des Zahlungsbilanzdefizits durch austeritätspolitische Maßnahmen verhindern konnten. Nur die jugendlichen Berufsanfänger und die Immigranten sahen sich zunehmend mit sozial ungeschützten Arbeitsverhältnissen konfrontiert.
Im Jahr 2001 wurde Griechenland in die Euro-Zone aufgenommen, obwohl es – wie vorher schon z.B. das EU-Gründungsmitglied Italien (Anm. der Red.) – den Konvergenzkriterien des Maastricht-Vertrags nicht genügte. Gegenüber den geschönten Statistiken drückten die Akteure der europäischen Entscheidungszentren beide Augen zu. Dafür waren geostrategische und tagespolitische Gründe maßgeblich. Die griechischen Eliten aus Wirtschaft und Politik erlangten mit der Aufnahme ihres Lands in die Euro-Zone den Zugriff auf eine harte Währung und konnten nun plötzlich billige Kredite aufnehmen. Es kam zu massiven Kapitalimporten und zu einer intensiven europäischen Kapitalverflechtung. Umfangreiche Infrastrukturinvestitionen und ein gewaltiger Rüstungsboom bildeten die Schwerpunkte des neuen Aufschwungs, der durch einen massiven Anstieg öffentlicher Anleihen refinanziert wurde. Auf dieser Grundlage wurden bis 2007 jährliche Wachstumsraten zwischen 3,7 und 5,2 Prozent erreicht.
Der Boom hatte aber auch seine Schattenseiten. Der verstärkte Exportrückgang führte zu einem dauerhaften Leistungsbilanzdefizit. Es begann eine schleichende Entindustrialisierung der binnenwirtschaftlich ausgerichteten Sektoren. Die prekären Arbeitsverhältnisse nahmen weiter zu, wobei insbesondere die MigrantInnen und Jugendlichen betroffen waren.
Die Weltwirtschaftskrise legte ab 2008 die strukturellen Defizite schlagartig bloß. Die maritime Logistik schrumpfte um fast ein Viertel, die Tourismusbranche brach um 20 Prozent ein. Der Kollaps des Bankensystems konnte nur durch massive Stützungsoperationen verhindert werden. Ein weiterer Einbruch der Exporte und der nochmalige Anstieg der Leistungsbilanzdefizite waren die Folge. Die Entindustrialisierung beschleunigte sich. Die Erwerbslosigkeit stieg auf zehn Prozent, bei den Jugendlichen erreichte sie sogar 30 Prozent. Entsprechend ging der Massenkonsum zurück und brachte jetzt auch die Binnenwirtschaft zum Schrumpfen. Gegenläufig nahm die Staatsverschuldung infolge des Rückgangs der Steuereinnahmen und steigender Sozialausgaben nochmals drastisch zu.
Im Spätherbst 2009 war die jährliche Neuverschuldung des öffentlichen Sektors auf 13 Prozent der Wirtschaftsleistung angewachsen, die gesamte Staatsverschuldung erreichte 140 Prozent der Wirtschaftsleistung. Die globalen Investoren begannen gegen die griechischen Staatsanleihen zu spekulieren.
Im Frühjahr 2010 begann die Ära der Darlehenspakete und Sparprogramme. Zur Konsolidierung des Staatshaushalts und zur Verhinderung des Zusammenbruchs der Banken sagte die Troika Darlehen im Umfang von bislang insgesamt 240 Milliarden Euro zu. Dazu kam ein – allerdings sehr begrenzter – Schuldenschnitt mit den privaten Gläubigern, die im Februar 2012 einen Teil ihrer Ansprüche abschrieben und dafür seitens der griechischen Regierung durch den Rückkauf von Staatsanleihen im Umfang von 35 Mrd. Euro großzügig entschädigt wurden.
Im Gegenzug wurden nacheinander fünf Sparpakete (»Memoranden «) durchgesetzt, die mit ihren immer radikaleren Einschnitten die sozialen Sicherungssysteme und damit den gesellschaftlichen Konsens zerstörten. Ein von der Troika im Herbst 2013 gefordertes sechstes Sparpaket zum Ausgleich eines neuerlich aufgetretenen Haushaltsdefizits wurde Ende November 2013 durch die Regierung Samaras vorerst zurückgewiesen.
Die Auswirkungen der Austeritätsprogramme kann ich nur in groben Zügen skizzieren: Es kam zu Lohn- und Rentenkürzungen zwischen 30 und 45 Prozent. Das maximal ein Jahr lang gezahlte Arbeitslosengeld wurde auf durchschnittlich 400 Euro pro Monat reduziert, danach verlieren die Ausgesteuerten ihre Kranken- und Rentenversicherung. Auch die Mindestlöhne sind auf 480 Euro netto monatlich gestutzt worden. Hinzu kamen Massenentlassungen aus dem öffentlichen Dienst in mehreren Schüben; sie wurden im Juni 2013 durch die Schließung des staatlichen Rundfunk- und Fernsehsenders ERT und durch das einen Monat später verabschiedete fünfte Sparprogramm beschleunigt.
Gleichzeitig wurden die direkten und indirekten Steuern massiv erhöht, so etwa die Benzin- und Heizölsteuer sowie die Mehrwertsteuer auf 23 Prozent. Parallel dazu stiegen die Sozialabgaben, während die Sozialleistungen laufend gekürzt wurden.
Den dritten Schwerpunkt der Austeritätsprogramme bilden groß angelegte Maßnahmen zur Privatisierung der öffentlichen Güter, die ursprünglich 50 Milliarden Euro in die Staatskasse bringen sollten. Der Betrag wurde inzwischen unter dem Eindruck des Ausverkaufs zu Schleuderpreisen auf ein Viertel reduziert.
Die Krisenlasten wurden und werden extrem einseitig den Arbeiterfamilien, kleinen Einkommensbeziehern und zunehmend auch den Mittelschichten aufgebürdet, obwohl dieses Spektrum der griechischen Gesellschaft am wenigsten für die Krise verantwortlich ist. Dagegen gab es bislang nur punktuelle Sanktionen gegen einige besonders korrupte Mit-Verursacher der Schuldenkrise in den Ministerien. Dessen ungeachtet konnten die Oberschichten und die großen Familiendynastien ihre Vermögenswerte seit 2009 völlig ungehindert im Ausland in Sicherheit bringen, nach seriösen Schätzungen belaufen sie sich auf 140 bis 160 Milliarden Euro. Bislang wurden auch – trotz mancher vollmundiger Absichtserklärungen – keine wirksamen Maßnahmen gegen die professionelle Steuerhinterziehung ergriffen.
Von der Rezession zur Depression
Mittlerweile geht in Griechenland das sechste Krisenjahr zu Ende. Von Woche zu Woche erreichen uns immer schlimmere Daten. Die Wirtschaftsleistung ist seit 2008 um 28 Prozent zurückgegangen, die Investitionen wurden um 40 Prozent zurückgefahren. Die Arbeitslosigkeit hat inzwischen eine Quote von 28 Prozent erreicht, die Jugenderwerbslosigkeit ist sogar auf 60 Prozent angestiegen. Etwa 220 000 kleine Familienunternehmen haben Konkurs angemeldet. Die Einkommen der durchschnittlichen Arbeiterhaushalte haben sich halbiert, der Massenkonsum ist um 35 Prozent zurückgegangen. Die Überlebensreserven der Unter- und Mittelschichten gehen zur Neige.
Nach offiziellen Angaben lebt inzwischen ein Drittel der Bevölkerung – 3,8 Millionen Menschen – unter der Armutsgrenze: Ihre Haushalte können die Mieten und Stromrechnungen nicht mehr bezahlen, Hypotheken nicht mehr bedienen und kein Heizöl mehr für den Winter anschaffen. 40 000 bis 50 000 Menschen sind obdachlos. Hilfsorganisationen und Kirchengemeinden geben täglich bis zu 250 000 Essensrationen an Bedürftige aus. Das Gesundheitswesen ist weitgehend zusammengebrochen.
Darüber hinaus ist die gesamte griechische Gesellschaft in Bewegung geraten. 80 Prozent aller Jugendlichen sind in ihre elterlichen Familien zurückgekehrt. Eine breite Rückwanderung aus den Großstädten in die ländlichen Gebiete hat eingesetzt. Zehntausende Jugendliche, insbesondere die Hochqualifizierten, haben sich in den letzten drei Jahren auf den Weg nach Nordamerika, in die Kernzone der EU und in die Golfstaaten gemacht.
Hinzu kommt das Massenelend der registrierten und papierlosen MigrantInnen und Flüchtlinge. 80 000 von ihnen sind registriert, 350 000 leben ohne Papiere. Neo-faschistische Schlägertrupps begingen bis vor kurzem unter den Augen des polizeilichen Sicherheitsapparats systematisch Gewaltaktakte gegen sie. Die für die Flüchtlinge und MigrantInnen unsicher gewordenen Stadtteile haben sich ständig ausgedehnt. Basisinitiativen und migrantische Selbstorganisationen kämpfen verzweifelt gegen die Mobilisierung dieses sozialen Ventils. Ein besonders drastisches Symptom der sozialen Demoralisierung manifestiert sich im bedrohlichen Aufstieg des neo-faschistischen Kampfbunds »Chrysi Avgi« (Goldene Morgenröte), der von einigen Gruppierungen der konservativen Eliten unterstützt und von wachsenden Teilen der Bevölkerung als soziales und politisches Ventil ihrer Verzweiflung benutzt wird.
Die bislang fünf von der Troika und den griechischen Regierungen ausgehandelten Austeritätsprogramme sind gescheitert. Technokratisch bestimmte Vorgaben stießen immer wieder auf die Wirklichkeit einer sich vertiefenden Krise. Die Zieldaten wurden aber nie grundsätzlich in Frage gestellt, sondern lediglich an die sich immer stärker vertiefende Depression angepasst. Nach wie vor besteht das Hauptziel der Austeritätsprogramme darin, die Staatsverschuldung bis 2020 auf das Niveau des Jahrs 2008 – 120 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung – zu reduzieren. Wie kann diese Mischung aus wirtschaftsideologischer Verbohrtheit, zynischer Verschiebung der Krisenkosten auf die kleinen Leute und chaotischem Handeln erklärt werden?
Der erste Erklärungsansatz bezieht sich auf das Team des Internationalen Währungsfonds (IMF), dessen Mitglieder sich wie Monster der instrumentellen Vernunft verhalten. Sie verfolgen ein statisches Modell der Haushaltssanierung: Statt einer Umschuldung oder eines Schuldenschnitts setzen sie einseitig auf die Hebel des Sozialabbaus und der Strukturanpassung, denn sie sehen ihre Aufgabe darin, die öffentlichen und privaten Gläubiger der griechischen Staatsschulden um jeden Preis vor Verlusten zu schützen. Dabei setzen sie sogenannte Strukturanpassungsprogramme in die Tat um, wie sie schon in den 1980er Jahren bei der Schuldenkrise der lateinamerikanischen, afrikanischen und südostasiatischen Länder angewandt und dann in den 1990er Jahren in Osteuropa und den Ländern Nach-Jugoslawiens nochmals verfeinert wurden.
Hinzu kommen zweitens die radikalisierenden Maßnahmen der Teams der Europäischen Zentralbank und der EU-Kommission, die von Deutschen geleitet werden und die Blaupausen des IMF-Teams gegenüber den griechischen Ministerien durchsetzen. Sie haben sich einer radikalen Reduktion der Staatsausgaben und der Arbeitskosten durch einen breit angelegten Sozialabbau und durch umfassende Lohnsenkungen im öffentlichen Sektor verschrieben, und dies hat eine allgemeine Senkung (Deflation) der Preise zur Folge. Gleichzeitig treiben sie die Steigerung der Staatseinnahmen durch Steuererhöhungen, die Einführung von Sondersteuern und die Erhöhung der Sozialabgaben in ihrer ganzen Bandbreite voran, und dies führt zu Preissteigerungen (Inflation). Da aber die Wirtschaftsleistung ständig weiter zurückgeht, müssen diese Eingriffe in periodischen Abständen verschärft werden, solange die Zieldaten unverändert bleiben. Wir sind Zeugen der kollektiven Ausbeutung der Unter- und Mittelklassen einer ganzen Nationalökonomie über das Regulationssystem zugunsten der privaten und öffentlichen Gläubiger der Staatsanleihen.
Die mit den Austeritätsprogrammen verknüpften Darlehenspakete bedienen drittens fast ausschließlich die Interessen des Finanzsektors und der privaten und öffentlichen Gläubiger. Bislang wurden nach Athen insgesamt etwa 213 Milliarden Euro überwiesen und folgendermaßen verwendet: 105 Milliarden Euro flossen direkt an die Gläubiger zurück (darunter 59 Milliarden zur Rückzahlung auslaufender Staatsanleihen, 35 Milliarden an die privaten Gläubiger beim Schuldenschnitt im Februar 2012, und 11 Milliarden für den Rückkauf alter Schulden durch die griechische Regierung im Frühjahr 2012). 58 Milliarden gingen an die griechischen Banken zur Aufstockung ihres Eigenkapitals. Die restlichen 50 Milliarden (etwas mehr als ein Viertel der Gesamtsumme) flossen in den griechischen Staatshaushalt, wovon weitere 35 Milliarden als Zinszahlungen an die Gläubiger abgeführt wurden. Somit dienten nur 15 Milliarden Euro (= 7 Prozent des Gesamtbetrags) zum Ausgleich des Haushaltsdefizits, und die griechische Nationalökonomie selbst ging leer aus. Die Darlehenspakete der Troika sind also in allererster Linie ein Instrument zur Ausplünderung der überschuldeten griechischen Wirtschaftsnation im Interesse des europäischen und global operierenden Finanzkapitals.
Die Austeritätspraktiken haben die Troika viertens in ein Instrument der binneneuropäischen Protektoratspolitik umgewandelt. Dabei wurden die Fundamente der repräsentativen Demokratie immer weiter untergraben. Seit dem Frühjahr 2010 werden die Sparpakete unter Missachtung zahlreicher durch das Parlament gepeitscht. Insgesamt wurden die autoritären Strukturen des griechischen Parlamentarismus verstärkt, der auf der Patronage von Parteiführern und deren Satrapen begründet ist. Dem Parlament und der Regierung wurde die Haushaltssouveränität entzogen, die Troika-Überweisungen gehen seither auf ein Sperrkonto im griechischen Finanzministerium. Seit neuestem nimmt die Regierung zunehmend zu Notstandsdekreten Zuflucht. Der französische Historiker Etienne Balibar meinte, es handle sich um einen binneneuropäischen Akt des Neo-Kolonialismus, der das Ende des bisherigen europäischen Integrationsprozesses und den Beginn eines Interregnums mit unklarem Ausgang anzeige. Andere Intellektuelle attestierten der marktradikalen Orthodoxie der Troika eine »nihilistische Brutalität«, die allerdings mit klaren Zielsetzungen verbunden sei: Die hinter den Troika- Teams stehenden Machtgruppen wollten am Fallbeispiel Griechenland ausprobieren, wie weit sie ihre Austeritätsprogramme profitabel umsetzen können, bevor sie auf ernsthaften sozialen und politischen Widerstand stoßen.
Griechenland und die übrigen Peripherieländer der Euro-Zone und der Europäischen Union
Neben Griechenland sind zahlreiche andere Peripherieländer der Europäischen Union in eine schwere Krise geraten, die bis heute anhält und durch die Sparprogramme ihrer Regierungen und teilweise auch der Troika zur Depression vertieft wird: Irland, Italien, Portugal, Slowenien, Spanien und Zypern sowie mehrere EU-Mitgliedsländer in Ost- und Südosteuropa.
Neben einigen Unterschieden waren und sind alle Peripherieländer dem Exportdumping der Kernzone, insbesondere Deutschlands, ausgesetzt: Die Kopplung überproportional hoher technologischer Standards und Spezialisierungsprofile mit einem ständig wachsenden Niedriglohnsektor hat die Exportpreise der in der Kernzone operierenden Unternehmen kontinuierlich verbilligt. Die Lohnstückkosten sind in den Ländern der Kernzone inzwischen um 30 bis 35 Prozent niedriger als in der Peripherie. Dies verschafft insbesondere Deutschland kontinuierlich wachsende Leistungsbilanzüberschüsse auf Kosten der Peripherieländer Die Ungleichgewichte vertiefen sich deshalb von Monat zu Monat. Gemeinsam sind auch die Austeritätsprogramme, die seit 2010/2011 in allen Peripherieländern der Euro-Zone mit oder ohne Troika-Darlehen durchgezogen werden.
Griechenland ist dabei zum Experimentierfeld und zur Drohkulisse der Troika geworden. Die dort durchgesetzten Maßnahmen werden laufend auf die anderen Peripherieländer übertragen. Darüber hinaus haben die ständig zunehmenden binneneuropäischen Ungleichgewichte eine lang anhaltende Stagnation ausgelöst, die die EU inzwischen fest im Griff hat. Das Auf und Ab entlang dem ökonomischen Nullpunkt wird noch über Jahre anhalten.
Der soziale Widerstand und das Problem einer glaubwürdigen Alternative
Die griechischen Unterklassen haben die Restriktionspolitik der Troika und ihrer eigenen Regierungen nicht kampflos hingenommen. Es kam zu Sozialrevolten, zur Besetzung von Fabriken und öffentlichen Gebäuden, zu Massendemonstrationen und zahlreiche Generalstreiks. Die vorläufig letzte entscheidende Machtprobe fand im Januar-Februar 2013 statt, als Betriebsbelegschaften der Schlüsselsektoren einschließlich der Schifffahrtsgesellschaften die Arbeit niederlegten und ein Besetzungsstreik der Beschäftigten der Athener Metro nur noch durch deren Notdienstverpflichtung und eine groß angelegte polizeiliche Räumungsaktion gebrochen werden konnte.
Es blieb aber nicht nur bei Protesten und Massendemonstrationen. Seit dem Herbst 2011 haben sich neue Formen der Selbstorganisation entwickelt: Solidarische Gesundheitszentren und Apotheken für alle, Kooperativen zur Verteilung von Lebensmitteln unter Ausschaltung des Zwischenhandels sowie Initiativen zur Unterstützung und Betreuung von Obdachlosen und papierlosen MigrantInnen. In Konkurs gegangene Klein- und Mittelunternehmen wurden von den Belegschaften in Selbstverwaltung übernommen und fortgeführt. Darüber hinaus sind breite Kampagnen zur Verhinderung der Privatisierung der öffentlichen Güter2 in Gang gekommen. Alle diese Initiativen verstehen sich weder als Lückenbüßer für die zusammengebrochenen öffentlichen Sozialsysteme noch als Projekte der alternativen Ökonomie: Sie wollen vielmehr in der alltäglichen Praxis vorwegnehmen, was sie von einer radikalen sozialen, ökonomischen und politischen Kehrtwende erwarten. Entsprechend ernst werden die Binnenstrukturen genommen: Beschlüsse werden nur in Vollversammlungen und möglichst nach dem Konsensprinzip gefasst, es gibt keine Hierarchien, und alle sind ehrenamtlich tätig oder beziehen das gleiche Entgelt. Es handelt sich um bemerkenswerte erste Versuche auf dem Weg zur direkten Demokratie.
Verglichen mit dem sich ständig beschleunigenden sozioökonomischen Niedergang sind diese Ansätze noch schmal, auch wenn sie inzwischen über erste landesweite Netzwerke wie etwa die Initiative »Solidarity for All« mit über 300 assoziierten Projekten verfügen. Aber sie sind angesichts der enormen Defizite der griechischen Zivilgesellschaft doch bemerkenswert und bestärken die Hoffnung, dass in diesen Zusammenhängen ein Neuaufbau von unten in Gang kommen könnte.
Es gab aber auch eine Übersetzung des sozialen Massenwiderstands auf die politisch-institutionelle Ebene, nämlich die Koalition der Linken, Sozialbewegungen und ökologischen Initiativen (Syriza), ein locker assoziiertes Wahlbündnis, das sich inzwischen zur politischen Partei umgegründet hat. Ihr Aufstieg zur stärksten und profiliertesten Oppositionspartei war in Europa bislang einmalig.
Das Programm von Syriza konnte zumindest zeitweilig als Hoffnungsträger gelten. Das Wahlbündnis fordert seit einigen Jahren den Stopp des Sozialabbaus und die Rücknahme der Lohn- und Rentensenkungen durch die sofortige Annullierung der »Memoranden«. Gleichzeitig will sie im Fall einer Regierungsübernahme ein Schuldenmoratorium proklamieren, die öffentliche Verschuldung auf ihre Legitimität hin überprüfen und dadurch den Gläubigern einen Schuldenschnitt im Umfang von 70 bis 80 Prozent der Gesamtsumme aufzwingen. Parallel dazu sollen die ins Ausland geschafften Privatvermögen repatriiert und der Bankensektor verstaatlicht werden. Die durch alle diese Operationen verfügbar werdenden Mittel sollen sodann zur Finanzierung einiger besonders dringlicher Sozialprogramme und zur Stimulierung der volkswirtschaftlichen Erzeugung eingesetzt werden. Hinzu kommen Forderungen, die mit der besonderen griechischen Konstellation zu tun haben: Trennung von Kirche und Staat, Abrüstung und Entmilitarisierung durch die Beilegung der Konflikte mit der Türkei, die Beseitigung des Klientelsystems, die Ausgabe von Papieren an die Flüchtlinge zur Weiterreise nach Kerneuropa, und nicht zuletzt ein radikaler ökologischer Umbau der Wirtschaft.
Diese Blaupause für eine konsequente Kehrtwende hat nach wie vor viel für sich. Sie wird sich aber nur umsetzen lassen, wenn sie durch eine Kehrtwende der gesamten Sozial- und Wirtschaftspolitik der Euro-Zone sowie der Europäischen Union mitgetragen wird. Erste Voraussetzung dafür ist eine Kampagne der Gegen-Information, um die durch die hegemonialen Medien seit Jahren praktizierte Manipulation der Mentalitäten zu überwinden. Sonst wird die breite Masse der Bevölkerung – auch viele Prekäre, Erwerbslose und Betriebsbelegschaften – uns ganz einfach nicht zuhören.
Diese Einsicht ist jedoch bis heute – allen praktisch-publizistischen Anstrengungen zum Trotz – noch nicht einmal ansatzweise in die Tat umgesetzt worden. Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen ist das gesamte Spektrum der europäischen Linken untätig geblieben oder über Lippenbekenntnisse nicht hinausgekommen. Die europäische Linke hat das strategische Fenster, das in den vergangenen Jahren durch den sozialen Massenwiderstand und seine politisch-institutionelle Artikulation in Gestalt von Syriza geöffnet wurde, nicht genutzt. Sie hat vielmehr die weitere Entwicklung passiv abgewartet und dann mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf Syriza gezeigt, die sich inzwischen nolens volens zur parlamentarischen Partei umstrukturieren musste, um Zeit zu gewinnen und trotz der ausbleibenden kerneuropäischen Solidaritätsbewegung weiter zu machen. Zweifellos wurde inzwischen viel Wasser in den Wein der politischen Programmatik geschüttet. Auch die Flügelbildung ist nicht ausgeblieben.
Ich halte es infolgedessen für dringlicher denn je, über die Umrisse eines Gegen-Konzepts auf europäischer Ebene nachzudenken. Wir haben mittlerweile an anderer Stelle eine programmatische Intervention erarbeitet und zu einem Manifest für ein egalitäres Europa verdichtet.3 An dieser Stelle möchte ich nur noch einmal betonen: Eine Kehrtwende ist nur möglich, wenn sie durch eine breite, transnational orientierte soziale Massenbewegung in Gang gesetzt wird, die den Regimes der europäischen Kernzone ihr Gesetz des Handelns aufzwingt.
- Schriftliche Zusammenfassung der Vortragsserie vom 15. Oktober bis 27. November 2013. In dieser Ausarbeitung sind auch die wichtigsten Diskussionsergebnisse der Vortragsveranstaltungen berücksichtigt. Um den Vortragscharakter dieses Texts nicht zu verändern, wurde auf einen Fußnotenapparat mit Belegen und erläuternden Hinweisen verzichtet. Siehe: http://egalitarian-europe.com/wb/ media/workin_papers/20.01-2013. Griech.Tragoedie.korr.17.12.13.a.pdf
- Inzwischen hat der Aeropag, der oberste Gerichtshof, ein Verbot der Privatisierung von Wasser ausgesprochen (Anm. der Red.)
- Siehe: Aufruf für ein egalitäres und solidarisches Europa. Inzwischen in zahlreichen europäischen Sprachen nachlesbar auf der Webseite www. egalitarian-europe.con; ergänzend dazu Karl Heinz Roth / Zissis Papadimitriou: »Die Katastrophe verhindern – Aufruf für ein egalitäres Europa«, Edition Nautilus, Hamburg 2013; griechische Ausgabe Thessaloniki: ekd. Nissides 2013
Karl Heinz Roth ist Mediziner und Historiker und Vorstandsmitglied der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)