Der Weg in die Privatisierung – der NHS im Umbruch
Der National Health Service von England, der NHS, ist das wohl umstrittenste Gesundheitswesen der Welt. Allen Seiten diente und dient es als ideologische Blaupause für die jeweiligen Vorstellungen eines idealen Gesundheitswesens. Wird hierzulande häufig das Schreckgespenst eines staatlichen, zentralistischen Gesundheitswesens ohne »freie« Ärzteschaft, mit langen Wartezeiten und Mangelwirtschaft an die Wand geworfen, wobei sich unsere Ärztefunktionäre immer als besonders eifrige Kritiker erweisen, so dient es den Verteidigern als Vorbild eines staatlich regulierten Gesundheitswesens, welches allen Bürgern eine gleiche und gute medizinische Versorgung garantiert. Ohne Zweifel gehörte der NHS bis vor wenigen Jahren zu den kostengünstigsten Gesundheitswesen weltweit. Nur 6-7 Prozent des BIP wurden benötigt, um den Bürgern eine gesundheitliche Versorgung auf allerhöchstem Niveau zu garantieren. England ist das Mutterland der Evidence Basierten Medizin (EBM), nicht nur in der Theorie, sondern auch in der praktischen Anwendung. Das NICE (National Institute for Health and Care Excellence) als oberste Instanz für qualitätsbasierte medizinische Praxis gilt als das Vorbild für das deutsche IQWIG. Welche Perspektive ist nun die richtige?
Um dieser Frage nachzugehen, führte uns unsere diesjährige vdää on tour nach London, wo wir einmal ein staatliches, zentral organisiertes Gesundheitswesen kennenlernen wollten. Was wir aber sahen, war der marktwirtschaftliche Umbau eines früher staatlichen Gesundheitswesens.
Seit Jahren wird dieses staatliche Gesundheitswesen umgebaut, wird fit für den Markt gemacht. Den vorläufigen Höhepunkt dieses Umbaus bildet der Health and Social Care Act, der 2012 verabschiedet wurde. Die Änderungen, die dieses Gesetz mit sich bringt, dokumentieren wir in der vorliegenden Ausgabe von »Gesundheit braucht Politik«.
Mit fast religiösem Eifer verteidigten praktisch alle unsere Londoner GesprächspartnerInnen den NHS in seiner früheren Form. Dabei wurde uns klar, welche soziale Errungenschaft die Einrichtung des NHS 1948, im tiefsten Krisenjahr der Nachkriegszeit, war. Dieser Erfolg ist vergleichbar mit der Einführung des 8-Stunden Tages oder der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Sicher gab es Mängel in diesem System, Mängel, die uns auch sehr interessiert hätten, aber unseren Referenten lag die Umwandlung dieses Systems so sehr am Herzen, dass wir mehr über die Privatisierung dieses Systems als über den »alten« NHS diskutiert haben.
Trotzdem wurden in den Diskussionen zwei Punkte ganz deutlich: zum einen die zentrale Rolle der General Practitioners (GPs), der Allgemeinärzte, die hier wirklich eine Lotsenfunktion ausüben. Nur über sie führt der Weg zu den Fachärzten und ins Krankenhaus. Diese wichtige Position drückt sich nicht zuletzt auch in ihrer Bezahlung aus. Im Übrigen waren die GPs noch nie Angestellte des NHS, sie waren immer selbstständig tätige Ärztinnen und Ärzte, die nach der Zahl der bei ihnen eingeschriebenen Einwohner vergütet wurden. Sie waren und sind also beileibe keine »Staatsangestellten«.
Das ebenfalls deutlich wurde, ist die Anfälligkeit steuerfinanzierter Gesundheitswesen für direkte politische Eingriffe in das System. Die Zuweisung staatlicher Gelder kann nach Kassenlage oder nach politischem Wohlwollen erfolgen. So stieg der Anteil der Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt für das Gesundheitswesen in den letzten 20 Jahren drastisch an. Damit konnten die beiden großen Parteien besonders vor Wahlen bei der Bevölkerung punkten. Genauso wird nun aber der Geldhahn seit einer Weile wieder rigoros zugedreht. Dies ist einer der Gründe, weshalb auch der vdää einer staatlichen Finanzierung des Gesundheitswesens skeptisch gegenüber steht. Diese Art der Finanzierung ist einfach anfälliger für direkte politische Einflussnahmen als ein beitragsfinanziertes System, welches darüber hinaus auch die Arbeitgeber mit in die Verantwortung nimmt. Wir sehen ja gerade in Deutschland, dass der Finanzminister – um eine ausgeglichene Schuldenbilanz zu erhalten – die staatlichen Zuschüsse zum Gesundheitsfonds von 14 Mrd. Euro um 4 Mrd. Euro kürzt. Eine Kürzung, die keinerlei medizinische oder gesundheitspolitische Grundlage hat. In einem System, das über Krankenkassenbeiträgen finanziert wird, ist der Griff des Staates in die Kassen zwar auch möglich, aber nicht ganz so einfach. Dabei ist die Alternative von staatlichem Gesundheitswesen – unsere Ärztefunktionäre sprechen da gerne von »Staatsmedizin« – und einem kassenfinanziertem eine ideologische Fiktion. Jedes Gesundheitswesen dieser Welt unterliegt staatlichen Regulierungen, nur ist deren Grad und die marktwirtschaftliche Ausrichtung von Land zu Land unterschiedlich.
Es verwunderte uns in England – Schottland und Wales haben die Privatisierung des NHS nicht übernommen –, dass in dem Land, das seit Margaret Thatcher Eisenbahn, Gefängnisse und jetzt auch Flüchtlingsheime und Polizeistationen privatisiert hat, das Gesundheitswesen bisher relativ wenig nach marktwirtschaftlichen Kriterien organisiert wurde. Das aber ändert sich, wie wir erfahren mussten, seit dem Health and Social Care Act dramatisch.
Dabei ähnelt sich die Art der Privatisierung in allen Ländern: Bestimmte Leistungen, wie Reinigungsdienst, Verpflegung, Apotheken werden »ausgesourced« und medizinische Leistungen, die standardisiert, ohne großes Risiko und mit guter Vergütung erbracht werden, werden an private, profitorientierte Firmen vergeben. Der öffentlichen Hand verbleibt das Risiko. Dieses Muster ist in vielen Ländern mit unterschiedlicher Ausprägung zu beobachten. Den Krisenländern Europas wird dieses Muster der Privatisierung von der EU, der Weltbank und dem IWF zwangsweise aufgedrängt. Wir werden in einer Sonderausgabe von »Gesundheit braucht Politik« zum Gesundheitswesen in Griechenland in Kürze genauer darüber berichten.
Wir hoffen, dass Sie trotz aller Scheußlichkeiten, über die wir hier berichten, diese Ausgabe von »Gesundheit braucht Politik« mit Interesse lesen. Und ganz nebenbei: Unsere vdää on tour-Reise war nicht nur informativ, sie hat auch großen Spaß und Lust auf eine Reise im nächsten Jahr gemacht.
Wulf Dietrich
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Keep our National Health Service Public, 2/2014)