Gute Medizin braucht gute Arbeitsbedingungen
Nadja Rakowitz über die Jahreshauptversammlung des vdää in Hamburg
Auf Wunsch der Mitglieder und TeilnehmerInnen der letzten Jahreshauptversammlungen haben wir die diesjährige JHV nicht in einer – in den letzten Jahren leider relativ teuren – Bildungsstätte veranstaltet, sondern an einem zentral in der Stadt gelegenen Veranstaltungsort. Mit dem vom Stadteilverein GWA betriebenen »Kölibri« am Hein-Kölisch Platz hatten wir dafür einen idealen Ort gefunden. Aber nicht nur der Ort und seine Atmosphäre sondern auch die Themen und die eingeladenen ReferentInnen trugen das ihre zu einer interessanten vdää-Tagung bei.
Den Auftakt machte am Freitagabend eine von vdää und MediBüro Hamburg organisierte öffentliche Diskussionsveranstaltung mit dem Bernd Kalvelage, Internist und Autor des 2014 erschienenen – sehr empfehlenswerten – Buchs »Klassenmedizin« mit dem Titel: »Weil du arm bist, musst du früher sterben – Verhältnisprävention in der ambulanten Medizin«. Kalvelage stellte seine These vor, dass die im Studium gelehrte und oft unreflektiert vorgetragene Gleichbehandlung der PatientInnen, die »Behandlung ohne Ansehen der Person« in der Justiz gut und richtig sein mag, nicht aber in der Medizin. Dort sei im Gegenteil eine »schichtsensible Heilkunst« erforderlich. Wir bräuchten also eine »Klassenmedizin«. Es gehe einem sozial engagierten Arzt darum, die Menschen zunächst in ihrer Ungleichheit zu sehen und zu behandeln. Er kritisierte dabei auch vermeintlich gesellschaftskritische Positionen von Public Health-Wissenschaftlern, die die These von den Sozialen Determinanten von Gesundheit so weit treiben, dass der Medizin wiederum jegliche soziale Verantwortung oder Kompetenz aberkannt wird. Hierüber gab es dann eine kontroverse Diskussion mit dem zahlreichen Publikum. Besonders spannend war bei der Diskussion der Austausch zwischen den vielen anwesenden jungen MedizinerInnen und ebenso zahlreich anwesenden »alten Hasen«.(1)
Gute Medizin braucht gute Arbeitsbedingungen
Am Samstagmorgen startete die Tagung dann mit einer kurzen Einschätzung der aktuellen Gesundheitspolitik durch Wulf Dietrich, den Vorsitzenden des vdää. Das erste Panel zum Thema »Sektorübergreifende Bedarfsplanung – Wunsch und Wirklichkeit« fand leider ohne Elke Badde, Staatsrätin Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz Hamburg statt. So hatten wir Gelegenheit mit Prof. Norbert Schmacke vom Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen seine sehr grundsätzliche Kritik an den deutschen Strukturen und seine aus langjähriger Erfahrung gespeiste pessimistische Zukunftseinschätzung zu diskutieren. (siehe Text S. 7 in dieser Ausgabe) Es zeigte sich im Anschluss an seinen Vortrag, dass es hierzu viel Diskussionsbedarf gab und so wurde aus der Not der fehlenden zweiten Referentin die Tugend einer gründlicheren Diskussion gemacht.(2)
In der Diskussion ging es dann darum, wie Bedarfsplanung entsteht bzw. warum sie bisher nicht gelingt und bislang meistens über Machtmechanismen zustande komme und nicht über grundlegende Datensammlungen. Auf den Bericht über die Gesundheitsberichtserstattung von Dieter Scheuch aus Dresden erwiderte Norbert Schmacke, dass dies wichtig sei, aber an den meisten Orten keine Auswirkung habe. Wenn aber kleinräumig Feststellungen getroffen würden, müsste man den lokalen Instanzen auch die Macht geben, die daraus notwendigen Schritte zu gehen. Allerdings warnte Schmacke auch, Kleinräumigkeit allein für eine Lösung zu halten, denn sie führe oft nur zu dem »Gefühl«, dass es zu wenige Ärzte gebe. Gesundheitskonferenzen seien von der Politik als Alibiveranstaltungen erfunden worden, die man erst zu authentischen Orten machen müsse.
Wieviel Personal brauchen die PatientInnen? Personalbemessung in den Krankenhäusern
Zum nächsten Panel hatten wir Prof. Michael Simon von der Hochschule Hannover, Prof Klaus Stegmüller von der Hochschule Fulda und Grit Wolf, Gesundheits- und Krankenpflegerin und Mitglied der Tarifkommission an der Charité, Berlin. Klaus Stegmüller musste leider aus Krankheitsgründen absagen. Michael Simon gliederte seinen Vortag in drei Themen: Entwicklung der Diskussion über verbindliche Vorgaben für die Personalbesetzung im Pflegedienst; zur Frage verbindlicher Vorgaben für die Personalbesetzung im ärztlichen Dienst der Krankenhäuser und Diskussion über eine staatliche Regulierung der Personalbesetzung in Krankenhäusern. Simon resümierte den Personalabbau zwischen 1996 und 2007 mit ca. 50 200 VK in der Pflege insgesamt, davon allein 2004: 10 000. Erst ab 2007 gibt es wieder einen leichten Anstieg. Es sei hinlänglich bekannt, dass schwere Risiken für Patienten bestehen, wenn zu wenig Personal da ist. Regierungskoalition habe im Koalitionsvertrag eine Intervention angekündigt, von der man sich aber nicht zu viel erwarten kann. Zumindest gebe es aber Erfahrungen und Instrumente zur Bestimmung einer Personalbemessung. Der Handlungsdruck scheine für den ärztlichen Dienst nicht so gegeben. Allerdings seien mit Ärztemangel und zunehmendem Einsatz von Honorarärzten durchaus problematische Entwicklungen zu beobachten. Simon hält es für überlegenswert, ob – als Maßnahme der externen Qualitätssicherung – auch für den ärztlichen Dienst staatliche Vorgaben zur Personalbesetzung (Anzahl und Qualifikation) erfolgen sollten. Wenn von Seiten der Ärzteschaft eine Regulierung gewünscht werde, so Simon, dann wäre es sinnvoll, sich mit einer solchen Forderung an der gegenwärtigen Diskussion zu beteiligen. Zwei Fragen dürften dabei von zentraler Bedeutung sein: Welches Verfahren zur Berechnung einer bedarfsgerechten Personalbesetzung soll angewendet werden? Wer soll eine Regulierung wie vornehmen? Wie diese Fragen geklärt werden und ob es eine Regelung geben wird, werde wesentlich vom Druck (der Organisationen) der Beschäftigten abhängen.
Für mehr Personal im Krankenhaus
Daran konnte Grit Wolf von der Charité unmittelbar anknüpfen. Sie berichtet zunächst vom Streik 2011 für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Das Thema Arbeitsbedingung wurde immer wichtiger, weil mit jeder Lohnerhöhung das Personal weiter abgebaut worden sei. Nachdem mit Hilfe der Partei »Die Linke« geklärt wurde, dass die Forderung nach einer tariflichen Personalquote nicht verfassungswidrig ist, wurde eine Erhebung gemacht und an der Kalifornien-Quote 1:5(3) orientiert; dazu kam die Forderung: »Keine Nacht alleine«. Zur Unterstützung der Beschäftigten der Charité gründete sich ein bis heute bestehendes Bürgerbündnis. Grit Wolf erläuterte dann den Inhalt des Tarifvertrags, der nur eine Laufzeit bis Ende 2014 hat. Es sollten bis dahin 80 VK angestellt werden, was in der Charité ein Tropfen auf den heißen Stein ist. Zum ersten Mal hat der Betriebsrat wirkliche Informationen über Personalzusammensetzungen erhalten. Sehr viel mehr habe sich aber nicht geändert: In den Nachtdiensten sind immer noch nicht überall zwei Beschäftigte; nach wie vor gibt es zu viele Befristungen und keine rechtzeitigen Entfristungen. Am Ende rief Grit Wolf zu bundesweiten tarifliche Kämpfen als Druckmittel für eine gesetzliche Personalermittlung auf.
In der Diskussion erzählte Grit Wolf, dass während des Streiks einige KollegInnen bei ver.di eingetreten seien, dass es aber wichtiger sei, dass das Pflegeethos durchbrochen werde bei den Beschäftigten in der Pflege. Inzwischen gebe es eine bundesweite Zusammenarbeit mit Beschäftigten anderer Kliniken. Sie erläuterte noch einmal, dass die ursprünglich gefordert Relation von Beschäftigten: Patienten von 1:5 500 VK in der Charité bedeuten würde. In den 70iger Jahren habe es aber schon mal 1:3 als Anhaltszahl der Deutschen Krankenhausgesellschaft gegeben. Michael Simon erläuterte in der Diskussion noch einmal, dass bei einer Evaluation der PsychPV herausgekommen sei, dass die Klinken Abschläge hingenommen hätten, weil das immer noch wirtschaftlicher war als die volle Zahl der Stellen bereit zu stellen. Am Anfang habe es mit der PsychPV Verbesserungen gegeben, mit der Deckelung der Budgets lief dann aber alles auseinander. In der Diskussion dieser Vorträge wurde klar, dass die Definition des Bedarfes an medizinischer Versorgung sehr schwierig ist. Wer definiert den Bedarf, wie wird er bestimmt? Können Kennzahlen aus dem Ausland einfach als Vergleichsgröße herangezogen werden? Dagegen ist die Frage nach dem Bedarf an Pflegekräften einfacher zu beantworten: je besser das Verhältnis Pflegekraft/Patient ist, desto besser ist das outcome der Patienten (s. den Artikel von Cordula Mühr, S. 17).
Gute Kooperation im Krankenhaus
Zur Diskussion über gute Kooperation hatten wir Helke Krompholz, Krankenschwester und Betriebsratsvorsitzende des Krankennhauses Saalfeld-Rudolstadt, Gerd Dielmann, Krankenpfleger, Diplompädagoge und ver.di-Gewerkschaftssekretär in Altersteilzeit und Dr. Clemens Plickert, deutscher Arzt in Dänemark eingeladen. Helke Krompholz, die in der DDR Krankenpflege im Rahmen eines Fachschulstudiums gelernt hat, sollte die Kooperation in der DDR vergleichen mit der heutigen. Im Unterscheid zu heute sei das Personal sehr lange in einer Klinik geblieben und es gab wenig Fluktuation. In der DDR musste jeder, der Medizin studieren wollte, vorher in der Pflege arbeiten, damit war klar, dass Jeder gewusst habe, was die Pflege tut, und jeder in der Lage war, auch alles zu machen. Weil es inzwischen so viele Spezialisierungen wie Wundmanager, Entlassungsmanager etc. gebe, könne die Schwester dem Arzt bei der Visite über den Patienten nur noch wenig sagen, denn wenn es z.B. zu einer entzündlichen Wunde komme, werde der Wundmanager angefordert, die Schwester sei dann »draußen«. Die Kommunikation zwischen den Hierarchieebenen funktioniert heute nicht nur deswegen nicht mehr, sondern auch wegen des Machtgefälles. Der Dialog zwischen Berufsgruppen müsse auch durch das Management gefördert werden.
Gerd Dielmann sollte über die neue Arbeitsteilung in Krankenhäusern sprechen. Was delegiert werden darf und was nicht, sei immer noch mit Unsicherheit verbunden. Es werde aber permanent delegiert. Gleichzeitig würden immer mehr schmalspurige Qualifikationen geschaffen, die nicht nach Berufsbildungsgesetz geregelt sind. Jeder Arbeitgeber mache etwas anderes. Zur deutschen Arbeitsteilung gehöre aber auch, dass z.B. der Arzt Physiotherapie anordnen und verantworten muss, obwohl er keine Ahnung davon habe, während der Physiotherapeut es zwar kann, es aber nicht verantworten darf. Diese sei nicht nur unvernünftig, es sei auch nicht gut für den Patienten und außerdem gehe durch die starke Hierarchisierung die gegenseitige Wertschätzung der Beschäftigten in unterschiedlichen Berufsgruppen verloren. Neben den grundsätzlichen Änderungen, die hier zum Wohle der PatientInnen aber auch der Beschäftigten selbst erforderlich wären, schlug Gerd Dielmann aus gewerkschaftlicher Sicht vor, z.B. Interprofessionelle Fortbildungen zu organisieren, um diese Missstände zwischen den Berufen abzubauen. Die ÖTV habe das einmal versucht und es gebe dafür ausgearbeitete Konzepte – allerdings sei das von Ärzten wenig wahrgenommen worden.
Clemens Plickert, ein deutscher Arzt, der in einem Psychiatrischen Krankenhaus in Kopenhagen arbeitet berichtete über Kooperation in Dänemark. Dort sind die fünf Regionen jeweils Organisatoren des Gesundheitswesens. Die Kommune ist für den Patienten erster Ansprechpartner, sie betreibt ambulante Krankenpflege und Gesundheitsförderung, die Regionen betreiben die Krankenhäuser und bezahlen die niedergelassen Ärzte. Die Patienten gehen immer zuerst zum Hausarzt; es gibt nur wenige Fachärzte und dahin wird auch wenig überwiesen. Es gibt enorm lange Wartezeiten – so schlimm, dass es einen Vertrag mit Schleswig-Holstein gibt, um die Garantiefrist von einem Monat für einen Arzttermin einhalten zu können. Es gibt nach dem Krankenhaus eine ambulante Nachverfolgung vor allem durch Pflegekräfte unter der Verantwortung der Krankenhäuser. In dänischen Krankenhäusern gebe es gemeinsame Visiten und flache Hierarchien zwischen den Berufsgruppen. Dabei habe man bei den Ärzten große Wechsel, während es Kontinuität in der Pflege gebe. Es wird möglichst versucht, Patienten zu beteiligen.
Die Diskussion drehte sich dann vorrangig um die Verhältnisse in deutschen Krankenhäusern. Diese neue Form des Taylorismus im KH trage nicht zur Effektivität bei und nicht zur Arbeitszufriedenheit. Helke Krompholz konkretisierte diese noch mal: Der Personalabbau im Pflegedienst wurde erheblich beim Pflegehilfsdienst betrieben, jetzt ist die Belastung der Pflegekräfte extrem hoch und es sollen zusätzlich noch ärztliche Arbeiten übernommen werden. Wenn eine Pflegfachkraft geht, komme stattdessen eine Assistenzkraft. Ebenfalls wurde über die Akademisierung der Pflege diskutierte, sie wurde aber eher kritisch betrachtet, denn die pflegerische Arbeit muss ohnehin am Bett gemacht werden. Man wisse im Moment nicht so richtig, was die ein Pfleger oder eine Pflegerin mit Bachelor-Abschluss von derjenigen mit dreijähriger Berufsausbildung unterscheide. Es müsse erst mal klar sein, was dann das Tätigkeitsfeld der Bachelors ist. Zur Zeit gibt es keine Stellen für diese Menschen. Diejenigen, die ein Aufbaustudium machen, wollen nicht ans Bett zurück. Selbstverständlich ist klar, dass die Attraktivität des Pflegeberufes durch akademische Weiterbildungsmöglichkeiten gefördert wird. Doch ist heute noch nicht eindeutig, welche Positionen im Krankenhaus die akademisch weitergebildeten Kräfte einnehmen können. Solange dem Pflegepersonal nicht mehr eigenverantwortliche Kompetenz übertragen wird, bleibt die Aussicht auf eine Akademisierung des Pflegeberufes ein inhaltsloses Versprechen.
Wer bezahlt das Krankenhaus?
Im letzten Panel stellte Dr. Peter Hoffmann das Papier zur Krankenhausfinanzierung vor und zur Diskussion, das der vdää Anfang des Jahres zur Problematik der stationären Krankenversorgung vorgelegt hat. Peter Hoffmann erläuterte die Grundzüge unserer Vorstellungen zu Finanzierung der Krankenhäuser. Der wesentliche Punkt dieser Misere ist die Finanzierung der Krankenhäuser auf Grundlage der Fallpauschalen (DRGs) sowie die mangelnde Planung im stationären Bereich. Erst wenn es Alternativen zum jetzigen Finanzierungsmodell geben wird, kann die stationäre Krankenversorgung auf gesunde Beine gestellt werden. Bis dahin wird noch ein weiter Weg sein.
Insgesamt war die JHV in Hamburg ein Erfolg. Der Ort – ein Sozialzentrum mitten in einer Großstadt und nicht eine Bildungsstätte abseits der großen Städte – gefiel allen und die Mischung des Publikums mit Menschen aller Altersklassen, die auch genug Zeit hatten für Erfahrungsaustausch und Verabredungen neben der Veranstaltung, war gelungen und hat uns veranlasst, die nächste JHV in Leipzig zu planen – ebenfalls zentral in der Stadt.
Nadja Rakowitz
Anmerkungen
1 An dieser Stelle noch mal ein Dankeschön an Milli, Bernd, Phil, Anna, Benny und Kirsten für die Organisation der Veranstaltung.
2 Dies vermerkten auch viele TeilnehmerInnen in unserer schriftlichen Evaluation der Tagung als positiv.
3 Ein 2004 in Kraft getretenes Gesetz im US-Bundesstaat Kalifornien schreibt den Krankenhäusern feste Quoten von Pflegekräften zu Patienten vor.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft II, 4/2014)