Mehr Prävention – aber welche?
Rezension von Klaus Thielmann zu
Klaus-Dieter Kolenda und Ulf Ratje: »Mehr Prävention! Vorbeugung und Behandlung lebensstilbedingter chronischer Krankheiten«
Die beiden Autoren haben ein Praxisbuch zur Auseinandersetzung mit dieser größten aller gegenwärtigen Herausforderungen der Medizin vorgelegt. An chronischen nicht-übertragbaren Krankheiten (CNCD) sterben weltweit und meist vorzeitig 63 Prozent aller Menschen, 86 Prozent in der europäischen Region der WHO, 92 Prozent in Deutschland. In den Industrieländern werden für die Behandlung von CNCD ca. 80 Prozent der Gesundheitsausgaben aufgewandt. Ein Präventionspotential von 25 bis 70 Prozent aber liegt weitgehend brach. Gesundheitssysteme, die mit großem Aufwand Folgeschäden vermeidbarer Krankheiten bekämpfen, sich aber wenig für die Verhinderung derselben engagieren, ticken falsch. Das ist umso bedenklicher, wenn einseitige kurative Orientierung mit handfesten wirtschaftlichen und kommerziellen Interessen einher geht, so aber liegt der Fall. Der gegenwärtige Stellenwert der Prävention im Spektrum medizinischer Tätigkeit ist unangemessen. Er offenbart, bei wohlwollender Deutung, eine strategische Schwäche der zuständigen staatlichen Administration, und auch die medizinische Profession selbst sollte sich in dieser Sache kritische Fragen stellen.
Das vorliegende Buch hält sich nicht mit Theorie und Klagen über die Lage auf. Es tritt nüchtern und sachlich mit Anleitung zum Handeln gegen den Missstand an. Die Autoren sind exzellente Kenner der Materie mit einschlägigen praktischen Erfahrungen. Zwei belesene und praktisch erfahrene Präventivmediziner referieren und kommentieren wichtige Studien, Analysen und Meta-Analysen zur Prävention der CNCD. Neun Kapitel behandeln die Prävention von Risikofaktoren und manifesten CNCD, darunter Rauchen, Übergewicht und Adipositas, Diabetes Typ 2, Hypertonie und Krebserkrankungen. Zwei weitere Kapitel geben Anleitung für die Gesprächsführung zur Änderung des Lebensstils bzw. Hinweise zur Vergütung und Erstattung von Präventionsleistungen. Im Anhang findet sich weiteres hilfreiches Material zur Durchführung präventiver Maßnahmen.
Eine Neuorientierung der Medizin ist überfällig. Einseitig kurativer Fortschritt überfordert jede Volkswirtschaft, die ein Recht auf Gleichheit im Zugang zu zeitgemäßer medizinischer Versorgung anerkennt. Weitere Fortschritte in Diagnostik und Therapie, Kuration, Rehabilitation und Pflege sind zwar unverzichtbar, sie verschärfen aber zugleich das Problem fortlaufend, denn sie werden immer mehr Mittel fordern. Die Lösung: Weniger Kranke und weniger kommerzieller Missbrauch der Medizin. Das vorliegende Buch widmet sich der Reduzierung der Zahl der Kranken durch Verhaltensprävention – ein sehr wichtiger, wenngleich nicht der einzige Weg zur Reduzierung des Erkrankungsrisikos für CNCD und zur Verbesserung der Effizienz der medizinischen Versorgung.
80-90 Prozent der CNCD gelten als lebensstilbedingt. Die Bedeutung eigenverantwortlicher Lebensführung für den Gesundheitszustand steht außer Frage. Hier kann viel Präventionspotential erschlossen werden. Das persönliche ärztliche Gespräch bietet beste Voraussetzungen für die Vermittlung von Kenntnissen, Einsicht und Motivierung zur Entscheidung für eine gesundheitsfördernde Lebensweise. Wenn 60 Prozent der deutschen Bevölkerung übergewichtig sind, dann nicht nur deshalb, weil es 60 Prozent der deutschen Bevölkerung an Eigenverantwortung fehlte. Auch rauchen Raucher, trinken Trinker, meiden Menschen körperliche Aktivität nicht nur aus Mangel an Selbstdisziplin. Einer Schädigung der eigenen Gesundheit gegen besseres Wissen liegen gewöhnlich vielschichtige individuelle psycho-soziale und auch sozioökonomische Ursachen zugrunde.
Für die Verhältnisprävention ist die Politik zuständig, heißt es. Wenn aber wirtschaftliche und soziale Bedingungen den Gesundheitszustand der Bevölkerung maßgeblich beeinflussen, dürfen sie von der Medizin nicht ausgeblendet werden. Von ihr als professioneller Autorität in Gesundheitsdingen wird erwartet, dass sie auf wirtschaftliche und soziale Ursachen u.a. von CNCD aufmerksam macht, Veränderungen anmahnt und in ihrem eigenen Verantwortungsbereich notwendige Schritte einleitet. Bei der Politik allein ist Verhältnisprävention nicht gut aufgehoben, besonders dann nicht, wenn diese von wirtschaftlichen Ambitionen diktiert wird. Es ist an der Medizin, ihre Forderungen in professioneller Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung und unbeeinflusst von wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen.
Mehr Prävention! als Motto und Programm bedeutet Profilerweiterung der Medizin. Darauf ist diese nicht gut vorbereitet. Sie sieht ihre Aufgabe eher im Reagieren auf Krankheit. Auf Prävention entfallen in Deutschland nominell ca. vier Prozent der Gesundheitsausgaben, de facto weniger. Mehr und bessere Prävention fordert eine andere Gewichtung und als Voraussetzung dafür neben re-aktivem mehr vorausschauendes, pro-aktives Denken und Handeln. Viele Fälle von CNCD können nicht nur durch Primärprävention verhindert, sondern in frühen Stadien durch Sekundärprävention auch geheilt werden. 50 Prozent aller Typ-2-Diabetes-Fälle sind durch Änderungen des Lebensstils dauerhaft vermeidbar. Medikamentöse Behandlung ist ein Segen, wo keine andere Wahl bleibt. Zuvor aber müssen die Möglichkeiten von Primär- und Sekundärprävention ausgeschöpft werden. Gegenwärtig erfolgt der Einsatz von Medikamenten zur Behandlung von CNCD nicht vorwiegend in Erwartung von Heilung, sondern mit dem Ziel der Entlastung von Beschwerden oder wegen der Folgeschäden von CNCD. Zugleich nimmt die Zahl jüngerer CNCD-Patienten zu.
Die Stärken der modernen Medizin bei der Beherrschung akuter Gesundheitsprobleme sind unbestritten. Den CNCD aber ist sie bisher nicht wirklich gewachsen. Der Bedarf an aktueller Information zu Fortschritten bei der Verhütung und Heilung von CNCD wird zunehmen. Nichts könnte die Notwendigkeit umfassender Prävention und politischen Engagements der organisierten Profession in dieser Sache besser vor Augen führen, als die wachsende Belastung der Bevölkerung durch CNCD. Umso wichtiger ist es, keine Zeit zu verlieren, bis die Medizin endlich über ein strategisches Konzept verfügt, das der Prävention den Platz einräumt, der ihr aller Vernunft nach zukommt. Kolenda und Ratjes Beitrag dazu ist hervorragend gelungen.
Klaus-Dieter Kolenda und Ulf Ratje: »Mehr Prävention! Vorbeugung und Behandlung lebensstilbedingter chronischer Krankheiten«
Hans Marseille Verlag, München 2013, 144 Seiten, ISBN 978-3-88616-144-7, Preis 28 Euro
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Im Schlaraffenland?, 1/2014)