Sorge-Probleme
Stefan Schoppengerd* zur aktuellen Debatte über Care
Im März 2014 fand in Berlin die Aktionskonferenz »Care Revolution« statt. Für manchen überraschend kamen mehr als 500 TeilnehmerInnen. Die Konferenz bzw. das Thema Care, also all die Sorge-Arbeiten und Sorge-Tätigkeiten in und außerhalb der Institutionen, haben anscheinend einen Nerv der Zeit getroffen. Stefan Schoppengerd versucht zu erklären, warum.
In ihrem Buch »Gesundheitspolitik« halten Rolf Rosenbrock und Thomas Gerlinger zum »System der Krankenversorgung« fest: »Der weitaus größte Teil der Beschwerden – Schätzungen gehen von etwa 70 Prozent aus – erreicht nicht das professionelle Helfersystem, sondern wird von den Patienten selbst behandelt, wobei zumeist Familienangehörige, Freunde oder Bekannte zu Rate gezogen werden.«(1) Die Mehrzahl gesundheitlicher Probleme wird also in Versorgungsstrukturen bewältigt, die unterhalb des Radars der meisten Diskussionen zum Gesundheitssystem operieren. Wo es um Berechnungen von Ausgaben und Einnahmen geht, kann gar nicht vorkommen, was nicht in Euro und Cent bezifferbar ist. Obwohl gegenseitige Hilfe und Selbsthilfe ein großer, alltäglicher Faktor sind, bleiben sie unsichtbar.
Dieses Verhältnis von nicht-monetär vermittelten Unterstützungsstrukturen und professionellem Versorgungssystem im medizinischen Bereich, das im Alltag oft stillschweigend vorausgesetzt wird, kann als exemplarisch gelten für die Tätigkeiten, die unter dem Schlagwort »Care-Arbeit« oder »Care-Ökonomie« diskutiert werden. Es geht um die Frage, wie eine Gesellschaft all die unerlässlichen Aufgaben der Versorgung von Hilfebedürftigen und scheinbar banale, überlebensnotwendige Alltagsverrichtungen organisiert: Pflege, Erziehung, Assistenz, die tägliche Mahlzeit, Putzen, Waschen, usw. »In der aktuellen Debatte wird unter Care meist die Gesamtheit aller bezahlten und unbezahlten Arbeiten im Bereich von Haushaltsarbeit, Assistenz, Betreuung und Pflege innerhalb und außerhalb von Haushalten verstanden, wobei das Feld nicht eindeutig eingegrenzt wird.«(2)
Am Beispiel Gesundheitsversorgung ist auch erkennbar, dass die Grenzen zwischen den zuhause erbrachten Leistungen und den verschiedenen Teilen des professionellen Systems alles andere als starr sind: Mit welchen Beschwerden eine Ärztin aufgesucht wird, hängt nicht bloß ab von der Schwere der Erkrankung, sondern auch von kulturellen Konventionen, politischen Entscheidungen über die sozialstaatliche Finanzierung von Leistungen, den jeweiligen privaten Lebenszusammenhängen und ggf. vom eigenen Geldbeutel. Allesamt bewegliche und umkämpfte Faktoren. Auch ist die Grenze zwischen professionellem System und zu Hause erbrachten Leistungen nicht identisch mit der zwischen monetär vergüteten Leistungen und unbezahlten: Z.B. hat die Gewerkschaft ver.di im Saarland einen Kampagne namens »Gegendruck« erarbeitet, die darauf basiert, dass im Krankenhaus sehr viele Leistungen vom Pflegepersonal erbracht werden, die weder per Arbeitsvertrag festgelegt sind noch vergütet werden. Die Annahme hinter der Kampagne ist, dass eine Verweigerung dieser Leistungen, also ein »Dienst nach Vorschrift«, die Abläufe im Krankenhaus zum Erliegen bringen würde…
Im Prinzip gibt es kaum einen Bereich der Care-Ökonomie, der nicht vollständig professionalisierbar und kommerzialisierbar ist (was nicht zwangsläufig das gleiche ist). Mahlzeiten, Reinigung, Kinderbetreuung, Pflege – für all das gibt es Angebote auf einem wachsenden Markt der »personennahen Dienstleistungen«. Manches wird durch sozialstaatliche Leistungen gefördert, manches durch bewusstes Wegsehen bei Schwarzarbeit – eine befriedigende Perspektive bietet die totale Vermarktlichung von Care dennoch nicht. Und ob dadurch die Leistungen professioneller im Sinne eines hohen Standards der »Profession« erbracht werden, sei ebenfalls dahingestellt. Abgesehen von der Frage, ob es überhaupt ein erstrebenswerter Lebensentwurf ist, all die genannten Tätigkeiten in Verhältnissen von »Dienstleistern« und »Kunden« unterzubringen, ist dies als gesamtgesellschaftlicher Umgang mit den notwendigen Sorgearbeiten ohnehin strukturell unmöglich: Wer sein Geld als Reinigungskraft verdient, wird kaum genug haben, die eigene Wohnung gegen Bezahlung putzen zu lassen. Eine Pflegerin, die aus Osteuropa in eine deutsche Familie zieht, um sich um die Alten zu kümmern, wird für die eigenen Eltern keine vergleichbare Betreuung kaufen können – es sei denn, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse noch weiter östlich sind wiederum schlechter…
Dass der Care-Ökonomie vor allem in der feministischen Sozialwissenschaft Aufmerksamkeit zuteil wird, ist kein Zufall. Die Frage, wer zu welchen Bedingungen welche Arbeit übernimmt, ist nicht zu beantworten, ohne die besondere Gleichzeitigkeit von Stabilität und Veränderung in den Geschlechterverhältnissen in Rechnung zu stellen. So hat die feministische Analyse und Kritik der Care-Arbeit ihre Vorläufer in früheren Diskussionen um den Stellenwert »unbezahlter Hausarbeit«. Häufig musste hier zuerst darum gestritten werden, ihr überhaupt erst die Anerkennung als gesellschaftlich notwendige Arbeit zuteil werden zu lassen. Entspricht das, was die Hausfrau den lieben langen Tag (oder nach Feierabend) tut, nicht einfach ihrer weiblichen Veranlagung, sich um Ehemann und Kinder zu kümmern? Und ist es nicht ein Beitrag zur Zerstörung des Familienidylls, wenn ein guter Teil des Geschehens in der Familie so hässlich als »Arbeit« bezeichnet wird, obwohl damit noch nicht einmal Geld verdient wird? Nicht nur gegen solche romantischen Verklärungen des Wickelns, Schrubbens und Einkäufeschleppens samt des Erduldens der Launen von Gatte und Nachwuchs trat die feministische Kritik auf den Plan, sondern auch gegen die Kurzsichtigkeit einer linken Gesellschaftskritik, die zwar »Arbeit«, die »alle Werte schafft«, zum Dreh- und Angelpunkt ihrer Befreiungsvorstellungen machte, von Hausarbeit aber genauso wenig reden wollte wie die konservativen Hüter der patriarchalen Kleinfamilie.
Dieser Impetus, die unbezahlte Arbeit in den Haushalten in die Kritik ökonomischer Zusammenhänge einzubeziehen, wird mit dem Begriff der Care-Ökonomie/Care-Arbeit fortgeführt. Die Schweizer Volkswirtin Mascha Madörin verdeutlicht den enormen Umfang der unbezahlten Hausarbeit: Gemessen an der dafür aufgewendeten Arbeitszeit, ist sie der mit Abstand größte Wirtschaftssektor.(3)
Obschon hier also Kontinuitäten in der Strukturierung von Care überdeutlich sind, ist die neuere Diskussion auch durch die Wahrnehmung von Veränderungen motiviert, die meist als krisenhafte Entwicklung beschrieben werden (Care-Krise/Reproduktionskrise). Das Modell der Ernährer/Hausfrauen-Ehe hat deutlich an Bindungskraft eingebüßt. Gesetzliche Restriktionen für Frauen, die arbeiten gehen wollen, sind gefallen. Die Beschränkung auf die Rolle der Hausfrau, die ein bisschen was dazu verdient, hat an Attraktivität verloren. Zugleich steigt der Druck, diese Freiheit auch zu nutzen, weil das allgemeine Reallohnniveau stagniert und das Kleinfamilienarrangement für Viele daher gar nicht finanzierbar ist. Der neoliberale Kapitalismus hält aber auch keine überzeugende Alternative vor zur »Lösung« der Sorge-Probleme auf Kosten der Frauen: Dass »der Markt« es richten wird, kann allenfalls wenigen Privilegierten glaubhaft scheinen.
Dabei halten Mechanismen kapitalistischer Konkurrenz auch in Bereichen Einzug, die bislang durch die Prinzipien sozialstaatlicher Solidarität geprägt waren. Der sinkende Anteil der Löhne am Volkseinkommen beschert dem Gesundheitssystem ein Einnahmenproblem, das durch den Wettbewerb um Kostensenkungen bzw. durch die Verlagerung der Kosten auf PatientInnen und/oder ArbeitnehmerInnen behoben werden soll. Wer Einführung und Auswirkungen des DRG-Systems in deutschen Krankenhäusern aus der Nähe verfolgt hat, weiß, wovon hier die Rede ist. »Kostendruck« ist vor allem Druck aufs Personal. Und das, obwohl erwiesen ist, dass sich die Mortalität im Krankenhaus umgekehrt proportional zur Anzahl der Pflegekräfte verhält: Je schlechter der Personalschlüssel, desto höher die Wahrscheinlichkeit, im Krankenhaus zu sterben.
Es ist eben, so wird in der sozialwissenschaftlichen Diskussion zu Recht betont, ein Spezifikum der Sorgearbeiten, dass sie nicht wie z.B. industrielle Produktionsabläufe durch Rationalisierungsstrategien auf stets steigende Effizienz getrimmt werden können. Die Bedürfnisse von Säuglingen, Demenzkranken, Patienten und Assistenznehmerinnen fügen sich nicht einem durchgetakteten Tagesablauf, der keine Spontaneität mehr kennt. Neben Konflikten um Arbeitszeiten und Bezahlung liegt hier der wichtigste Grund für die Unzufriedenheit von professionellen Care-ArbeiterInnen mit den Verhältnissen: Wenn äußere Vorgaben und betriebliche Strukturen systematisch verhindern, dass dem eigentlichen Arbeitsauftrag und dem professionellen Ethos – zum Wohlergehen und würdigen Leben anderer beizutragen – nachgekommen werden kann, muss sich Frustration einstellen.
Geht es nach einigen Protagonistinnen der Diskussion um »Care-Ökonomie«, ist die Zeit reif für eine soziale Bewegung, die die Probleme aus den unterschiedlichen Bereichen bündelt und die Sorgebelange in den Mittelpunkt sozialer Kämpfe rückt. Dies war z.B. das Anliegen der Aktionskonferenz »Care Revolution«, die im März 2014 in Berlin stattfand, und die in Anbetracht der hohen TeilnehmerInnenzahlen offenbar einen Nerv getroffen hat.(4) Um diese Kämpfe aber erfolgreich führen zu können, ist noch viel Verständigungs- und Vermittlungsarbeit nötig. Für welche Forderungen mit welchen Mitteln Druck entfaltet werden kann, das ist in den diversen Bereichen, die unter »Care-Ökonomie« subsummiert werden, durchaus unterschiedlich. Und die Diskussion darum, wie beispielsweise im Bündnis mit den bewegungsorientierten Teilen der Gewerkschaften gehandelt werden kann, hat kaum begonnen. Vor dieser Herausforderung zu kapitulieren, wäre aber ein unverzeihlicher Fehler: Dafür sind die Probleme, die die Care-Debatte am Wickel hat, viel zu wichtig.
*Stefan Schoppengerd hat in Marburg in Politikwissenschaften promoviert, ist Lehrbeauftragter in Frankfurt und Marburg und Redakteur des express.
Anmerkungen
1 Rolf Rosenbrock / Thomas Gerlinger: »Gesundheitspolitik. Eine systematische Einführung«, Bern 2006, S. 120
2 Pia Garske: »Putzen, Kochen, Kinder kriegen? Von der Hausarbeits- zur Caredebatte: Alter Wein in neuen Schläuchen?«, in: analyse & kritik, Nr. 591, www.akweb.de/ak_s/ak591/29.htm
3 Mascha Madörin: »Care-Ökonomie – Eine Herausforderung für die Wirtschaftswissenschaften«, in: Christine Bauhardt/Gülay Çaglar (Hg.): »Gender and Economics. Feministische Kritik der politischen Ökonomie«, Wiesbaden 2006, S. 81-104
4 Zur Konferenz und den Folgeaktivitäten siehe https://care-revolution.org/
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft II, 4/2014)