Verbesserungswürdig, aber offen für Alle
Andreas Xanthos* über das Gesundheitswesen in Griechenland vor der Krise
Auch in Griechenland können linke Kritiker der jetzigen Verhältnisse die Zustände vor der Krise nicht idealisieren und »einfach« wieder herstellen wollen. Es ist gerade deshalb notwendig, die vorherigen Zustände zu kennen, um einschätzen zu können, was hier zerstört wurde, was wieder hergestellt und was im Zuge der Krise reformiert oder gänzlich anders gemacht werden muss. Wir dokumentieren hier eine Beschreibung des griechischen Gesundheitswesens vor der Krise von Andraes Xanthos und ergänzen dies durch ein paar Infos aus einer Studie der Hans-Böckler Stiftung.
Obwohl niemand es offiziell zugibt, wird in Griechenland ein allgemeiner Plan der neoliberalen Umstrukturierung des Gesundheitsbereichs umgesetzt: Der Staat zieht sich aus der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen zurück, die in die Hände großer Privatunternehmen gelegt wird. Perspektivisch besteht das Ziel im Erhalt eines diskreditierten öffentlichen Gesundheitssystems1 mit niedriger Leistungsfähigkeit für die armen sozialen Schichten, und in der Förderung eines privaten Systems zur Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen für die Mittel- und die Oberklasse, das durch private Versicherungsträger co-finanziert wird. So wird der Sozialstaat – eine Errungenschaft der Kämpfe der Arbeitnehmer Europas im 19. und 20. Jahrhundert – durch eine kommerzialisierte Marktversion des Gesundheitsbereichs ersetzt, in der unternehmerische Profite statt Bedürfnisse der Menschen die zentrale Rolle spielen. Bezeichnend hierfür ist, dass in den Texten der »Task Force Griechenland« Gesundheit nicht als soziales Recht, sondern als Sektor der griechischen Wirtschaft mit Investitionsperspektiven behandelt wird. (…)
Das griechische Gesundheitssystem
Das Nationale Gesundheitssystem Griechenlands (ESY) wurde 1983 eingeführt. Es beruhte auf den Grundsätzen der Gleichheit und der Universalität, sowie dem öffentlichen und kostenlosen Charakter der Dienste. Finanziert wurde es durch ein gemischtes System, an dem sowohl das Versicherungssystem wie der staatliche Haushalt beteiligt waren. Zugang zu ESY hatten nur Versicherte, während für Mittellose andere Systeme bestanden.
Geplant war ein integriertes dreistufiges System (primäre, sekundäre und tertiäre Versorgung). Bei seiner Realisierung wurde jedoch Krankenhäusern und Gesundheitszentren in ländlichen Gegenden Priorität gegeben, während die Primärversorgung in den Städten weiterhin im Verantwortungsbereich der Versicherungskassen verblieb, die relativ differenzierte Gesundheitsleistungen anboten.
Im ersten Jahrzehnt des ESY kam es zu einer großen Ausweitung der öffentlichen Gesundheitsdienste. Es wurden viele neue Krankenhäuser und Gesundheitszentren geschaffen, viele Ärzte und sonstiges medizinisches Personal wurden eingestellt, es fanden Investitionen in Infrastruktur und Ausrüstung statt. In seinem zweiten Jahrzehnt begann im Zeichen der neoliberalen Logik auch in der Gesundheitspolitik allmählich eine Stärkung des Privatsektors, hauptsächlich dadurch, dass den Versicherungskassen die Möglichkeit gewährt wurde, mit privaten Diagnosezentren und Krankenhäusern Verträge abzuschließen.
Kurz vor der Wirtschaftskrise war die Situation im Gesundheitsbereich von folgenden Merkmalen geprägt:
- Hohe private Ausgaben in Form von direkten oder informellen Zahlungen, hauptsächlich für 45 und 50 Prozent der Gesundheitsausgaben mussten privat bestritten werden. Innerhalb der OECD-Länder ist dies der zweithöchste Anteil an privaten Gesundheitskosten, nach den USA.
- Spaltung der Primärversorgung: ESY-Gesundheitszentren auf dem Land und parallele Erstversorgungssysteme unter der Kontrolle der Versicherungskassen für die Stadtbewohner, zwischen denen erhebliche Versorgungsunterschiede bestehen.
- Starker Anstieg der Ausgaben für Arzneimittel: In den 2000er Jahren verdoppelten sich die öffentlichen Ausgaben für Medikamente in Griechenland, hauptsächlich aufgrund der intransparenten Preispolitik für Arzneimittel und der mangelnden Mengensteuerung bei ihrer Verschreibung.
- Unkontrollierbare Ausgaben für diagnostische Untersuchungen sowie bei der Anschaffung von Materialien und medizintechnischer Ausrüstung, hauptsächlich aufgrund von Korruption und künstlich geschaffener Nachfrage.
- Mangel an Versorgungsforschung: Der medizinische Bedarf nach sozialen und regionalen Faktoren ist weitgehend unbekannt, das Auftreten von Krankheiten wird nicht systematisch erfasst.
- Ungleicher Zugang aufgrund von geographischer Exklusion: In verschiedenen Gebieten, hauptsächlich auf Inseln, wurden keine ausreichenden Dienste entwickelt.
- Großer Personalmangel in Krankenhäusern, hauptsächlich an Krankenpflegepersonal.
- Großes Wachstum des Privatsektors, hauptsächlich in der Primärversorgung (Privatpraxen) und bei diagnostischen Untersuchungen sowie, zweitrangig, bei Krankenhausdienstleistungen.
- Überkapazität an Ärzten, Mangel an Krankenpflegern: Innerhalb der OECD-Länder hat Griechenland eine der höchsten Quoten im Bezug auf Ärzte pro Einwohner. Beim Verhältnis von Krankenpflegekräften pro Bewohner ist Griechenland dagegen Schlusslicht.
- Privatpraxen stellen eine sehr starke Institution dar, die seit jeher Unzulänglichkeiten und Mängel des ESY ausgleichen.
1) Den Begriff öffentliches Gesundheitswesen findet man oft in der Diskussion. Er wird hier gebraucht im Sinne eines staatlich organisierten Gesundheitswesens, in dem jeder Bürger freien Zugang zu medizinischen Leistungen hat.
(Ausschnitt aus einem längeren Text von Andreas Xanthos: »Memorandum und Austerität haben der Gesundheit in Griechenland beträchtlichen Schaden zugefügt «, der Text wurde uns freundlicherweise vom Büro von Harald Weinberg, MdB für die LINKE, bereitgestellt.)
Andreas Xanthos ist gesundheitspolitischer Sprecher der SYRIZA-Fraktion im griechischen Parlament.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderheft Griechenland Herbst 2014)