Wie alle anderen auch?
Interview mit Michael Janßen* zur Versorgung von Menschen ohne Papiere
Eine massive Unterversorgung herrscht in Deutschland für alle Menschen ohne Papiere. Wir dokumentieren ein Interview mit Michael Janßen, das dieser in der Taz gegeben hat.
Herr Janßen, in Deutschland hat jeder Anspruch auf gesundheitliche Versorgung; auch Menschen ohne Aufenthaltsrecht. Warum behandeln Sie solche Patienten umsonst?
Wer keinen Aufenthaltstitel hat und krank wird, bekommt zwar vom Sozialamt einen Krankenschein – aber nur, wenn er sich dort meldet und zu erkennen gibt. Das kommt für viele nicht in Frage, denn dann könnten sie verhaftet und abgeschoben werden.
Was geschieht, wenn ein solcher Patient in ihre Praxis kommt?
Ich erfasse sie als Privatpatienten in unserem Praxisverwaltungssystem, teils unter echtem Namen, teils unter Pseudonym. Dann behandele ich sie wie alle anderen auch.
Mit was für Beschwerden haben Sie dabei zu tun?
Teils sind das leichte Erkrankungen, kürzlich gab es aber auch jemand, der hatte starke Schmerzen im Brustkorb. Den habe ich zum Röntgen geschickt – und es stellte sich heraus, dass er ein Projektil im Brustkorb hatte, eine alte Schussverletzung.
Und das wusste er nicht?
Es war ein Kriegsflüchtling, einer der Flüchtlinge vom Kreuzberger Oranienplatz. Er hat es mir erst nach der Untersuchung gesagt.
Wer übernimmt die Kosten für Laborleistungen und Medikamente?
Es gibt zwei kooperierende Apotheken, die uns kostenlos oder preisgünstig Medikamente zur Verfügung stellen. Klappt das nicht, stelle ich ein Privatrezept aus. Die Medikamente werden dann teils aus Spenden finanziert. Es gibt auch ein Labor, das kooperiert. Die meisten Untersuchungen, die wir brauchen, kosten zwischen 5 und 30 Euro. Die bekommen wir umsonst. Ansonsten kriegen wir eine Rechnung und tragen die dann selbst.
Was ist mit Fachärzten?
Das Medibüro hat eine Liste mit kooperierenden Fachärzten. Aber manche Spezialisten wie Dermatologen und Urologen gibt es darauf kaum.
Haben die Kooperationspartner nicht Angst, sich so etwas wie ›Beihilfe zum illegalen Aufenthalt‹ schuldig zu machen?
Die Angst wäre unbegründet, bei unseren Partnern ist das auch nicht der Fall. Aber das gilt natürlich nicht für jeden.
Was geschieht bei schweren Erkrankungen, etwa wenn Operationen notwendig werden?
Diesen Fall hatte ich noch nicht. Ich würde dann eine Krankenhausverordnung ausstellen und sie zum Medibüro zurückschicken.
Ist es den Patienten peinlich, sich umsonst behandeln lassen zu müssen?
Das merke ich so nicht. Das Sprachliche kommt oft über einen Dolmetscher, das Nonverbale ist schwierig zu beurteilen. Menschen etwa aus subsaharischen Ländern haben kulturell ein anderes Auftreten beim Arzt. Ich kann es schwer beurteilen, aber mir fällt nicht auf, dass sie sich zieren oder dass sie sagen, ›ach, lassen Sie mal, das kostet doch soviel‹, oder ›machen Sie sich nicht solche Umstände‹.
Wirkt sich die soziale Lage dieser Patienten auf ihre Gesundheit aus?
Das deutlichste Zeichen sind die Folgen von Fehlernährung. Die Menschen sind gezwungen, billig zu essen, das bedeutet meist fett- und kohlenhydratreich – mit den bekannten gesundheitlichen Folgen. Manche sind auch unterernährt.
Gibt es auch psychische Folgen?
Viele leiden an posttraumatischen Belastungsstörungen, Depressionen oder Angststörungen. Es ist aber für mich schwer ersichtlich, was davon auf ihre aktuelle Situation zurückzuführen ist. Tendenziell sind die Menschen natürlich sehr skeptisch und vorsichtig.
Begegnen Sie auch Ihnen mit Misstrauen?
Teilweise ja. Neulich hatte ich einen, der wollte noch nicht mal, dass ich den Röntgenbefund den er mitgebracht hat, in das System einscanne. Den hat er sofort wieder eingesteckt und mitgenommen. Ich kenne die Vorgeschichte der Patienten oft nicht, und ich frage auch nicht danach. Ich will bei ihnen nicht den Eindruck erwecken, ich würde sie auch noch verhören.
Wurden schon Patienten während der Behandlung abgeschoben?
Jedenfalls nicht, soweit ich weiß. Etwa jeder fünfte kommt mehrfach. Behandlungen über längere Zeit sind aber selten. Wenn nun jemand nicht wieder kommt, weiß ich nicht, warum.
Inwiefern spielen Krankheiten eine Rolle für das Aufenthaltsrecht?
Bisweilen wollen die Anwälte, dass ich ein Attest ausstelle, um das gegenüber der Ausländerbehörde zu verwenden. In dem Rahmen, den ich durch meine Behandlung überblicke, kann ich das dann schon machen.
Wie oft behandeln Sie papierlose Patienten?
Jede Woche.
Auf wie viel Honorar verzichten Sie dafür im Jahr?
Ich schätze etwa 2 000 Euro.
Warum tun Sie das?
Ich bin seit langem im Menschenrechtsausschuss der Ärztekammer Berlin aktiv. Kann sein, dass ich auf das Thema aufmerksam wurde, als die taz 2009 dem Berliner Medibüro den Panther-Preis verliehen hat.
Fast zur gleichen Zeit gab es eine Gesetzesnovelle um die Versorgung Papierloser zu verbessern. Was hat sich seitdem geändert?
Krankenhäuser können ihre Notfallleistungen seither direkt mit dem Sozialamt abrechnen, ohne Übermittlung der Patientendaten. Aber für die Behandlung durch niedergelassene Ärzte hat sich leider nichts geändert.
Das Interview führte: Christian Jacob; es ist zuerst in der taz vom 6. Januar 2014 erschienen.
*Michael Janßen ist 54 Jahre und Facharzt für Allgemeinmedizin und Physiotherapeut. In seiner Praxis in Berlin-Neukölln behandelt er in Zusammenarbeit mit dem Berliner Medibüro Menschen ohne Aufenthaltsrecht.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Im Schlaraffenland?, 1/2014)