Gefahr für die Gesundheitssysteme im Süden
Heino Güllemann* zu den Auswirkungen des Exports des deutschen Pflegenotstandes
Heino Gülleman stellt die Verbindung her zwischen hausgemachtem Pflegenotstand in Deutschland und internationalen Migrationsbewegungen und kommt zu dem Schluss, dass attraktive Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege in Deutschland langfristig auch ein wertvoller entwicklungspolitischer Beitrag zur Stabilisierung von Gesundheitssystemen im Süden sind.
Ausgebildete Gesundheitsfachkräfte sind weltweit knapp. Nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) fehlen allein in den Gesundheitssystemen der unterversorgten Länder über sieben Millionen Fachkräfte – und das um nur die allernotwendigste Versorgung anbieten zu können. Rund die Hälfte dieser Fachkräfte fehlt allein in Süd-Ost-Asien, wo ein Viertel der Weltbevölkerung lebt.
Die globalen Ungleichheiten bei der Versorgung mit Gesundheitsfachkräften sind schon lange Thema auf der internationalen Agenda. Mit dem World Health Report der WHO aus dem Jahre 2006 begann eine intensive internationale Debatte zu diesem Thema und führte schließlich im Jahre 2010 zum »WHO-Verhaltenskodex zur internationalen Rekrutierung von Gesundheitspersonal«. Dieser Kodex wurde auf der Weltgesundheitsversammlung 2010 von allen Mitgliedsländern der Vereinten Nationen und damit auch von Deutschland verabschiedet. Der Kodex fordert die Staaten in erster Linie dazu auf, einen nachhaltigen einheimischen Personalbestand an Gesundheitsfachkräften aufzubauen und zu halten. Erst in zweiter Linie, und nur für den Fall dass diese Versuche erfolglos bleiben, etabliert er auch Verfahren zur behutsamen grenzüberschreitenden Rekrutierung von Fachkräften.
In Deutschland allerdings wird auf der Suche nach möglichen Wegen aus dem Pflegenotstand die internationale Anwerbung von Pflegekräften als eine gangbare Option gehandelt. Bundesregierung und Arbeitgeberverbände werben mit zunehmender Intensität Pflegekräfte aus dem Ausland ab. Aus den Ländern der Europäischen Union wird entweder direkt durch die Bundesagentur für Arbeit oder im Rahmen des EURES Netzwerkes (European Employment Services) rekrutiert. Dabei konzentriert die Bundesregierung ihre Aktivitäten insbesondere auf Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Weiterhin bestehen seit Anfang 2013 Vermittlungsabsprachen für Pflegefachkräfte mit den Regierungen von Serbien, Bosnien-Herzegowina, den Philippinen und Tunesien. In Kooperation von Arbeitgeberverband Pflege (AGVP) und der Bundesagentur für Arbeit und werden auch aus China Pflegefachkräfte abgeworben. Die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) wirbt im Auftrag des Wirtschaftsministeriums um Pfleger aus Vietnam und von den Philippinen.
Weiterhin ist zu beobachten, wie die Barrieren gegen die Einwanderung, die seit dem Anwerbestopp für Gastarbeiter in der BRD im Jahre 1973 errichtet wurden, plötzlich wieder fallen, wenn es um Pflegekräfte geht. So können medizinische Fachkräfte Dank einer Novelle der Beschäftigungsverordnung nicht nur aus EU-Staaten sondern seit Juli 2013 auch von außerhalb der EU – aus den sogenannten Drittstaaten – problemlos nach Deutschland einreisen, sofern sie die Berufsanerkennung durchlaufen.
Doch die Anwerbung auf Basis bilateraler Regierungsabkommen und aus Drittstaaten hat derzeit noch einen vergleichsweise geringen Umfang. Seit der Novelle der Beschäftigungsverordnung sind nicht mehr als einige Hundert Pflegekräfte auf diesem Weg eingereist und auch die Zahl der im Auftrag des Wirtschaftsministeriums »amtlich« angeworbenen Pflegekräfte erreicht noch nicht die Tausend. Es handelt sich bei der regierungsamtlichen Abwerbepraxis derzeit um Versuchsballons mit Modellcharakter, um Erfahrungen mit einer Öffnung der Grenzen für diese Berufsgruppen zu sammeln.
Weit dramatischer ist die Entwicklung und viel höher sind die Zahlen bei der ungesteuerten und spontanen Migration aus osteuropäischen EU-Staaten, gerade wenn es um pflegerische Arbeiten in Privathaushalten geht. Je nach Quelle liegen die Schätzungen zwischen ein- und vierhunderttausend Arbeitskräften aus Osteuropa, die derzeit in der Pflege in deutschen Privathaushalten tätig sind. Die Gesundheitssysteme in Polen, Rumänien und Bulgarien stehen angesichts dieses Exodus vor ernsten Herausforderungen. Bislang hat sich die EU noch nicht entscheiden können, ob und wie diesem Problem beizukommen ist, obgleich ein Instrumentarium über die EU-Kohäsionspolitik und die Strukturhilfefonds schon bereit stünde.
Als weitere Hürden für die deutschen Anwerbeambitionen haben sich nun auch die unterschiedlichen Ausbildungswege in der Krankenpflege herausgestellt. Deutschland und Österreich sind fast die einzigen Länder weltweit, in denen die Pflegekräfte eine Berufsausbildung und kein Hochschulstudium mit Bachelor- bzw. Masterabschluss durchlaufen. Vor diesem Hintergrund werden die Frustrationen beispielsweise der spanischen Pfleger in Deutschland erst verständlich. Ebenso die zornigen Ausbrüche von Máximo González Jurado, dem Präsidenten des spanischen Pflegerates, der beklagt, dass die Migration von Pflegekräften nach Deutschland ohnehin eine Subvention des deutschen Gesundheitssystems darstelle und die Pflegekräfte dann auch noch weit unter ihrer Qualifikation eingesetzt würden, um »Hintern abzuwischen!«
Angesichts dieser Schwierigkeiten greifen einige Arbeitgeber bei der Anwerbung von ausländischen Pflegekräften auch zu unlauteren Praktiken, um sie unter diesen Bedingungen überhaupt zu halten. So ließ die in Bayern und Berlin ansässige GIP Gesellschaft für medizinische Intensivpflege mbH ihre über EU-Programme und das Bundesamt für Migration aus Spanien rekrutierten spanischen Pflegekräfte Knebelverträge unterschreiben: Sollte ein Arbeitnehmer vor Ablauf von 18 Monaten kündigen, so werden ihm mehre tausend Euro Schadenersatz für die Anwerbungskosten in Rechnung gestellt. Gegen diese Formen moderner Schuldknechtschaft geht derzeit der ver.di Landesverband Berlin-Brandenburg vor.
Derartige Beispiele stammen vorrangig aus dem Privatsektor und sind derzeit politisch nicht gewünscht. Ganz im Gegenteil ist die Bundesregierung in ihren Programmen zur Rekrutierung aus Drittstaaten offensichtlich darum bemüht, die Abwerbung von Gesundheitsfachkräften auch für die Migranten und die Herkunftsländer ausgesprochen sozialverträglich zu gestalten. So ist laut Beschäftigungsverordnung seit November 2013 eine Abwerbung aus einem der 57 Länder, die laut WHO selber unter einem krisenhaften Mangel an Gesundheitsfachkräften leiden, eine Ordnungswidrigkeit. Das kann eine deutsche Agentur, die beispielsweise aus Kenia oder Indien abwirbt, schnell bis zu 30 000 Euro kosten. Und die Kosten für Vorbereitung und Sprachkurse werden auch nicht auf die Arbeitnehmer abgewälzt. Im Bundeswirtschaftsministerium spricht man dann auch von den »Anwerbeprogrammen mit Goldrand«. Dass diese Formen grenzüberschreitender Rekrutierung allerdings auf Dauer auch zu teuer sind und dass mittelfristig doch der Privatsektor die Initiative übernehmen soll, das wird im Wirtschaftsministerium ebenso deutlich gesagt.
Wie man es auch dreht und wendet: Die aufkommende globale Konkurrenz um Gesundheitsfachkräfte droht die mühsam errungenen gesundheitlichen Fortschritte im globalen Süden wieder zunichte zu machen. Die Folgen sind absehbar. Der direkte Zusammenhang zwischen der Anzahl von Gesundheitsfachkräften und der Kindersterblichkeit ist empirisch belegt. In unterversorgten Ländern senkt beispielsweise ein zusätzlicher Arzt auf 1 000 Einwohner die Kindersterblichkeit mittelfristig um 15 Prozent und langfristig um 45 Prozent. Bekannt ist aber auch, dass es vor allem die Krankenpfleger sind und weniger die Ärzte, die in den Ländern des Südens den größten Einfluss auf die Gesundheit der ärmeren Bevölkerungsschichten haben. Einer Studie aus Brasilien zufolge hat die Fachkräftedichte bei Krankenpflegern einen um 60 Prozent höheren Einfluss auf die Säuglingssterblichkeit als die der Ärzte.
Auch die weitgehend ungehinderte Ausbreitung von Ebola in Westafrika ist auf den Mangel an Gesundheitspersonal zurückzuführen. Die WHO-Statistiken sprechen eine Sprache, die klarer nicht sein könnte: In Liberia versorgte vor Ausbruch der Epidemie ein einziger Arzt 100 000 Menschen. Das ist in den WHO-Statistiken der letzte Platz. Die Kapazität an ärztlicher Versorgung ist in Sierra Leone und Guinea nicht viel besser. Aus allen drei Ländern wandern zudem in großer Zahl einheimische Ärzte ab, vornehmlich in die reichen Länder des Nordens. Sierra Leone und Liberia gehören zu den fünf afrikanischen Ländern, die über die Abwanderung mehr als 50 Prozent ihrer im Land ausgebildeten Ärzte verlieren. Gesundheitssysteme sind hier, zumal in den ländlichen Gebieten, nahezu inexistent. Im Bereich Müttersterblichkeit – ein recht zuverlässiger Indikator für die Stärke von Gesundheitssystemen – liegen alle drei Länder an der Weltspitze. Sierra Leone hat sogar die höchste Müttersterblichkeit weltweit. Und just in diesem weltweit am schlechtesten versorgten Dreiländereck trat im Dezember 2013 Ebola auf. Seither konnte sich die tödliche Krankheit in alle Richtungen ausbreiten. Wer hätte sie auch daran hindern sollen?
Allerdings wirbt die Bundesregierung keine Pflegekräfte aus Westafrika ab sondern aus Ländern wie Vietnam, Tunesien oder China.
Der unumgängliche demografische Wandel ist dabei das offizielle Hauptargument für die deutsche Abwerbepraxis. Das Argument hält aber einer genaueren Betrachtung nicht stand: Die prognostizierte rapide Alterung der Gesellschaft wird erst in einigen Jahren zu den befürchteten Effekten führen. Derzeit sind die »Babyboomer« der Jahrgänge 1955–1968 noch im Arbeitsmarkt und werden erst ab ca. 2020 in Rente gehen, was dann in der Tat zu großen Herausforderungen führen wird. Die dramatische Unterversorgung in der Pflege ist aber heute schon spürbar und hat andere hausgemachte Ursachen.
Die Prognosen der WHO legen es nahe, auch unter den Bedingungen eines kommenden demografischen Wandels, nicht in erster Linie auf die Abwerbung aus dem Ausland zu setzten: Auch im Jahre 2035 wird der größte Mangel an Pflegekräften in Süd-Ost-Asien und in Afrika herrschen, während die Situation in Europa eher stabil bleibt. Und in Vietnam, wo die GIZ derzeit mit der Rekrutierung von Pflegekräften gerade in die zweite Runde geht, liegt die durchschnittliche Deckungsrate mit Gesundheitsfachkräften heute um mehr als das zehnfache unter dem Wert in Deutschland.
Anstatt den demografischen Wandel als One-Size-Fits-All Argument zu missbrauchen, wäre die deutsche Politik gut beraten anzuerkennen, dass der heutige »Pflegenotstand« größtenteils hausgemacht ist. Er resultiert aus den immer schlechteren Arbeitsbedingungen und der hohen Arbeitsverdichtung in der Pflege. Wer nun dafür wirbt, diese Lücken über grenzüberschreitende Abwerbemaßnahmen nun mit Migranten zu schließen, der exportiert den Pflegenotstand und das deutsche Politikversagen in diesem Bereich noch in den Osten und den Süden. Stattdessen müssen die Pflegeberufe in Deutschland dringend attraktiver werden. In dem auch von Deutschland angenommenen Verhaltenskodex der WHO heißt es: »Die Mitgliedsstaaten sollten sich soweit wie möglich bemühen, einen nachhaltigen Personalbestand im Gesundheitswesen aufzubauen […], wodurch sich ihr Bedarf an einer Anwerbung zuwandernder Gesundheitsfachkräfte verringert.«
Attraktive Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege sind eben nicht nur für die Patienten und die Pflegekräfte in den deutschen Krankenhäusern von höchster Dringlichkeit. Langfristig sind sie auch ein wertvoller entwicklungspolitischer Beitrag zur Stabilisierung von Gesundheitssystemen im Süden.
* Heino Güllemann ist seit vielen Jahren in der Entwicklungshilfe tätig. Seit April 2013 betreut er bei terre des hommes Deutschland e.V. das Projekt »Gesundheitsfachkräfte für alle« (www.healthworkers4all.eu)
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft I, 3/2014)