Medizinischer Fortschritt – ein Kostenfaktor?
Von Wulf Dietrich
Demographischer Wandel und medizinischer Fortschritt – das sind die beiden – in der Regel unhinterfragten – Universalgründe für viele »Reformen« des Gesundheitswesens der letzten Jahre. Den Mythos Demographie hatten wir schon früher entlarvt, nun zeigt Wulf Dietrich, wie der »medizinische Fortschritt« einzuschätzen ist.
Neben der demographischen Entwicklung der Bevölkerung wird in gesundheitspolitischen Debatten als zweiter Faktor oft der medizinische Fortschritt als verantwortlich für den Kostenanstieg im Gesundheitswesen genannt. Doch lässt sich das wirklich mit Zahlen belegen?
In der Laienpresse aber auch in medizinischen Journalen werden wir immer wieder mit »revolutionären« technischen Neuerungen konfrontiert. Leider wird meist nur über die spektakuläre Einführung berichtet, wie es mit diesen Neuerungen weitergeht, wird häufig nicht mehr berichtet. Einige Beispiele: Die renale Denervierung wurde als revolutionäre Behandlung bei der therapierefraktären Hypertonie angepriesen. In mehr als 200 Zentren wurde inzwischen der Hochdruck »einfach wegoperiert« – und von den Krankenkassen bezahlt. Belastbare Studien für die Effektivität dieser Methode gab es nicht. Das ist in Deutschland für Medizinprodukte auch nicht notwendig. Hier ist nur ein CE-Zertifikat notwendig, d. h. die Produkte dürfen nicht explodieren, Brände auslösen oder den Patienten sichtbar schädigen. Jetzt wurden die Ergebnisse der ersten kontrollierten Studie zu dieser Methode aus den USA veröffentlicht. Und siehe da: Unter kontrollierten Bedingungen war kein Effekt dieser Methode auf den Blutdruck nachweisbar.
Oder TAVI, der kathetergestützte Ersatz der Aortenklappe. Dieser Eingriff wurde 2012 bei fast 10 000 Patientinnen in fast 100 Zentren durchgeführt – mit stark steigender Zahl im vergangenen Jahr –, während der konventionelle Ersatz der Klappe in etwa der gleichen Größenordnung konstant blieb. Hat sich der Gesundheitszustand der Patienten durch diese Verdoppelung der Eingriffe nun verbessert? Wir wissen es einfach nicht. Nur eine einzige ernstzunehmende Studie zu dieser Methode, wiederum aus den USA, zeigte eine Nichtunterlegenheit dieser Methode im Vergleich zum konventionellen Aortenklappenersatz. Dafür gab es mehr Komplikationen, wie Schrittmacher-Einsatz, Gefäßverletzungen oder Schlaganfälle. Und wie lange die Klappe hält, ist auch noch nicht nachgewiesen. Dagegen ist schon jetzt klar, dass man mit dieser Methode sehr viel Geld verdienen kann, weil die Vergütung nach den Kosten für dieses Devices von vor zwei Jahren kalkuliert wurde, während der aktuelle Preis zwischenzeitlich deutlich gefallen ist. Außerdem gibt es viele ältere Menschen mit einer Aortenstenose, bei denen ein Eingriff bisher nicht für notwendig erachtet wurde. Kein Wunder, dass sich die Kardiologen und die Herzchirurgen inzwischen heftig darüber streiten, wer denn diese lukrativen Eingriffe durchführen darf. Eine ernsthafte Studie zum Nutzen dieser Methode aber ist in Deutschland nicht in Sicht.
Andere Beispiele für die scheinbaren technischen Innovationen in der Medizin ist die Roboterchirurgie, die computerassistierte Modellierung von Endoprothesen oder die transmyocardiale Laser-Revaskularisierung des Herzens, bei der mit einem Laserstrahl Löcher in den Herzmuskel geschossen wurden in der Hoffnung, daraus könnten Blutgefäße entstehen. Auch diverse Modifikationen von Koronarstents (goldbeschichtet, strahlend usw.) wurden als technologische Revolution in der Presse angekündigt und verschwanden später kommentarlos in der medizinischen Asservatenkammer. Alle diese Neuerungen haben sich als Flop erwiesen, der günstigenfalls nur der Klinik Geld gebracht hat, aber eventuell auch den PatientInnen geschadet hat.
Bei den neuen Arzneimitteln sieht es auch nicht viel besser aus: In der »frühen Nutzenbewertung« hat der G-BA bisher 63 Bewertungen neuer Arzneimittel auf ihren Nutzen vorgenommen. Bei 24 Wirkstoffen erkannte der G-BA auf: »kein Zusatznutzen«, in 20 Fällen wurde ein »geringer« Zusatznutzen festgestellt, elf Mal war das Ausmaß »beträchtlich«. Die höchste Bewertung »erheblich« erhielt keines der Arzneimittel. Die restlichen Arzneimittel waren nicht beurteilbar. Sicher gab es bei den Mitteln gegen seltene Erkrankungen einige Fortschritte, doch sind die Erfolge der medikamentösen Therapie sehr überschaubar.
Sicher gibt es einen technischen medizinischen Fortschritt, der auch den Patienten zugute kommt. Dieser sollte aber nicht überschätzt werden. Der vdää fordert ein Ende des technologischen Wildwuchses: Medizinprodukte sollten nur bei Nachweis ihrer Wirksamkeit – ähnlich wie Arzneimittel – zugelassen werden und nicht jeder Klinik soll es erlaubt sein, neue technische Verfahren unkontrolliert anzuwenden. Der sogenannte Verbotsvorbehalt (eine Klinik darf alles machen, was nicht verboten ist) muss, wie bei den Vertragsärzten, in einen Erlaubnisvorbehalt (es darf nur gemacht werden, was erlaubt ist) umgewandelt werden.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Im Schlaraffenland?, 1/2014)