Dialog statt Delegation
Harald Kamps* über 25 Jahre ärztliche Tätigkeit in Norwegen
Harald Kamps arbeitete seit 1982 auf einer Halbinsel nördlich von Trondheim in Norwegen als Hausarzt. Ein paar Jahre zuvor hatte er nach dem Medizinstudium in Deutschland seine Ausbildung als Arzt in Norwegen beendet, mit einem, auch für norwegische Ärzte, verpflichtenden Jahr im Krankenhaus und einem per Losentscheid verteilten Platz in einer Allgemeinarztpraxis.
Bei einer Stelle in einer Anästhesieabteilung in einer Klinik am Niederrhein erlebte ich, wie unkompliziert die Zusammenarbeit zwischen Pflegenden und ÄrztInnen sein kann. Jeder trug mit seinen Erfahrungen zu einem Gelingen der oft sehr komplexen Behandlungsverläufe bei und ich erkannte schnell, dass ich nur den erfahrenen KrankenpflegerInnen zuzuschauen brauchte, wenn ich etwas lernen wollte.
Als Landarzt in der Praxis
Und so war es dann auch in der Hausarztpraxis in Norwegen. Vier Ärzte, drei Krankenpflegerinnen und eine Sekretärin meisterten gemeinsam den Alltag in einer Gemeinde mit 5 000 Einwohnern. Die Aufgaben wurden so verteilt, dass jeder das machte, was er oder sie am besten konnte: Für die Wundversorgung oder Impfungen waren zum Beispiel die Pflegerinnen verantwortlich, die die Ärzte nur selten um Rat fragen mussten.
Noch deutlicher wurde die Arbeitsverteilung in der Hauskrankenpflege: Alle BürgerInnen, die die Dienste der kommunalen Hauskrankenpflege (kostenlos) in Anspruch nehmen wollten, wandten sich direkt an die Leiterin, die entschied, ob Bedarf bestand oder nicht. Ob häusliche Krankenpflege nötig war, konnte auch von den Pflegekräften des Krankenhauses gemeldet werden, gerne einige Tage vor einer geplanten Krankenhausentlassung. Einmal in der Woche setzten sich einer der Ärzte der Praxis und das Team der Hauskrankenpflege zusammen, um gemeinsam offene Fragen zu klären oder um Hausbesuche der Ärzte zu vereinbaren. Die ambulante häusliche Pflege arbeitete also nicht auf Delegation der Ärzte, sondern eigenverantwortlich.
In den 15 Jahren, in denen ich Landarzt dieser Gemeinde war, habe ich keine Verordnungen für Medikamentengabe ausgefüllt, kein An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen verordnet und die Wundversorgung nur dann kommentiert, wenn es um eine bessere Behandlung des Diabetes oder der Durchblutung ging. Auf die klinische Kompetenz der Pflegenden konnte man sich verlassen – auch sie nahmen regelmäßig an kommunalen und überregionalen Fortbildungen teil, oft auch gemeinsam mit den Ärzten.
Weniger stationär – mehr ambulant
Im Team der Hauskrankenpflege arbeiteten auch PflegerInnen und »HilfspflegerInnen« mit einer psychiatrischen Fortbildung. In der Gemeinde lebten viele Menschen mit chronischen psychiatrischen Erkrankungen oder Suchtproblemen, die in Deutschland damals noch in den psychiatrischen Landeskliniken behandelt wurden. In Norwegen waren aber nach italienischem Vorbild die meisten psychiatrischen Kliniken geschlossen worden und in den Universitätskliniken des Landes gab es nur noch Betten für akute Behandlungssituationen. Überhaupt wurden in den 1980er und 1990er Jahren die Krankenhausbetten trotz der Proteste der Lokalbevölkerung drastisch reduziert – mit der Konsequenz, dass kompetente Fachkräfte in die ambulante Pflege gingen und man sich in den Gemeinden um kreative Lösungen bemühte, um PatientInnen, die früher im Krankenhaus behandelt wurden, eine angemessene Behandlung und Betreuung zu ermöglichen.
So gab es auch für das Pflegeheim der Gemeinde neue Aufgaben. Eine/r der ÄrztInnen war einen Tag pro Woche dort und koordinierte gemeinsam mit dem Pflegepersonal die Behandlung. Die pflegerischen Aufgaben – dazu gehörten auch Blutentnahmen, intravenöse Flüssigkeitsgabe bei akut kranken Menschen oder die Kontrolle der subkutanen Morphinpumpe bei sterbenden Menschen – mussten nur selten besprochen werden, sie waren bereits erledigt. Das Pflegeheim war auch Akutstation für kranke Menschen, denen die weite Reise zum nächstgelegenen Krankenhaus in Trondheim nicht zuzumuten war: Sehr alte Menschen mit Verdacht auf einen Herzinfarkt, einem entgleisten Diabetes oder einer schweren Durchfallerkrankung mussten also nicht zwei Stunden im Krankenwagen liegen, sondern konnten von einem Pflegeteam, das ähnlich kompetent war wie das im Krankenhaus, in der bekannten Umgebung behandelt werden. Und bei Fragen wurden die KollegInnen im Krankenhaus angerufen.
Modell: Gesundheitsschwester
Eine weitere Besonderheit der Pflege in Norwegen ist die Weiterbildung zur »Gesundheitsschwester«. Bereits in den 1950er Jahren hatte der norwegische »Hausfrauenverbund« die Initiative für diese Weiterbildung ergriffen und auch die ersten Ausbildungen finanziert. In allen Gemeinden wurden eigenständige »Gesundheitsstationen« gebildet, in denen beispielsweise Frauen während der Schwangerschaft betreut werden. Die Gesundheitsschwester kommt dann zum Hausbesuch kurz nach der Geburt, später übernimmt sie die Betreuung der Kinder bei Vorsorgeterminen und Impfungen. Bei einigen Terminen ist auch ein Arzt anwesend, der alle Kinder untersucht – besonders aber die, bei denen die Gesundheitsschwester Sorgen hat. In unserer Gemeinde hatten wir auch eine Zusammenarbeit mit einem an der regionalen Universitätsklinik arbeitenden Kinderneurologen, der einmal im Monat kam, um mit der Schwester und dem Arzt unklare »Fälle« zu untersuchen. Die Gesundheitsschwester gehört auch dem Kinderschutzteam der Gemeinde an. Zudem hat sie Aufgaben des öffentlichen Gesundheitswesens – zum Beispiel die Begutachtung der Hygiene von Campingplätzen und die Beteiligung an kommunalen politischen Entscheidungen, etwa bei Fragen der Umwelthygiene. Nachdem die Funktion als Schulkrankenschwester durch eine engere Zusammenarbeit mit den LehrerInnen abgelöst wurde, bietet sie nun spezielle Sprechstunden für Jugendliche an, insbesondere zum Thema Verhütung. Um diese Beratung unkompliziert zu gestalten, bekam die Gesundheitsschwester das Recht, ein zwei Jahre gültiges Rezept für die »Pille« auszustellen.
Ein sehr spezielles Land
Wäre all das auch in Deutschland möglich? Um Norwegen zu verstehen, muss man wissen, dass zwar ein Viertel der fünf Millionen Einwohner in und um Oslo wohnen, die anderen aber sehr verstreut im Land oder an der 25 000 Kilometer langen Küste. Es ist ein traditionell sozialdemokratisches Land (egal welche Partei gerade die Regierung stellt) mit einem politisch gesteuerten und über Steuermittel finanzierten Gesundheitswesen. Neue medizinische Angebote werden erst dann umgesetzt, wenn man sie auch allen BürgerInnen anbieten kann. Es ist ein Land mit flachen Hierarchien, im Alltag herrscht das »Du« – zwischen Arzt und Patient, auch zwischen Chefarzt und Pfleger.
Norwegen war immer ein armes Land, mit mühsamer Landwirtschaft und gefährlicher Fischerei. Erst seit dem Ölboom der 1970er Jahre hat es sich zu einem der reichsten Länder der Welt gemausert. Trotzdem ist es immer noch verpönt, seinen Reichtum zu zeigen, und starke Gewerkschaften sorgen dafür, dass die Einkommensunterschiede nicht zu groß werden. Die Einkommensverhältnisse sind zu dem sehr transparent – jeden Herbst werden die Einkommenssteuererklärungen aller Bürger veröffentlicht und sind für jedermann einsehbar. Der norwegische Verband der Pflegekräfte hat Tarifrecht und ist eine starke Gewerkschaft. Pflegende genießen ein hohes Ansehen und verdienen recht gut. Bei internationalen Vergleichen belegen sie Spitzenplätze, wenn es um die Zufriedenheit mit dem eigenen Beruf geht. Das hohe Ansehen ist im Wesentlichen in der hohen Kompetenz begründet – auch im Krankenhaus übernehmen sie oft Aufgaben, die in Deutschland von ÄrztInnen ausgeführt werden. Zudem werden sie von Aufgaben entlastet, die andere besser können: Jede Station hat zum Beispiel eine eigene Schreibkraft und jemanden, der das Essen austeilt. Sie haben einfach mehr Zeit, sich direkt um die PatientInnen zu kümmern, denn auch der Pflegeschlüssel ist deutlich besser als in anderen vergleichbaren Ländern.
Mehr Geld ist nicht die Lösung
Dabei gibt Norwegen verglichen mit anderen Ländern prozentual deutlich weniger des im Lande erwirtschafteten Geldes für das Gesundheitswesen aus. An Rufen nach »mehr Geld« für die Gesundheit hat es nicht gemangelt. Lange Zeit gab es aber einen politischen Konsens, dass der Reichtum entweder für Zeiten gespart werden soll, wenn die Ölreserven verbraucht sind, oder dass sich mehr Geld eher in der Bildung und im Kulturbereich »lohnt«: Denn der Bürgermeister ist wichtiger für die Gesundheit des Dorfes als der Arzt. Führende Plätze auf den Statistiken zur Lebenserwartung sind ein Indiz für die Richtigkeit dieser Behauptung.
Bezahlt wird diese »Sparpolitik« mit langen Wartezeiten für geplante Operationen oder für ambulante fachärztliche Leistungen. Auf einen Termin beim Neurologen kann man monatelang warten, auf einen Termin für eine notwendige Operation der Hüfte auch bis zu einem Jahr. Dafür brauchen die PatientInnen aber auch nicht befürchten, dass man ihnen einen Eingriff vorschlägt, der mehr dem Arzt als dem Patienten nützt. Für die Akteure im Gesundheitswesen gibt es keinen finanziellen Anreiz zur Mengenausweitung, die Ressourcen werden nach politischen Entscheidungen verteilt. Solche Entscheidungen können auch mal unnötig langsam sein. Um sich als Berufsgruppe Gehör zu verschaffen, braucht es für die Pflegekräfte in Norwegen keine Pflegekammer. Sie sind eine wichtige Wählergruppe und haben in ihrer Gewerkschaft einen politisch erfahrenen und international gut vernetzten Partner. Die Mitgliedschaft im Verband der KrankenpflegerInnen ist nicht verpflichtend – der Organisationsgrad ist aber sehr hoch. Die Mitgliedschaft kostet 1,45 Prozent des Bruttogehaltes.
Akademische Ausbildung in der Pflege
Die Aufsicht über die Ausbildung und Fort- und Weiterbildung ist ebenfalls in öffentlicher Hand. Die Grundausbildung zum Krankenpfleger setzt eine 13-jährige Schulbildung voraus. Alle norwegischen Kinder gehen zehn Jahre lang in dieselbe Schule und entscheiden sich dann für eine dreijährige weiterführende Schule. Diese kann allgemeinbildend sein (vergleichbar mit dem Abitur) oder auch bereits berufsqualifizierend. Mit beiden Abschlüssen steht der Weg offen, an eine Hochschule für Pflegewissenschaft zu gehen. Diese Schulen haben meist auch Studiengänge für Physio- und Ergotherapeuten und bieten Weiterbildungen zur Geburtshilfe oder zur »Gesundheitsschwester« an. Die Studiengänge sind meist dreijährig, die Weiterbildungen dauern etwa ein Jahr. Sie sind in den letzten Jahrzehnten von steigender akademischer Qualität und auch die Zahl der promovierenden Pflegenden nimmt zu. Die Motivation für einen pflegewissenschaftlichen Doktorgrad besteht dann, wenn eine akademische Berufspraxis angestrebt wird – das gilt im Übrigen auch für ÄrztInnen, von denen etwa fünf Prozent eine Doktorarbeit schreiben, die dem Standard anderer akademischer Promotionen entspricht. Befürchtungen, dass akademisch ausgebildete Pflegende nicht motiviert sind, in der direkten Krankenpflege zu arbeiten, haben sich nicht bewahrheitet. Eher ist der fachliche Dialog zwischen ÄrztInnen und Pflegenden gestärkt worden, auch wenn gemeinsame Studienabschnitte noch selten sind.
Auch wenn es sehr lange dauert, wirklich Gehör zu finden, zeigen die Erfahrungen aus Norwegen, dass man die Kräfte auf das Wichtige konzentrieren muss: auf die tägliche fachliche Arbeit, um zu zeigen, welche gute Arbeit geleistet wird, auf die man stolz sein kann, und darauf über eine starke Gewerkschaft ein angemessenes Gehalt und angemessene Arbeitsbedingungen zu fordern. Fast 25 Jahre in Norwegen haben mich gelehrt, dass nicht Delegation, sondern Dialog die spannendere, bessere Versorgung ausmacht, mit der sowohl Pflegende und ÄrztInnen als auch PatientInnen zufrieden sind.
*Harald Kamps ist Facharzt für Allgemeinmedizin und Facharzt für Öffentliches Gesundheitswesen. Er ist seit 2002 als Hausarzt in Berlin tätig. www.praxiskamps.de
(Es handelt sich hier um einen leicht gekürzten Artikel aus Dr. med. Mabuse, Nr. 211, September/Oktober 2014)
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Pflege und Ökonomisierung - Heft I, 3/2014