Der Aderlass
ÄrztInnen und Pflegepersonal wandern ins Ausland ab - von Wulf Dietrich
Bis Anfang der 80er Jahre dauerte die ersten Abwerbungswelle griechischer Arbeitskräfte nach Deutschland. Damals waren es die sogenannten »Gastarbeiter«, die, meist als unqualifizierte Arbeitskräfte, Arbeiten im Niedriglohnsektor durchführten. Jetzt ist eine neue Welle zu beobachten: Nicht mehr unqualifizierte Arbeitskräfte, sondern gut ausgebildete Akademiker, Techniker oder Krankenpflegepersonal werden in den südeuropäischen (Krisen-)Ländern Spanien, Portugal und auch in Griechenland an(ab) geworben – ohne Rücksicht darauf, welche Lücken das in den Herkunftsländern hinterlässt.
Nicht nur im Gesundheitswesen, sondern auch im gesamten Wissenschaftsbetrieb ist der durch die Krise bedingte Aderlass in Griechenland zu spüren. Unter der Überschrift »Austerity-led brain drain is killing Greek science« berichtet in der renommierten Zeitschrift Nature 2013 eine junge Wissenschaftlerin über die katastrophalen Zustände an den Universitäten in Griechenland: Insgesamt konnten 800 junge Wissenschaftler ihre Stellen nicht antreten und befinden sich in Wartestellung, weil die Regierung die Mittel für ihre Bezahlung verweigert. Der Zugang zu wissenschaftlichen Zeitschriften in Bibliotheken ist bedroht bzw. schon eingeschränkt, da die Zugangsgebühren nicht mehr bezahlt werden. Kein Wunder, dass ca. zehn Prozent der jungen Wissenschaftler ins Ausland abgewandert sind. Nach einer Studie der Universität Thessaloniki haben etwa 120 000 Arbeitnehmer seit 2010 das Land verlassen.
Die Arbeitsbedingungen im griechischen Gesundheitswesen sind katastrophal: 26 000 Beschäftigte im Gesundheitswesen (public-health workers) haben bis 2011 ihre Arbeitsstelle verloren, davon alleine 9 100 Ärzte. Die Krankenhausbudgets wurden um 40 Prozent reduziert, was nicht nur zu Personalentlassungen, sondern auch zu einem akuten Mangel an Medikamenten und Hilfsmitteln führte. Bei einer Arbeitslosigkeit von 40 Prozent, bei Jugendlichen sogar 60 Prozent, ist es kein Wunder, wenn viele Griechinnen und Griechen ihr Heil im Ausland suchen. Zwei Drittel aller Universitätsabgänger in Griechenland erwägen heute, ins Ausland abzuwandern.
Verständlich, denn als junge arbeitslose Studienabgänger haben sie im Land keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld. Mehr als 4 000 griechische Ärzte haben zwischen 2010 und 2013 ihr Land verlassen Viele der jungen Akademiker gehen nach Deutschland: Zwischen 2000 und 2012 stieg die Zahl der nach Deutschland ausgewanderten Ärzte von 1 000 auf über 2 500. Unter den Top 20 ausländischen Nationen, deren Ärzte in Deutschland tätig sind, nimmt bei den absoluten Zahlen Griechenland heute schon den zweiten Platz ein (Rumänien: 3 454, Griechenland: 2847).
Die griechischen Arbeitskräfte, für die in Deutschland Bedarf ist, kommen nicht nur auf eigene Initiative ins Land, sondern werden hierzulande aktiv angeworben. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat »zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in Deutschland « und »als Beitrag gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Europa«, das Sonderprogramm »Förderung der beruflichen Mobilität von ausbildungsinteressierten Jugendlichen und arbeitslosen jungen Fachkräften aus Europa« (MobiPro-EU)1 entwickelt. Dieses Programm ist seit Januar 2013 in Kraft und soll die berufliche Mobilität ausländischer Arbeitskräfte fördern. Hinzu kommen noch mehr oder weniger seriöse Privatagenturen, die medizinisches Personal in Südeuropa anwerben.
Natürlich ist es verständlich, wenn schlecht bezahltes Personal oder arbeitslose Gesundheitsarbeiter ihr Glück im Ausland suchen. Dabei entsteht aber andererseits ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden für das Land. In Deutschland kostet die Ausbildung zum Mediziner den Staat etwa 150-200 000 Euro. Auch den griechischen Staat hat die Ausbildung seiner Akademiker viel Geld gekostet. Bei einer permanenten Abwanderung ist dieses Geld verloren. Ganz abgesehen vom Mangel an qualifizierten Arbeitskräften, sollte die Krise einmal überwunden sein. Deshalb ist es angebracht, sich Gedanken darüber zu machen, wie dieser finanzielle Verlust für die Länder Südeuropas durch die EU oder die Einwanderungsländer selbst, kompensiert werden kann.
1) Siehe: www.bmas.de/DE/Themen/Aus-und-Weiterbildung/Meldungen/mobipro-eu-juli-14.htm
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)