GbP 2-2014 Jan-Peter Theurich

GP im NHS – der Lotse im System

Jan-Peter Theurich* über eine Diskussion mit dem GP David Wrigley

Auf unserer Reise wollten wir uns auch mit der Rolle der General Practitioners (GP), also der Allgemeinärzte vertraut machen. Wir hatten deshalb einen Termin mit Dr. David Wrigley, einem GP, der in der British Medical Association (BMA) aktiv ist, vereinbart. Im Folgenden geben wir unsere subjektiven Eindrücke dieses Besuchs und seine subjektiven Einschätzungen wider. Dr. Wrigley ist GP auf dem Lande, weit außerhalb von London. Die Probleme in der Großstadt könnten sich auch anders darstellen.

 

Nein, nicht die Queen öffnete uns die Tür, sondern es sah nur recht palastartig aus hier im BMA-House1 in London, unserem Treffpunkt mit David.
Die Großmutter der Queen hatte dieses Haus, wogegen Ärztekammerhäuser wie bescheidene Hütten anmuten, wirklich 1925 eröffnet. Das Treffen hätte auch in einer GP-Praxis spannend sein können, aber wir waren nun mal in London und David als Mitglied des UK GP Committee der BMA gerade hier.
Der inhaltliche Zusammenhang von »familiy doctor« und »BMA-doctors trade union« erschloss sich nicht spontan. Der Referent betonte initial, dass die BMA nicht politisch motiviert sei, zwar die Bewegung »Keep Our NHS Public« unterstütze, aber »a little bit slow in fighting« sei. Im Gegensatz zu den deutschen Ärztekammern ist die BMA keine Zwangsorganisation, sondern ein freiwilliger Zusammenschluss der Ärzteschaft.
Die politisch der Labour Party Nahestehenden seien eher in der Gewerkschaft (UNITED) aktiv.
Die BMA kümmert sich um Verbesserungen im NHS und setzt Programme zur Patientenbeteiligung und verbesserten organisatorischen und inhaltlichen Standards auf. In einer Kammer (97 Sitze) werden allgemeine ärztliche Positionen für 150 000 Mitglieder beschlossen.
Ziel unseres Treffens war es jedoch, etwas über die Arbeit der GPs in Großbritannien zu erfahren. Es gibt im Land derzeit ca. 40 000 GPs, die im NHS die Primärversorgung übernehmen, das heißt, sie sind die erste Anlaufstelle für die Bürger. Diese schreiben sich jeweils bei einem Arzt einer übergeordneten Einheit, Clinical Commissioning Group (CCG), ein und sind für mindestens ein Jahr an diese Wahl gebunden. Die CCGs sind eine Neuerung des Social Care Acts von 2012, der die letzte Runde zur Privatisierung des NHS einläutete. Am Empfang wird jeder Patient einem bestimmten Arzt zugeteilt; ein Recht auf freie Arztwahl ist nicht vorgesehen. Ein sog. »Recht auf Zweitmeinung« gibt es ebenfalls nicht.
Die lokalen GPs wählen die Zusammensetzung der CCGs. Der GP hat eine konsequente »Lotsen- oder Gatekeeperfunktion«, was bedeutet, dass ohne ihn ein unmittelbarer Zugang zur stationären oder spezialärztlichen Behandlung nicht möglich ist. Dies wird heute erstmals durch private Zusatzversicherungen aufgeweicht und es gibt ganze Traktate, was kompatibel ist (z.B. Notallversorgung durch NHS nach privater ambulanter OP) und was nicht (z.B. NHS-Leistung einer Katarakt-OP, oder Einsetzen einer privat berechneten Speziallinse). Die CCGs kaufen medizinisches Material oder medizinische Leistungen ein. Diese Leistungen können auch von privaten Anbietern erbracht werden.
Seit der Gründung des NHS 1948 waren die GPs in Gemeinschaftspraxen oder Ärztezentren immer selbstständige Unternehmer, während die Consultants (Fach- u. Spezialärzte) Angestellte des NHS waren; allerdings wurde dieser Untergruppe schon seit Jahren erlaubt, nebenbei Privatpraxen zu führen (im Jahr 2009 waren schon, vergleichbar mit Deutschland, zehn Prozent der Engländer privat versichert). David Wrigley erlebt seine Rolle als GP und Selbständiger als Freiheit.

Wie werden GPs nun vergütet? Von 1960-1990 gab es ein Festgehalt vom NHS. Heute erfolgt die Vergütung über eine sog. Capitation; d.h. der Arzt erhält eine festgelegte Summe X für jeden eingeschriebenen Versicherten. Im Gegensatz zu unserem System, das den Hausarzt stimuliert, jeden Patienten pro Quartal genau zweimal zu sehen, wenn er chronisch krank ist, erhält der GP für jeden seiner Versicherten eine feste Summe, selbst wenn dieser zu Hause bleibt.
Die Resultante ist ein für unsere Verhältnisse recht hohes Einkommen (z.B. 1 900 Eingeschriebene x 130 £ = 247 000 £/p.a. + Zusatzleistungen wie Impfungen, kl. Chirurgie u.a + »Incentives« = qualitäts- u. Outcome-abhängige »Belohnungen«, wenn z.B. 90 Prozent der von NICE nach risk calculator empfohlene Fettsenker gegeben wurde). Das ergibt ein relativ gutes Einkommen, welches die Wichtigkeit der GP als absolute Lotsen im Gesundheitssystem widerspiegelt.
Derzeit dürfen GPs (und möchten es viele, wegen des Wunsches, das NHS-System zu erhalten, auch nicht) keine Privatpatienten behandeln; diese müssen Privatärzte aufsuchen.
In einer GP Praxis werden an Technik nur angeboten: EKG, peripherer Doppler, kleine Chirurgie, evtl. mit Kryotherapie. Sonografie, Röntgen oder Endoskopie werden grundsätzlich nicht vorgehalten. Die Zahl der Überweisungen zu Fachärzten ist dennoch erstaunlich gering (etwa ein Pa­tient / Woche bei unserem Referenten).
Hierfür mit ursächlich ist die Tatsache, dass die Consultants ausgebucht sind und es Wartezeiten gibt. Unser Referent bezeichnet den Kritikpunkt Wartezeiten am NHS-System als »rubbish« und Propaganda der Liberal-Konservativen. Früher habe es durchaus Wartezeiten bis zu einem Jahr gegeben, heutzutage gäbe es ein »consultant electric booking system«, das Termine in drei bis vier Wochen vergebe; selten (z.B. bei Neurologen) könne es mal zwei Monate dauern; von Wartezeiten über vier Monate habe er noch nie gehört. Zu diesem Thema haben wir verschiedenste Angaben auf Nachfragen andernorts gehört. Sicher scheint zu sein, dass es in den letzten Jahren schneller geworden ist (Verbesserung der Unterversorgung durch neue Stellen im NHS-Plan 2000 durch die Labour Party – eine Erhöhung der Ausgaben für das Gesundheitssystem bzgl. des Bruttosozialprodukts von 6,8 auf über 9 Prozent; d.h. + 7 000 Krankenhausbetten, + 500 neue Arztpraxen + 7 500 neue Arztstellen und + 20 000 Krankenschwestern. Das ist ein deutlich gegenläufiger Trend im Vergleich zum deutschen Gesundheitssystem in dieser Zeit – bei jedoch signifikant anderen Ausgangszahlen). In den letzten Jahren würden die Wartezeiten wieder zunehmen, da das System gerade im Umbruch sei und überall Personal gespart werde, um im erwarteten Wettbewerb eine gute Startposition zu haben. Einen Termin beim GP bekommt man jedoch noch »maximal in einigen Tagen«.
Zur Vermeidung eines Nadelöhrs wurden 2008 für die Versorgung leichterer Erkrankungen sog. NHS-Walk-in-Centers eingerichtet, die man ohne Termin aufsuchen kann und die sieben Tage pro Woche geöffnet sind. Diese sind nicht zu verwechseln mit den »A&E Departments«, die reine Notfallambulanzen darstellen (häufig sog. Trusts, die seit 2004 gewinnorientiert arbeiten dürfen).
Jede Überweisung an einen Facharzt kostet das CCG etwas (jedoch nicht den Einzelnen GP). Daher haben die CCGs im Gegenzug eine Kontrollfunktion; so werden GPs zu Gesprächen über Überweisungshäufigkeit oder Medikamentenverordnungsverhalten geladen. Da es aber eine budgetierte Sub-Unit ist, gibt es auch ein gemeinsames Interesse wirtschaftlich zu arbeiten. So kann z.B. eine CCG beschließen, wenn viele Ärzte wiederholt zu Psychiatern überweisen und dies sehr teuer wird, selbst im CCG einen Psychiater einzustellen, dessen Stelle günstiger ist als die Addition der Konsile.
Die Frage nach der Zeit für den einzelnen Patienten beantwortet Dr. Wrigley mit ca. zehn Minuten ; allerdings gäbe es auch »double appointments«, wenn z.B. mit einem Tumorpatienten längere Gespräche nötig sind. Die Situation der Psychotherapie beschreibt er als »poor«. Psychologen kämen zwar in die Arztpraxis, allerdings gebe es viel zu wenige. In den CCGs werden somit alle regionalen Nöte transparent und Budgetwünsche deutlich, aber außer der Budgetfreiheit bzgl. der Verteilung, für die normalen Patienten gäbe es keine »Nachschläge« oder Risikoausgleiche. Die Finanzierung der CCGs bleibt etwas im Unklaren. Im Sonderfall Karzinompatienten gibt es einen zusätzlichen Topf (»cancer drug fond«).
Die GPs arbeiten ohne Positiv-Liste, aber orientiert an der Sammlung British National Formulary2 und berücksichtigen eine »Blacklist«. Besonders teure Medikamente (z.B. Lucentis bei Makuladegeneration) werden durchaus in den Topf des Krankenhauses »verlagert«. Es gibt aus gleichem Grund ein Spannungsfeld zu den consultants, da die CCGs auch hier Kosten durch Überweisungen »verhindern« können.
Derzeit befindet man sich in Großbritannien in der Implementierungsphase eines sehr umstrittenen elektronischen Datenerfassungssystems, das der Referent als »Diagnoseweitergabesystem« betitelt, das angeblich »no details« aufzeige. Das Gesundheitswesen und die Bevölkerung haben im Gegensatz zu unserem Land eine nur gering ausgeprägte Sensibilität für notwendigen Datenschutz. Der Verkauf von Daten aus diesem nationalen Datensatz ist geplant und soll auch privaten Firmen zur Verfügung stehen. Die Patienten-Chipkarte gibt es noch nicht. Eine Ausweitung dieser Erfassungssysteme ist jedoch von der jetzigen Regierung geplant.
Auf die Frage nach dem Umgang mit »illegal people«, also Menschen ohne Papiere, wird gesagt, dass diese kostenlos behandelt werden, wenn sie eine Adresse angeben.
Die Arbeitszufriedenheit der GPs sei relativ groß, zumal GPs in Großbritannien regelhaft mehr verdienen als Fachärzte, eine gute klinische Ausbildung haben und international Vorreiter auf dem Gebiet der Evidence Based Medicine seien.
Die Zahl der GPs sei »pretty stable«. Ein bei uns typisches Stadt / Land-Gefälle gebe es nicht. Ob man sich denn leicht als GP niederlassen könne? Dies ginge theoretisch schon und ohne Niederlassungssperre, lächelt der Referent süffisant, aber die Einwohner seien eigentlich schon vollständig auf die Ärzte verteilt.
Wo geht es lang in Zukunft? Es besteht eine relative Einigkeit, dass das NHS durch die liberal-konservative Regierung und deren Öffnungsabsichten für die Privatwirtschaft gefährdet ist. Ob nach einem nicht sehr wahrscheinlichen Wahlsieg von Labour allerdings wieder zum klassischen, staatlich organisierten und finanzierten NHS zurückgekehrt werden wird, bleibt anzuzweifeln, da Labour damals die ersten Schritte in Richtung Marktwirtschaftsöffnung ging.
Unser Referent spricht sich klar für die Vorzüge des NHS-Systems aus. Die größte Sorge der GPs sei jedoch, dass die »responsibility« für Geldausgaben im Budget von den CCGs sich auf den einzelnen Arzt verlagern könne. Anscheinend gehen GPs jedoch noch nicht in Massen für den Erhalt des NHS auf die Straße. Vielleicht tut man ihnen unrecht, wenn man behaupten würde, dass eine kommende Privatisierung in einzelnen Bereichen, den GPs am wenigsten weh täte und finanziell sogar Mehreinnahmen bedeuten könnte.
Die Äußerungen von »NHS is our religion« bis »there is no more NHS in 2014« sind ein breites Spektrum ärztlicher Meinungen. Unserer Referent lag anscheinend dazwischen; er hält das staatliche System für weiter verbesserungswürdig, glaubt jedoch noch an seine Vorteile für die Bevölkerung, nämlich die Bereitstellung einer umfassenden und kostenlosen Gesundheitsversorgung aller Bürger durch den Staat mit dem Ziel eines gleichen und gerechten Zugangs zu Gesundheitsleistungen unabhängig vom sozialen Status und Einkommen.
Früher hieß es: »When a bedpan is dropped on a hospital floor, its noise should resound in the Palace of Westminster«. Das soll heißen, dass es eine klare Verantwortungsübernahme der Regierung für die Gesundheit ihrer Bürger gab. Mal sehen, ob uns dieses Gesundheitswesen beim nächsten Besuch noch als Vorbild dienen kann.

*Jan-Peter Theurich ist Facharzt für Innere Medizin in Rheda-Wiedenbrück.

Weiteres über das Arbeitsfeld unseres Referenten:

www.lancashirenorthccg.nhs.uk/local-services/gp-practices/
Die Seite www.ashtreessurgery.co.uk ist in Deutschland »blacklisted«

Verwendete Literatur:

Olaug S. Lian: »Convergence or Divergence? Reforming Primary Care in Norway and Britain«, Article first published online: 6 JUN 2003, DOI: 10.1111/1468-0009t01-2-00055, Milbank Quarterly, Volume 81, Issue 2, pages 305–330, June 2003 (erwähnt im Lehrbuch der Gesundheitsökonomie von Lauterbach / Stock /Brunner, Huber Verlag, 2. Aufl. 2009)

Anmerkungen

  1. British Medical Association: www.bmahouse.org.uk
  2. Siehe: www.bnf.org

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Keep our National Health Service Public, 2/2014)


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