Im Kampf gegen die Privatisierung des NHS
»Unite the Union« in Vorbereitung auf die Entscheidungsschlacht – Von Peter Hoffmann*
vdää on tour war quasi zur Halbzeit der Auseinandersetzung in London. Mit dem »Health and Social Care Act« setzten Tories und LibDems ihre neoliberale Agenda der Privatisierung des NHS vor einem Jahr in Bewegung. Seither steigt der Anteil privater Anbieter von Gesundheitsleistungen immer schneller an. Für die führenden Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter von Unite, mit denen wir Gelegenheit zur Diskussion hatten, war die Situation klar: Die Unterhauswahlen in einem Jahr entscheidend: »There is one commitment for the whole of Unite: to ensure to roll back what was created last year.«
Damit waren wir schon mitten in der Debatte. Würde eine Labour-Regierung den NHS als bedarfsorientiertes staatliches Gesundheitswesen wiederherstellen oder auf dem Weg der Privatisierung bleiben?
Die Labour-Partei hatte in Zeiten der Prosperität den NHS mit erheblichen zusätzlichen Finanzmitteln ausgestattet, den Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt auf das Niveau von Frankreich und Deutschland angehoben und damit 2010 die höchste Patientenzufriedenheit mit den Leistungen des NHS im Zeitvergleich erreicht (»the NHS is like a national religion«). Gesundheit war 2010 kein Feld der politischen Auseinandersetzung und die Tories waren gut beraten, die Öffentlichkeit im Wahlkampf über ihre wahren Absichten im Unklaren zu lassen. Sie gaben vor, keine Veränderungen zu planen.
Aufgrund der relativ hohen Zufriedenheit von Patientinnen und Patienten und auch des Personals löste der von der Labour-Regierung eingeleitete Paradigmenwechsel hin zu Ökonomisierung und Privatisierung keine wesentliche politische Auseinandersetzung aus. Mit dem Purchaser-provider split war ein Einkaufsmodell etabliert worden, das Pakete von Gesundheitsdienstleistungen auf dem Wege eines Bieterverfahrens an sog. qualifizierte Dienstleister vergibt, egal ob sie non-profit-Organisation sind oder profitorientierte Privatunternehmen. Damit wurde nach Außen hin der NHS England (nicht betroffen: Wales und Schottland) als staatliche Struktur und »Label« erhalten, in seinem Kern aber verdeckt ausgehöhlt.
Sechs Wochen nach ihrem Wahlsieg zog die liberal-konservative Regierung ihre Blaupause zur Privatisierung aus der Schublade. In der Öffentlichkeit wurde eine vorgebliche Befreiung von staatlichen Reglementierungen (»Liberating NHS«) und Wahlfreiheit für die Patientinnen und Patienten (»Patient choice«) propagiert. Hinter dieser Fassade wurden aber die Weichen gestellt für eine Marktverfassung des NHS. Die staatliche Bedarfsplanung und Gesamtverantwortung für die Sicherstellung der Versorgung mittels 56 primary care trusts, die wegen regional unterschiedlicher Versorgungsqualität in der Kritik standen (»post code lottery«) wurden nicht etwa optimiert sondern faktisch abgeschafft. »Community health Councils«, die in der Bedarfsplanung mit dem Instrument der »formal consultation« tatsächliche Entscheidungsbefugnisse über lokale Strukturen der Gesundheitsversorgung hatten, wurden zugunsten von »Health Watch« mit lediglich beratender Funktion abgeschafft.
Stattdessen wurden drei Milliarden Pfund für die Einführung einer fragmentierten Struktur verschwendet, die den Überblick über Gleichmäßigkeit und Qualität der Versorgung verschleiert. Die Regierung entscheidet über dir Höhe des Gesamtbudgets, aktuell 95 Milliarden Pfund; 211 lokale Clinical Commissioning Groups (CCGs) erhalten aktuell insgesamt 65 Milliarden Pfund und vergeben Geld und Aufträge an (hoffentlich) qualifizierte Anbieter. Bei dieser schwierigen Aufgabe werden die CCGs von »Clinical Commissioning Support Unions« unterstützt. Interessant und auch beunruhigend: Auch diese Struktur soll 2016 privatisiert werden. Ökonomisierung pur bringt ein zunehmend lückenloses Netzwerk von Abhängigkeiten und profitable Betätigungsfelder für Unternehmensberatungen und Konzerne. Für das unvermeidliche Chaos kann die ärztliche Leitung der CCGs verantwortlich gemacht werden, jeder Skandal wird zum Einzelfall erklärt, die zugrundeliegende Struktur bleibt im Verborgenen. Dass in den Krankenwagen in Yorkshire mitunter kein qualifizierter Paramedic mehr an Bord war: ein Einzelfall!
Es nimmt also nicht Wunder, dass Unite, als größte Gewerkschaft im Gesundheitsbereich, angesichts der Radikalität der geplanten Umwälzung und angesichts des Tempos bei der Umsetzung die nächstjährigen Unterhauswahlen als die finale Schlacht bewertet, auf die sich bereits jetzt alle Kräfte konzentrieren.
Jeder neue Auftrag an einen privaten Gesundheitsdienstleister zementiert die Privatisierung weiter und erzeugt neue dramatische Wirkungen – Beispiel Krankenhausinvestitionen: Wie auch in Deutschland bestand in England ein enormer Investitionsstau mit maroden Krankenhäusern. Mit dem Konzept der »Private Finance Initiative« (PFI) sollte statt der benötigten öffentlichen Geldmittel privates Kapital für den Krankenhausbau einspringen. Das private Kapital ließ sich sein Entgegenkommen beim Bau privater Krankenhäuser mit Verträgen mit dreißigjähriger Laufzeit und Garantiegewinnen belohnen. Die Erfüllung dieser Verträge verschlingt nun aber so hohe Budgetanteile, dass zum Ausgleich andere, öffentliche bedarfsnotwendige Krankenhäuser geschlossen wurden bzw. geschlossen werden sollen. Diese Pläne sind Gegenstand intensiver lokaler Kämpfe (»Keep Our NHS Public«).
Privatisierte Institutionen spalten die Beschäftigten in zwei Klassen: Übergeleitete werden zu den Konditionen der »single pay structure« des NHS weiterbeschäftigt, neu Eingestellte unter verschlechterten Bedingungen bis zum Mindestlohn.
Werden die lokalen Kämpfe die Gesundheitspolitik auf der politischen Agenda nach oben bringen, wird aus der Privatisierung des NHS ein nationaler Skandal, kommt es zum Regierungswechsel im nächsten Jahr? Und – »Labour is on the Journey« – stimmt es wirklich, dass sich die gespaltene Labour-Party vom Konzept der Marktverfassung des Gesundheitswesens distanziert und Health and Social Care als eng miteinander verwobene Felder der Daseinsfürsorge begreift und ernst nimmt?
Können wir in diesen Kämpfen wenigstens auf uns selbst vertrauen? Die Kolleginnen und Kollegen von Unite haben uns erklärt, dass sie in ihren Kampagnen ausschließlich aus dem Blickwinkel der Gefährdung der Patientinnen und Patienten und mit deren Anrecht auf eine qualitativ hochwertige Versorgung argumentieren. Von amerikanischen Gewerkschaften hätten sie gelernt, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen aus ihrer tiefverwurzelten Verpflichtung gegenüber ihren Patientinnen und Patienten niemals für sich selbst kämpfen.
Im Interesse einer Reorganisation des NHS hoffen wir, dass die Kolleginnen und Kollegen von Unite the Union erfolgreich sein werden – ob die Hoffnungen, die dabei auf parlamentarischer Ebene auf Labour gesetzt werden, realistisch oder illusionär sind, war unter unseren Kontakten in London kontrovers. Man wird sehen, inwieweit die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der nächsten zwölf Monate den Einfluss der Wirtschaftsliberalen innerhalb Labour zurückdrängen.
* Peter Hoffmann ist Anästhesist in München.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Keep our National Health Service Public, 2/2014)