GbP 4-2014 Andreas Klein

Medizinische Versorgung in Rojava

Ein Aufruf zur Solidarität – von Andreas Klein*

Anfang Oktober reiste eine von PHNX e.v. organisierte Delega­tion aus MedizinerInnen, JournalistIInnen und einem Sozialwissenschaftler in die Region Rojava im Nordosten Syriens. Gefolgt sind wir einem Aufruf Civaka Azads, dem kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., zu einer Fact-Finding-Mission1 in die Gebiete der kurdischen Selbstverwaltung, um dort die aktuelle medizinische Versorgung zu beleuchten und einen Überblick zu erhalten, auf welcher Grundlage medizinische Unterstützung möglich ist.

 

Rojava, das bedeutet im kurdischen »Westen« und beschreibt die Re­gion Westkurdistan im Norden Syriens. Rojava beschreibt aber auch den Versuch, ein gleichberechtigtes multiethnisches und multireligöses basisdemokratisches Gesellschaftsmodell mit Geschlechterfreiheit aufzubauen.
Im Januar dieses Jahres proklamierten die Parteien der kurdischen Demokratischen und der christlichen Einheitspartei Soyoro einseitig eine autonome direkte kommunale Demokratie und begannen mit dem Aufbau der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur in einer solidarischen Gesellschaftsstruktur, die als »Demokratischer Konföderalismus« bezeichnet wird.
Bis dahin weitgehend unbeachtet, erfuhr die Region seit Ende August ungeahnte mediale Aufmerksamkeit durch die Rettung zehntausender YezidInnen vor dem Genozid durch IS-Milizen im Shengal-Gebirge (Nordirak) und die seit Mitte September, bislang erfolgreiche Verteidigung der Stadt Kobane. Dabei bleibt jedoch nach wie vor unbeachtet, welche Auswirkungen die Angriffe der IS-Milizen und vor allem das von der Türkei verhängte Embargo gegen die Region Rojava auf die medizinische Versorgung der Bevölkerung hat. Zumindest bis zum 15. Oktober sind diesem alle westlichen Kräfte, aber auch die kurdische Autonomieregierung des Nordiraks gefolgt. An diesem Tag erfolgte die Anerkennung Rojavas durch das Kurdistan Regional Government im Irak. Ob und wie sich die Bedingungen für die Menschen in Rojava dadurch verändert haben, muss sich erst noch zeigen.
Die »Bewegung für eine demokratische Gesellschaft (Tev-Dem)«, wie sich die politische Koalition nennt, die die Autonomieverwaltung stellt, hat in den vergangenen Monaten ein neues Gesundheitssystem etabliert, in dem Gesundheitszentren eine maßgebliche Rolle spielen und in denen die medizinische Versorgung kostenfrei und allen zugänglich sein soll. Das Embargo und die beständigen Angriffe stellen die GesundheitsversorgerInnen allerdings vor schier unlösbare Aufgaben.
In der Region leben 2,5 Millionen Menschen. Zusätzlich müssen mittlerweile ca. 1,2 Millionen Binnenflüchtlinge versorgt werden. Auf der einen Seite muss die Grundversorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten werden, auf der anderen Seite fordern die Kampfhandlungen und Anschläge zahllose Verwundete. Medikamente und medizinisches Verbrauchsmaterial erreichen die Region zwar teilweise noch aus Damaskus, jedoch müssen sie zu überteuerten Preisen in den lokalen Apotheken gekauft werden. Die neu aufgebauten Strukturen der Selbstverwaltung werden von Damaskus nicht beliefert. Alles, was in den Apotheken nicht erhältlich ist, muss die Region über Hilfslieferungen aus dem Ausland erreichen. Und die sind rar gesät. Über den Landweg durch die Türkei kommen die wenigsten Lieferungen tatsächlich in Rojava an, meistens werden sie vorher geplündert oder wochenlang an den Grenzübergängen festgehalten bis die Medikamente unbrauchbar sind. Andere Hilfsorganisationen liefern erst gar nicht in die Region, da sie, wie Beispielsweise das UNHCR, nur dort arbeiten, wo sie aus Damaskus ein Mandat erhalten.
Das hat zur Folge, dass die wichtigsten Medikamente kaum verfügbar sind. Vor allem fehlen Medikamente zur Behandlung chronischer Krankheiten wie Diabetes, Herz- und Nierenkrankheiten aber es mangelt ebenso an Antiinfektiva, Säuglingsnahrung oder Krebstherapeutika.
Der Großteil der Hilfslieferungen wird von Heyva Sor a Kurdistane, dem kurdischen roten Halbmond organisiert. Er arbeitet eng mit Heyva Sor a Kurd, eine kurdische Freiwilligenorganisation, die in Rojava den Hauptteil der Gesundheitsversorgung und Hilfeleistung organisiert, zusammen. Gemeinsam und mit Unterstützung der Bevölkerung organisiert Heyva Sor nicht nur die Regelversorgung der Menschen in Rojava, sondern auch die Erste Hilfe der Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ, die die Zivilbevölkerung Rojavas seit zwei Jahren vor den Angriffen durch islamistische Milizen schützen. Darüber hinaus organisieren sie die Versorgung der Flüchtlinge aus dem Shengal, sowohl im Camp Newroz, in das sich der Großteil der YezidInnen geflüchtet hat, als auch direkte Hilfstransporte in das Shengal Gebirge. Und das unter dem ständigen Risiko, auf dem Weg ins Gebirge Opfer einer Attacke der IS-Milizen zu werden. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs lebten noch ca. 6 000 Menschen im Camp Newroz, von ursprünglich ca. 100 000. Die größte Gefahr für die Menschen im Camp stellt der bevorstehende Winter dar. Beim UNHCR wurden bereits vor zwei Monaten Winterzelte geordert. Trotz einer Zusage ist bis Anfang Oktober kein einziges Zelt im Camp angekommen.

Ein Mangel an Personal ...

Wie die meisten Kriegs- und Krisengebiete leidet auch die Region Rojava unter einem massiven »brain-drain«. Die meisten Fachkräfte haben das Land verlassen oder wurden gezielt ermordet. Von ursprünglich 700 ÄrztInnen befinden sich derzeit noch knapp 100 in Rojava. Von manchen Disziplinen gibt es keine VertreterInnen mehr in der Region. So gibt es beispielsweise keine NeurologInnen oder NeurochirurgInnen mehr. Ebenso fehlen UnfallchirurgInnen, OrthopädInnen und KardiochirurgInnen. Die chirurgische Versorgung übernehmen ausnahmslos AllgemeinchirurgInnen, die in der aktuellen Situation außergewöhnliches leisten und oft rund um die Uhr ar­beiten, je nachdem, ob und wo es gerade Kampfhandlungen gibt. Ausgebildete Pflegekräfte und RettungsassistentInnen sind ebenfalls nur noch wenige vor Ort und eine medizinische Ausbildung ist in Kriegszeiten nur schwer möglich.

… und Equipment

Eine Blutbank existiert in ganz Rojava nicht. Die Kühlschränke der Krankenhäuser sind leer, und wenn die Gefechte Verletzte fordern, wird die Bevölkerung über Lautsprecher- und Radiodurchsagen zur Warmblutspende aufgefordert. Infusionslösungen sind, wenn überhaupt, in den erforderlichen Mengen nicht einfach in den Apotheken zu erhalten und spezialisierte Medikamente, wie i.v. Antibiosen und Analgetika, die dringend von Nöten sind, ebenfalls absolute Mangelware. Ähnlich ist es um das technische Equipment der Krankenhäuser bestellt. Das meiste medizinische Equipment ist in den Jahren des Bürgerkriegs entweder geplündert oder zerstört worden. Da es ebenso an technischem Fachpersonal mangelt, kann das noch existierende Equipment nicht gewartet oder repariert werden. Vieles, was für uns zur Standarddiagnostik gehört, gibt es nicht. So fehlt es dringend an Dopplerecho, CT- oder MRT-Diagnostik. Labordiagnostik ist auf ein Minimum beschränkt.
Das Fazit ist in diesem Sinne ein ambivalentes. Auf der einen Seite muss man denjenigen, die sich für eine solidarische Gesundheitsversorgung in Rojava engagieren, tiefsten Respekt und Hochachtung zollen, unter widrigsten Umständen das nahezu Unmögliche möglich zu machen. Während die Kantone Rojavas bereits zu Zeiten des Assad-Regimes strukturell unterversorgt waren, so dass es bis auf Ausnahmen nur der regimetreuen oder finanzkräftigen Bevölkerung möglich war, medizinisch versorgt zu werden, wird heute darauf hingearbeitet ein solidarisches, kostenfreies Gesundheitssystem, in dem Versorgung unabhängig von Herkunft, Religion, Geschlecht oder Einkommen gewährleistet wird, zu etablieren.
Gleichzeitig kann kaum in Worte gefasst werden, welche Auswirkungen der Krieg – und darin insbesondere auch das Embargo als Teil der Kriegsführung – gegen die Selbstverwaltung der »Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft« auf allen Ebenen verursacht, so dass die GesundheitsversorgerInnen dringend die Unterstützung von außerhalb benötigen. Mitgenommen haben wir von unserer Delegationsreise den Aufruf, die lokalen Strukturen mit allen Kräften zu unterstützen. Vor allem mangelt es an medizinischem Fachpersonal. Wer sich also vorstellen kann, für einen begrenzten Zeitraum das medizinische Personal in Rojava zu unterstützen kann sich unter bei PHNX e.V. melden. Gesucht werden vor allem ChirurgInnen und AnästhesistInnen sowie intensivmedizinisch erfahrene Pflegekräfte.

* Andreas Klein ist Arzt und hat PHNX e.v. bei der Reise unterstützt.

Anmerkung

  1. http://civaka-azad.org/zur-fact-finding-mission-nach-suedkurdistannordirak-und-rojavanordsyrien/

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft II, 4/2014)


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