GbP 4-2014 Gespräch Pflege

»Ich dien‘ aus Dank und Liebe – mein Lohn ist, dass ich darf«

Krankenschwestern und Ärzte im Gespräch zur Situation der Pflege

Im September dieses Jahres haben sich zwei Krankenschwestern und drei Ärzte aus einem Krankenhaus in München zusammengesetzt und über ihre Arbeitsbedingungen und besonders die Situation der Pflege diskutiert. Wir dokumentieren das Gespräch ein wenig gekürzt, weil wir meinen, dass es repräsentativ ist für viele Krankenhäuserin Deutschland. Das macht uns aber nicht gerade zuversichtlicher ...

Anneke Horn: Wir hatten gestern ein Bewerbungsgespräch für die Intensivpflege, bei dem betont wurde – als ob es etwas Besonderes sei – dass die Bewerberin auch die Prüfung bestanden habe. Auf Nachfrage wurde mir dann erzählt, dass es dieses Jahr eine Durchfallquote im Lehrgang von 48 Prozent gegeben habe. Im Vergleich zu meiner Ausbildung: Ich habe 1995 die dreijährige Grundausbildung abgeschlossen an einem kleinen Kreiskrankenhaus mit eigener Krankenpflegeschule in der Nähe von Hamburg. Ich habe auch kein Abitur, aber in meiner Ausbildung wurde sehr auf die Qualifikation geachtet. In meinem Kurs gab es fast nur Abiturienten. Leute mit Mittlerer Reife wurden gar nicht genommen. Bei uns waren auch viele Leute aus den Neuen Bundesländern, weil bei uns im Westen der Anspruch höher gewesen war. Die praktische Ausbildung soll im Westen besser gewesen sein, auch wenn es in den NBL eine akademische Ausbildung war.

Claus Peckelsen: Ich mache seit ca. 20 Jahren Kurse an der Pflege-Akademie im Intensivbereich. Diese Durchfaller-Quote ist im Vergleich zu früher extrem hoch. Da fiel fast niemand durch.

Peter Hoffmann: Hat sich bei denen, die eine normale dreijährige Ausbildung machen wollen, etwas geändert in der Pflege?

Anneke Horn: Ja. Es gibt viele, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben und dann eben in die Pflege gehen. Pflege ist also nicht unbedingt das Ziel. Wenn man die fragt, ob sie später in der Pflege arbeiten wollen, dann wollen sie das nicht unbedingt. Manche haben auch zu schlechte Noten, um Medizin zu studieren. Manche lernen also nur Pflege als Überbrückung, um auch ein bisschen Geld zu verdienen, bis sie dann z.B. Medizin studieren. Hinzu kommt, dass man in der Pflege im Moment Auszubildende sucht. Andere machen aus ähnlichen Gründen die Ausbildung im Rettungsdienst, andere machen ein freiwilliges soziales Jahr.

Peter Hoffmann: Die anderen europäischen Länder verlangen zwölf Jahre Schule als Zugangsvoraussetzung. Ist es notwendig Abitur zu haben, um diesen Job gut zu machen? Anneke, du hast doch auch kein Abitur und bist sicher eine gute Pflegekraft?

Claus Peckelsen: Ohne Anneke würde der Laden zusammenbrechen.

Anneke Horn: Man muss da aber auch unterscheiden: In den Ländern, wo man studierte Pflegekräfte hat, hat man viel mehr Personal. Als ich hier eine Hospitantin aus Polen oder Tschechien hatte, hat sie mich gefragt: »Wie, ich soll jetzt einen Patienten waschen? Ich analysiere die Blutgase für die Inten­sivstation und so was…« Sie hat ihre Aufgabe ganz anders ver­standen als wir hier. Man muss die Aufgaben anders aufteilen, wenn man akademisieren will. Wenn ich hier in Deutschland den Schwestern mehr Hilfspersonal zuteile, das dann die Grundpflege macht, dann müssen die nicht alle studiert haben. Dann würden mir auch zwanzig Prozent Studierte reichen. Dann machen die Studierten eben die spezielle Pflege, z.B. Beatmung oder so was alles. Aber das haben wir hier in Deutschland nicht, sondern die Pflege – egal ob sie studiert hat oder nicht – macht die gleiche Tätigkeit. Aber es ist ja auch nicht gewollt, dass die Pflege mehr weiß. Das ist das Problem. Die Pflege wird so runter gedrückt auf die niedrige Basispflege. So wird ja auch manchmal geredet: »Die auf Normalstation, die können ja nichts usw.« Dabei sind das wirklich engagierte und gut ausgebildete Leute. Aber die können eben nicht bei der Visite mitgehen, weil sie dafür gar keine Zeit haben, wenn sie zu zweit waschen müssen etc. Dann muss ich die Pflege aufstocken und Pflegehilfspersonal oder Pflegeassistenten dazustellen.

Elisabeth Sieler-Proch: Wobei man wissen muss, dass von den 28 EU-Staaten 25 eine akademische Ausbildung für die Pflege haben. Ich habe im Altenheim mit vielen Polinnen und Kroatinnen zusammengearbeitet, die alle vier Jahre studiert hatten. Das waren junge Frauen, die begeistert waren. Das hatte Vorteile, aber auch den Nachteil, dass sie in den Pflegetätigkeiten erst einmal angelernt werden mussten, denn die waren ihnen fremd. Es gibt ja diese Debatte, ob wir überhaupt mit ausländischen Kräften arbeiten sollen oder ob es nicht besser wäre, die Bedingungen hier zu verbessern, dann würden wir auch genug kriegen. Wir kriegen aber nie genug! In den 60er Jahren kamen Inderinnen, dann Koreanerinnen, dann haben wir Personal aus Sofia geholt etc. Immer wieder gab es große Trupps von Ausländern, und immer noch sagen die Verantwortlichen: Nein, wir brauchen keine Ausländer, wir schaffen das alleine.

Claus Peckelsen: Die ganze Historie spricht dagegen.

Elisabeth Sieler-Proch: Ich bin der Ansicht, dass die studieren sollen, die ins Management gehen. Ich habe lange Jahre für die Akademisierung gekämpft; ich fand das immer richtig. Der Bundesvorstand der »Sozialdemokraten im Gesundheitswesen«, dem ich als erste Frau angehörte, hat in den 80er Jahren ein Papier gemacht, wie die Pflege-Ausbildung in Zukunft aussehen soll. Einig waren wir uns darin, ein höheres Level zu erreichen in der Ausbildung und nicht einfach jeden zu nehmen, der will. Das hieß aber nicht, dass das nur AbiturientInnen sein sollten. Wir haben auch darauf geachtet, dass die Durchlässigkeit gefördert wurde, dass also z.B. jemand der nicht die Mittlere Reife hatte, über die Pflegehelferausbildung dann auch die große Ausbildung zur Krankenpflege machen kann. Wir wollten sicherstellen, dass Menschen, die z.B. nicht in der Stadt wohnen oder die nicht gefördert wurden und nicht auf die Realschule geschickt worden waren, der Zugang offen bleibt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass wir so ganz tolle Frauen bekommen haben.
Was aus der Akademisierung geworden ist, ist heute sehr unübersichtlich. Ich habe in »Die Schwester – die Pflege« gelesen, dass es heute 60 verschiedene Weiterbildungen gibt. Das Studium an den FHs dagegen ist geordnet nach drei Bereichen: Pädagogik, Management, Forschung. Mit Trauer habe ich dann allerdings über die Jahre festgestellt, dass da ein Gap entstanden ist, weil unten nicht mehr ankommt, was die oben in ihren Schreibtischen machen. Heute fehlt mir die Verknüpfung, die Anerkennung der Arbeit »unten« und ich glaube, dass sich deshalb viele verlassen fühlen.

Anneke Horn: Heute nehme ich als Veränderung die Bachelor-Ausbildung wahr. Das sind Leute, die eine ganz normale dreijährige Krankenpflege-Ausbildung gemacht haben und die dann an der Uni weitermachen, während sie 30% noch im Krankenhaus arbeiten. Ich merke da schon einen Leistungsunterschied. Zum Bachelor braucht man als Zugangsbedingung Abitur. Und ich erlebe da schon eine ganz andere Denkweise in der Pflege. Das hat sich sehr gewandelt. Die Grundausbildung ist anders aufgeteilt als bei mir früher. Da gab es nur Krankheitsbilder, da hat man gelernt: Pflege bei Herzinfarkt, Pflege bei Lungenembolie etc. Das ganze Konzept hat sich geändert. Der Mensch wird jetzt nicht mehr nach Organen betrachtet, sondern als Einheit. Da spielt die Psyche mit rein etc. Ich sehe aber ein Problem für später: Wenn die dann ihren Bachelor haben, weiß man noch nicht, wie man die dann einsetzt und was ihnen bezahlt wird. Es ist in dieser Ausbildung nicht klar definiert, was dann ihre Tätigkeit ist. Sie arbeiten dann erst mal auch wie die anderen. Diese sind aber auch gut qualifiziert und sagen dann z.B.: Warum soll der jetzt, nur weil er einen Bachelor hat, mehr verdienen? Was darf der anders machen?

Claus Peckelsen: Was ist denn das Ziel von denen, die den Bachelor machen?

Anneke Horn: Das wissen sie auch noch nicht ganz genau. Das ist noch nicht genau bestimmt. Die Pflege soll insgesamt verändert, professionalisiert werden. Sie sollen z.B. evaluieren, Gesundheitsförderung machen etc. Für die hat man noch keine Arbeitsplatzbeschreibung und Definition, man weiß noch nicht, was deren Aufgabe ist: Ich halte zwar die Richtung für richtig, dass die Pflege professioneller werden muss, weil wir in der Pflege ja immer noch unser Licht unter den Scheffel stellen. Die Ausbildung zum Bachelor passt einfach nicht zum aktuellen Bedarf.

Elisabeth Sieler-Proch: Das heißt aber auch, die Gesellschaft, und das sind für mich der Arbeitgeber und die Gewerkschaften, kümmern sich einen feuchten Dreck darum, dass die Anstrengungen in der Pflege adäquat bezahlt werden.

Anneke Horn: Die Personalbesetzung ist hier auch ein sehr wichtiges Moment. Ich begrüße es erst einmal, dass es die Möglichkeit gibt für die Pflege, einen Bachelor machen zu können und so tiefer zu gehen mit der Ausbildung, so dass es nicht immer heißt: Du bist eine Krankenschwester und wäschst nur Patienten. Darauf wird unser Beruf ja oft reduziert: aufs Waschen oder auf die Schüssel setzen etc. Dabei sieht mein Job als Pflegerin auf der Intensivstation ganz anders aus: da bediene ich Hightech-Geräte. Das ist etwas ganz anderes. Und das habe ich gelernt und es macht mir Spaß, wenn ich sehe, was der Patient davon hat, dass ich diese Technik bedienen kann. Für die Zukunft muss man aber wissen, wie man Bachelor und die anderen Ausbildungsberufe an den Bedarf und an die KH-Pflegeschlüssel anpasst. Da sehe ich im Moment noch ein Problem.
In einem KH bekommen alle Mitarbeiter am Ende des Jahres ein Geschenk als Anerkennung für die Arbeit. Jeder wird bedacht. In diesem Haus werden auch die Kassenpatienten genauso gut behandelt wie die Pri­vatpatienten. Wenn ein Haus so eine Vision oder so ein Leitbild hat und auch lebt, dann merkt man das auch den Mit­arbeitern an. Sie treten anders auf – auch z.B. gegenüber den Angehörigen. Das ist anders, wenn ein Haus nur ein Leitbild hat, das nicht praktiziert wird sondern das nur auf dem Papier steht.

Christian Sieler: Das hängt bei uns auch an bestimmten Personen, nämlich eine völlig kaltschnäuzige Form des Umgangs mit den Mitarbeitern. Das ist es, was man wahrnehmen konnte. Und das ist kann nicht nur durch den Druck von oben erklärt werden, sondern das hängt an Personen.

Anneke Horn: Die Pflege braucht schon das Gefühl, dass sie unterstützt wird von der Klinikleitung. Wenn man nun merkt, dass diese es unterstützt, dass das Personal dermaßen runtergefahren wird und wir einfach vor vollendete Tatsachen gestellt wurden und uns gesagt wurde: Sie haben jetzt 6 Vollkräfte weniger, dagegen können Sie nichts machen. Das ist einfach so. Wenn man dann überlegt hat zu kündigen, dann wurde das auch befürwortet. Ich habe noch nie erlebt, dass so vielen Kündigungswünschen sofort mit Auflösungsverträgen nachgegangen wurde. Es wurde überhaupt nicht gefragt: Was können wir dafür tun, dass Sie bleiben? Man ist rigoros mit den Leuten umgegangen.

Claus Peckelsen: Um diesem schlechten Ruf etwas entgegenzusetzen, musst Du es schaffen, mit Deinem Team irgendwie durchzuhalten. Sonst bist Du verloren. Wenn das Team erst einmal durchlöchert ist, ist es viel viel schwieriger, wieder für ein funktionierendes Team zu sorgen.

Peter Hoffmann: Das macht auf mich jetzt den Eindruck, dass sich die Situation in der Pflege ganz uneinheitlich entwickelt, von Personen oder vom Haus abhängig ist, von der Situation des Hauses am Markt – ist es gut mit Geld versorgt oder ist es total knapp mit dem Geld, gibt es kaltschnäuzige Vorgesetzte etc…
Das hieße für mich: Wenn Du Pflegekraft werden willst, musst Du extrem darauf achten, Dich an die richtigen Orte zu begeben. Ich habe nach dem, was ich täglich beobachte, die Angst, dass Alle mit Ansprüchen, mit Engagement, mit beruflichem Ehrgeiz im positiven Sinne, Leute also, die die Pflege ausmachen, gar keine Chance oder Zukunft in der Pflege sehen könnten.
Meine zweite These: Wenn eine Klinik so schlecht geführt wird, dass die Arbeitsbedingungen unerträglich sind, dann kann da keine gute Medizin und Pflege stattfinden. Ist es dann nicht im Patienten- wie im Beschäftigteninteresse, solche Häuser zuzumachen?

Elisabeth Sieler-Proch: Deswegen ist es kein Wunder, wenn auf normalen Pflegestationen diese Fruststimmung aufkommt und sich Mitarbeiter – auch wenn sie es nicht sollten – den Ärzten, den Patienten oder den Angehörigen gegenüber ruppig oder unfreundlich verhalten. Das ist nicht in Ordnung, aber nachvollziehbar, wenn sie so gedrückt und getreten und nicht anerkannt werden. Was erwartet man denn von denen? Das sind ja keine Engel. Das sind junge Leute wie andere auch. Ich habe 1961 im Rot Kreuz-Krankenhaus noch gelernt: »Ich dien’ aus Dank und Liebe – mein Lohn ist, dass ich darf«!


(Gelächter…)


Elisabeth Sieler-Proch: Mit dieser Haltung hat man auch keine Ansprüche gestellt. Das war eine andere Zeit. Die jungen Leute, die heute in die Pflege gehen, sind Menschen ihrer Zeit und so muss man auch mit ihnen umgehen und nicht so tun, als ob sie der Erzengel wären. Jeder verlangt von ihnen, dass sie nett und unentwegt freundlich sein müssen, dass sie immer arbeiten müssen, sieben Tage die Woche, einspringen aus dem Frei etc. und das alles, weil sie in der Pflege arbeiten. Das geht aber nicht. Da hat auch die Gewerkschaft nicht gut gearbeitet.

Christian Sieler: Ich würde mal einen anderen Gedankengang versuchen wollen: Die Aufgabenverteilung auf der Station bestimmt ja, wer was mit welcher Kompetenz machen soll und was das bedeutet für die Akzeptanz und das Miteinander mit den Patienten und den Ärzten. Das würde die Attraktivität dieses Berufes ausmachen, wenn es denn adäquat umgesetzt würde. Wenn der Weg dorthin die Akademisierung sein soll, die Hervor­hebung der Professionalität in der Pflege, die festgemacht wird an medizinischen Kriterien und nicht daran, einen Hintern abwischen zu können – um das jetzt mal drastisch zu sagen –, dann muss das auch bewerkstelligt werden, wie das z.B. in der Schweiz ist.

Elisabeth Sieler-Proch: In der Schweiz haben sie die zweijährig ausgebildeten Spitalhelferin und dann die normal dreijährig Ausgebildeten. Und dann mussten sie damals noch ein Jahr aufs Land. Und dann kam ich in die Schweiz und dort hätte eine examinierte Krankenschwester niemals einen Putzlappen in die Hand genommen. Und wenn da zwanzig Betten standen. Das war Sache der Spitalhelferin. Wenn wir immer alles im Team machen und uns alle mögen etc., dann machen eben alle alles. In der Schweiz war das am Anfang schwer für mich, aber dort habe ich begriffen, dass ich das mache, was ich gelernt habe und wofür ich bezahlt werde

Peter Hoffmann: Das ist jetzt meine nächste Frage: Wer hat früher und wer drückt jetzt bei uns die Pflege runter? Sind es die Ärzte? Sind es die Ökonomen? Sind es Karrieristen, die ihre Kariere mit der Ökonomisierung gemacht haben? Unter DRG-Bedingungen ist das einfach analysiert. Die Krankenhäuser konkurrieren miteinander und es sind zwei Elemente, die relevant sind: das eine ist ganz allgemein die Kostensenkung und das zweite ist die Leistungsausweitung. Und ich glaube, dass das DRG-System eine spezifisch pflegefeindliche Wirkung hat, weil es primär so konstruiert worden ist, dass die Diagnosen bzw. jetzt zunehmend die Prozeduren das Merkmal sind, an denen sich der Erlös festmacht, nicht aber der Pflegeaufwand.

Elisabeth Sieler-Proch: Aber in den DRG ist doch der Anteil an Pflege festgeschrieben – wenigstens war es zu Anfang so. Aber wer macht sich schon die Mühe, mal aufzuschlüsseln, ob das Personal, das in den DRG drin ist, auch wirklich auf der Station ist. Das macht ja keiner. DRG kann man per se dafür nicht verantwortlich machen, sondern deren Missbrauch.

Peter Hoffmann: Nein, das ist kein Missbrauch. Das allgemein verbreitete Missverständnis ist, dass mit der DRG-Fallpauschale die durchschnittlichen Behandlungskosten dieser Fallpauschale refi­nanziert werden. So ist es aber nicht. Die DRG reflektiert nur das Verhältnis dieser Fallgruppe zum Durchschnitt der Fälle. Ist dieser Fall mehr oder weniger aufwändig als der Durchschnitt aller Fälle. Denn das was für einen durchschnittlichen Fall bezahlt wird, wird politisch festgelegt. Das ist dann der Landesbasisfallwert. Wenn dieser z.B. 2 759 Euro beträgt und man eine zehn-prozentige Lohnerhöhung für die Beschäftigten hat – was keine oder kaum Verschiebungen zwischen den Fallgruppen bedeutet –, dann erhöht sich der Erlös im nächsten Jahr um null Euro. Was man für den Durchschnitt aller Fälle an Realkosten aufwendet, spielt ebenfalls keine Rolle. Das ist die Illusion.

Elisabeth Sieler-Proch: Aber das mindeste wäre doch, dass man zumindest so viel für Personal ausgibt, wie in den unvollkommenen DRG gerechnet ist – und nicht noch weniger.

Peter Hoffmann: Was wir bis jetzt diskutiert haben, zeigt: Die Pflege hat unendliche Probleme – aber nicht mit den Ärztinnen und Ärzten.

Elisabeth Sieler-Proch: Das haben sie auch, aber nur marginal.

Claus Peckelsen: Ja, auf der Normalstation ist – so zumindest mein Eindruck – eine gewisse elitäre Grundhaltung mindestens auf ärztlicher Seite nicht selten.

Christian Sieler: Ich möchte eine Ergänzung machen zum Klima am Herzzentrum: Den Ton, den ich dort erlebt habe, habe ich so auch noch nie wahrgenommen und zwar auf beiden Stationen, die ich kenne: eine Privatstation und eine als Überwachungsstation konzipierte Normal-Station. In beiden war mein Eindruck von den Umgangsformen innerhalb der Berufsgruppe, zwischen den Berufsgruppen und mit Patienten und Angehörigen in einer überaus zugewandten und sorgfältigen Art, wie ich sonst noch nicht erlebt habe. Es gab zwar schon eine Abstufung zwischen der Privatstation und der Überwachungsstation, aber dennoch fiel das in beiden Stationen auf. Ich habe versucht, mir das zum einen mit der Spezialisierung zu erklären und zum anderen mit der personellen Ausstattung im pflegerischen Bereich, die anderswo zu Tränen rühren würde. Und außerdem wurden die »niederen« Tätigkeiten, die das Pflegepersonal entlastet haben, von anderen Diensten erledigt. Die guten Bedingungen dort sind also ganz einfach festzumachen am Geld. Auch der Umgang zwischen Ärzten und Pflegekräften ist dort überaus entspannt und einander zugewandt, auf einer ähnlichen Ebene sich bewegend.

Peter Hoffmann: Aber in dieser Situation treten alle Probleme wie Arroganz etc. zurück hinter die nackte materielle Not. Die Forderung daraus wäre: Stattet uns bedarfsgerecht aus und dann wächst Qualität wie ein Schwammerl auf feuchtem Waldboden!

Anneke Horn: Wir haben einfach niemanden, der für die Pflege politisch eintritt. Bei den Ärzten gibt es das, aber für uns noch nicht. Ich war neulich in einem Altenpflegeheim auf Fortbildung. Dort wird gesagt, es reiche aus, wenn die Hälfte der Beschäftigten Altenpflegehelfer sind. Ich habe mir dort auf einer Demenzstation angeschaut, wie die die Menschen dort in der Praxis versorgen. Ich habe dort auch in die Akten dieser dementen Patienten schauen können und gesehen, welche Krankheiten die noch haben. Dort wird jetzt auch auf höhere Qualifikation der Beschäftigten geachtet. Die Altenpflege ist inzwischen aber auch so scharf kontrolliert, da kann man sich nichts mehr erlauben. Dort gibt es so viele Kontrollen und wenn der MDK etwas findet, ist was los.

Elisabeth Sieler-Proch: Ich habe mir immer gewünscht, dass die Krankenhäuser so kontrolliert werden wie die Altenheime.

Peter Hoffmann: Das heißt, wir hier am Tisch unterstützen die ver.di-Forderung nach einer Personalbemessung, dass man für die Bereiche den Personalbedarf festlegt und allgemeinverbindlich festschreibt ?

Anneke Horn: …und dann auch kontrolliert. Das habe ich an diesem Pflegeheim gesehen, dass das funktionieren kann. Und die Heimaufsicht meldet sich nicht vorher an in den Heimen.
Ich will ja jetzt gar nicht fordern, dass die Neurologie mehr Leute braucht, aber wenn die doch schon schwarze Zahlen schrei­ben und dem Unternehmen helfen, dann muss man die doch unterstützen mit mehr Personal.

Peter Hoffmann: Nein! Das finde ich nicht richtig. Es kann doch nicht sein, dass Patienten, die das Glück haben, zufällig lukrative Erkrankungen zu haben, prima versorgt sind, und dass derjenige, der eine Erkrankung hat, die im DRG-System – aus welchen Gründen auch immer – schlecht abgebildet ist, schlechter versorgt wird?! Das ist für mich Neoliberalismus! Jeder bekommt – etwas vermittelt über das DRG-System – das, was er sich leisten kann.

Claus Peckelsen: Bedarf es dieses komplexen mathematischen Rechen- und Kontrollsystems, um diese Qualität zu bekommen, oder wäre das auch anders denkbar?

Peter Hoffmann: Das ist weder kompliziert noch aufwändig. Sie muss doch nur ausrechnen, wie viele Patienten sie mit welcher Pflegestufe hat und dann hat sie ihre Personalzahlen. Das ist ganz ähnlich wie eine Tagespauschale.

Claus Peckelsen: Es ist also ein vertretbarer Aufwand, und was am Ende qualitativ für den Patienten rauskommt, stimmt auch einigermaßen – trotz des damit verbundenen Kontrollsystems, ohne das es nicht geht, weil so viele täuschen. Aber warum tun dies so viele? Um besser zu verdienen.

Peter Hoffmann: Wen betraue ich in einer solchen Situation mit Führungsaufgaben? Es sind machtbetonte Persönlichkeiten, von denen man glaubt, dass sie das schaffen.

Christian Sieler: In Auswahlverfahren spielt notwendigerweise die fachliche Qualifikation eine Rolle; in der Endausscheidung geht es um das Auftreten und die Wahrnehmung des Auftreten ist abhängig von den Rezipienten und davon, was die wollen.

Peter Hoffmann: Das wäre ein Argument gegen eine ökonomische Steuerung von Einrichtungen der Daseinsvorsorge. Wenn man diese unter extremen ökonomischen Stress setzt, dann erzwingt das krasse Entscheidungen. Dann kann ich nicht dem gesunden Menschenverstand folgen, sondern dann wird immer gesagt: »Es kann so nicht weitergehen.« Und der ökonomische Stress erzwingt es strukturell, das Ruder herumzureißen. Das ist eines unserer Probleme. Ausgewogenheit oder Wohlabgewogenheit ist dann nicht mehr möglich. Dann braucht es »Macher«. Wenn man ökonomischen Stress erzeugt, zwingt man zu ex­tremen Managemententscheidungen. Es überrascht dann auch nicht, dass es keinen Respekt mehr im Umgang mit den Beschäftigten gibt – wie wir ihn vorhin festgestellt haben. Wenn ich das Ruder rumreißen muss, dann muss ein Ruck durchs Haus gehen.

Claus Peckelsen: Das würde ich gerne noch mal präzisieren. Hier werden gerade bestimmte Managementstrategien durchgezogen, die in anderen Betriebsbereichen der Medizin schon als überholt gelten und aufgegeben wurden – insbesondere was Einbeziehung und Umgang mit Mitarbeitern angeht. Nach meiner Wahrnehmung sind die Umgangsformen innerhalb der administrativen Hierarchien großer Industrien deutlich anders als bei uns.

Elisabeth Sieler-Proch: Aber die Pflege war Jahrzehnte den Ärzten nachgeordnet, das darfst Du nicht vergessen. Das ist in anderen Ländern sehr viel anders; in England gab es das nie. In den nordischen Ländern hätte die Pflege nur gekichert, wenn da ein Arzt langkommt und ihnen mal sagt, wann sie Urlaub nehmen. In keinem Land hatten wir solche Verhältnisse wie in Deutschland mit den Reli­giösen und den Diakonissen etc. Bis sich so etwas wie eine eigenständige Pflege entwickelt hat und auch eine eigene Verantwortung und erst Recht dann eine Akademisierung, das hat gedauert. Und dass die Mediziner akzeptieren, dass das ein eigenständiger Bereich ist, stimmt ja immer noch nicht.

Anneke Horn: Wenn ich eine Tür weiter sehe auf die IMC, da gibt es eine massive Hierarchie. Ich muss jeden neuen Arzt erst mal erden, dass er mir hier nicht zu sagen hat, was ich zu tun habe. So wie der Chefarzt es seinen Kollegen vorlebt, so machen es dann eben auch die Assistenzärzte. Wenn der Chefarzt sagt, da unten müsst Ihr besonders hart sein, da dürft Ihr den Kittel nicht ausziehen, sonst erkennt man Euch nicht als Arzt. Und wenn ich dann als Stationsleitung und Hygienebeauftragte zu ihnen sage, so geht Ihr nicht ans Bett, den Kittel zieht Ihr aus, sagen Sie: Ich bin aber Arzt. Darauf ich: Und ich bin Stationsleitung. Das ist ein sehr hierarchisches Verhältnis. Und so kommen sie immer wieder. Noch schwieriger war das nur bei einem Arzt aus Österreich, wo die Arbeitsteilung noch mal ganz anders ist.

 

Elisabeth Sieler-Proch: 1961 dreijährige Ausbildung beim DRK in Bonn, dann Bern, Lübeck, in München erst Uniklinik, dann 2 Jahre Privatklinik, unter der Annahme, sie »tauge« nicht mehr für die Pflege Arzt-Praxis, dann doch Intensivstation Klinikum Neuperlach, zehn Jahre Politik, Pflegedirektorin Klinikum Harlaching, dann zehn Jahre Leitung Altenheim, heute Rente
Dr. Christian Sieler: langjähriger Anästhesist und Intensivmediziner, zuletzt Chefarzt, heute Rente
Dr. Claus Peckelsen: Oberarzt, Leiter der internistischen Intensivmedizin, seit ca. 30 Jahren auf der Intensivstation im Klinikum Harlaching
Anneke Horn: seit 1995 Städt. Kliniken in München, Stationsleitung der internistischen Intensivstation seit 2009 und der IMC
Peter Hoffmann: seit 1992 Anästhesist und Intensivmediziner im Klinikum Harlaching des städtischen Klinikums

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft II, 4/2014)


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