Hinter dem Virus steckt ein System
Andreas Wulf* über die strukturellen Ursachen der Ebola-Epidemie in Westafrika
Der aktuelle Ebola-Ausbruch in Westafrika ist die größte Epidemie seit der Entdeckung des Virus im Jahr 1976. Während die tagesaktuellen Nachrichten von Quarantäne-Maßnahmen, einfliegenden Hilfsteams und Hilfsgeldern und vor allem von der Frage geprägt sind, ob und wann die Epidemie sich auch »bei uns« ausbreiten könnte, lohnt ein Blick hinter die Kulissen, den Andreas Wulf von medico international vornimmt.
Strukturelle Ursachen und Handlungsoptionen auszuloten, bewahrt davor, nur immer reaktiv auf die nächste Katastrophe zu warten und die Verantwortung allein bei den direkt betroffenen Gesellschaften und Menschen zu suchen. So ist schon die Frage nach den unmittelbaren Infektionsursachen nicht allein mit exotischen Tieren und Ritualen zu erklären: In den drei hauptbetroffenen Ländern Guinea, Sierra Leone und Liberia leben viele Menschen von kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Deren Lebensgrundlagen wurden durch aktuelle Entwicklungen wie Landgrabbing (Aufkauf von Land für großflächige Agrarrohstoffproduktion) und Ressourcenausbeutung (Diamanten, Rutil, Bauxit) massiv eingeschränkt. Durch solche Verdrängungsprozesse weichen Menschen zunehmend in zuvor unbesiedelte Waldgebiete aus. Dort kommen sie stärker mit den potenziellen Überträgern des Virus wie Affen und Flughunden in Kontakt, was den Übergang des Virus vom Tier- auf den Menschenwirt beschleunigt.
Solche ökonomischen Entwicklungen sind keine isolierten lokalen Dynamiken, sondern aufs engste verbunden mit einer globalisierten Welt, in der Gewinne und Verluste solcher globalisierter Ökonomien massiv ungleich verteilt sind. Die durch den Weltmarkt forcierte landwirtschaftliche Plantagenwirtschaft hatte verheerende Folgen für die lokale Nahrungsmittelsicherheit der Menschen und begann aber bereits mit der kolonialen Eroberung und Durchdringung der westafrikanischen Küstenregionen. Diese Ausbeutungsökonomie fand auch mit den Bürgerkriegen um Diamantenvorkommen und -Ausbeutung und deren internationalen Partner in Politik und Handel einen grausamen Höhepunkt in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts.
Die Übertragung der Erreger von Mensch zu Mensch wiederum ist Teil einer »Ökonomie des Risikos«, die Arme in beengten Wohn- und Lebensverhältnissen höheren Infektionsrisiken aussetzt als Wohlhabende, die es sich leisten können, in großzügigen Häusern zu leben statt in Einraum-Hütten für ganze Familien und in eigenen Fahrzeugen zu reisen statt »auf Tuchfühlung« miteinander in vollen Sammelbussen.
Im Extremfall eskaliert ein solches »Risiko Armut« dann in militärisch durchgesetzte Bewegungseinschränkungen, wie sie mit dem »cordon sanitaire« um den größten Slum Westafrikas, den Stadtteil Westpoint in Liberias Hauptstadt Monrovia medial besonders sichtbar wurde. Aber auch die ökonomischen Folgen weniger dramatisch sichtbarer Bewegungseinschränkungen, die große Teile des Güterverkehrs in den drei Ländern zum Erliegen brachten und inzwischen massiv die Versorgung der Städte mit Nahrungsmitteln aus den ländlichen Regionen gefährden, gehören dazu.
Über das genaue Ausmaß medizinisch begründbarer Quarantäne-Maßnahmen bei Verdachtsfällen wird inzwischen umfassend bei der WHO und in einschlägigen Fachgremien diskutiert. So sind beispielsweise die rasche Einstellung der meisten Flugverbindungen in die betroffenen Länder gegen die ausdrückliche Empfehlung der WHO-Experten erfolgt und haben die wirtschaftliche Lage in diesen Ländern noch massiv verschärft.
Ein weiterer wesentlicher Faktor gerät dabei aber allzu häufig aus dem Blick: Die Kommunikation von Infektionsrisiken und Maßnahmen zur Unterbrechung von Infektionsketten kann nur gelingen, wenn es ein Mindestmaß an Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung, Behörden und in die ausländischen Helfer gibt. Und dass die Menschen auch konkrete positive Hilfserfahrungen in Gesundheitsstationen und Krankenhäusern machen, eine Grundvoraussetzung, die nach einem jahrelangen Bürgerkrieg mit nur wenigen verurteilten Kriegsverbrechern und insgesamt einer desolaten öffentlichen Infrastruktur massiv zerstört ist. Die meisten Autoritäten sind mehr auf das Eigenwohl statt auf das Gemeinwohl bedacht. Wer den Staat noch nie in einer fürsorglichen Rolle erlebt hat, für den sind aufkommende Gerüchte, dass die Desinfektionsteams, die öffentliche Marktplätze und die Umgebung von Krankenhäusern reinigen wollen, in Wirklichkeit die eigentlichen Verbreiter der Krankheit sind, nicht so irrational, wie sie zunächst erscheinen mögen.
Die Vernachlässigung sozialer Infrastrukturen haben die lokalen Eliten zu verantworten, aber auch die internationale Politik des neoliberalen »Washingtoner Konsensus«. Dieser verschrieb den Ländern des Südens seit den 1980er Jahren eine möglichst geringe Besteuerung exportorientierter Ökonomien, freie Kapitalflüsse und geringe öffentliche Investitionen zur Haushaltssanierung. Die dramatischen Folgen sind wie ein massiver Freilandversuch jetzt zu beobachten: Die vernachlässigten Gesundheitseinrichtungen wurden zu Infektionszentren, da sie materiell nicht dazu in der Lage waren, auch nur die Standardregeln der hygienischen Krankenversorgung einzuhalten. In Sierra Leone etwa kommt auf 30 000 Patienten nur ein Arzt – das entspricht etwa einem Prozent der Ärztedichte in Deutschland.
Das Ausmaß der Epidemie überfordert diese schwache Struktur und schwächt sie durch die Erkrankungen und den Tod vieler hundert GesundheitsarbeiterInnen zusätzlich. Angesichts dieser verheerenden Situation gilt es, die kurzfristigen Hilfen für die hauptbetroffenen Länder für die Krankenversorgung, Aufklärung und Vermeidung von Neuinfektionen zu verstärken und die Lebensgrundlagen für diejenigen zu sichern, die besonders unter den Quarantäne-Maßnahmen leiden: die Menschen, deren wirtschaftliche Grundlage von Mobilität und täglichen Kleinsteinkommen abhängen und die keine Reserven für Ausfälle haben. Wichtig ist dabei, die erfolgreichen lokalen Erfahrungen in den Krisenländern und vielen internationalen Hilfsleistungen zu würdigen und weiter zu fördern, besonders diejenigen aus den afrikanischen Ländern mit eigenen Ebola-Erfahrungen. Gerade da sie weniger im medialen Rampenlicht stehen als Ärzte ohne Grenzen, die US-Militärs und die kubanischen Gesundheitsbrigaden.
Zugleich dürfen wir die längerfristigen Perspektiven nicht aus dem Auge zu verlieren. Der Aufbau funktionierender und patientenzentrierter Gesundheitsdienste ist jetzt eine Forderung, die von vielen Seiten zu hören ist. Weniger zu hören ist dagegen, dass hierfür auch international verlässliche Strukturen geschaffen werden müssen. Statt kurzfristiger Programmfinanzierung zur Bewältigung einzelner Gesundheitsaufgaben, müsste es eine dauerhafte Finanzierungssicherheit für Länder geben, die aus eigenen Mitteln eine solche soziale Infrastruktur nicht aufbauen können.
Bei den Präventions- und Therapiemöglichkeiten von Ebola stößt man unweigerlich an die Frage der Forschungsfinanzierungen für Impfstoffe und Medikamente, die hier im konkreten Fall wieder einmal ihr eklatantes Versagen demonstriert haben. Immer noch beruht der Großteil der medizinischen Forschung auf den finanziellen Gewinnanreizen eines auf Patenten bestehenden Vergütungssystems. Darüber, wie dieses System durchbrochen werden könnte, wird bei der WHO und anderswo seit vielen Jahren gestritten. Echte Reformvorschläge werden bei der WHO von interessierter Seite ausgebremst – zum Beispiel der Versuch, ein Abkommen zu verabschieden, das die Staaten verpflichten würde, feste Beiträge zu einer öffentlichen Forschung bereitzustellen und damit gezielt die Entwicklung von Lösungen für die vernachlässigten Krankheiten anzugehen. Hier agieren viele »Erste-Welt«-Staaten skandalöserweise als fürsorgliche Beschützer »ihrer« privaten Pharmaunternehmen.
Die internationale Institution, die den Auftrag zur Koordination in internationalen Gesundheitskrisen hat, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist zudem durch jahrelange Mittelknappheit gerade in ihrer Katastrophenabteilung stark geschwächt worden. Die finanzstarken Mitgliedsländer haben schon lange ganz überwiegend auf einzelne Projekt- und Programmfinanzierung umgestellt, um mehr Einfluss auf die Arbeitsebene der WHO zu nehmen.
Auch hier ist weiterhin Druck von außen nötig, um in den aktuell laufenden Reformprozessen der WHO eine größere Unabhängigkeit gegenüber ihren eigenen Gebern zu erreichen und zugleich eine kritische Distanz zu wahren, um die Einflussnahme von korporativen Interessen (etwa der Pharma- und Nahrungsmittelindustrie oder großer philantrokapitalistischer Akteure wie die Gates Stiftung auf die Urteile und Arbeitsebenen der WHO) zu minimieren bzw. zu denunzieren.
* Andreas Wulf ist Arzt, Mitglied des erweiterten Vorstands des vdää und arbeitet bei medico international in Frankfurt/M.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft I, 3/2014)