25 Stunden
Jenny Merx* über den ganz normalen Wahnsinn im Krankenhaus
Jenny Merx illustriert konkret, wie Unter- und Fehlversorgung im Krankenhausalltag aussehen. Personalmangel, überlange Arbeitszeiten – kurz: die massive Arbeitsverdichtung im Krankenhaus lassen gute Arbeit (und gute Versorgung) inzwischen oft nicht mehr zu.
Ich arbeite als Assistenzärztin einer Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie. Ich bin am Beginn meines dritten Weiterbildungsjahres und habe gerade den dritten 24-Stunden Dienst in 12 Tagen hinter mich gebracht.
Samstag, 08:00 Uhr, Übergabe
Das Dienst-Team vom Vortag, ein Altassistent und eine Oberärztin, sitzt erschöpft bei Kaffee im Arztzimmer. Sie sind vor einer halben Stunde aus dem OP gekommen, haben zwei akute OPs gemacht, nachdem sie am Abend zuvor gegen 17:00 Uhr einen 37-jährigen Patienten geplant im Saal hatten, der initial eine Umgehung seiner Magenausgangsstenose bei unklarem Prozess am Pankreas bekommen sollte, intraoperativ dann auf telefonische Anweisung des Chefs auf einen Whipple umgeschwenkt wurde. Unser Haus macht diese Operation nicht sehr häufig, das Dienst-Team blieb bis gegen Mitternacht mit dem Patienten im Saal. Danach waren die beiden ÄrztInnen in der Notaufnahme und haben dann die beiden dort aufgenommenen akuten Positionen operiert. Fünf geplante OPs blieben vom Vortag liegen und sollen heute im (sogenannten) Bereitschaftsdienst von uns nachgeholt werden.
Samstag, kurz vor 09:00 Uhr
Ich laufe Visite auf unserer Station mit 30 Patienten. Mein Facharztkollege visitiert die Außenlieger, Kinder und Patienten auf der Intensivstation. Es sind drei Pflegekräfte im Frühdienst da, davon ein erfahrenerer Pfleger von unserer Station und zwei Leasingkräfte. Neben allerlei unkomplizierten Fällen wie Appendizitiden und Gallenblasen-OPs liegen bei uns drei Patienten mit multipel metastasierten Karzinomen des Ösophagus, der Kardia und des Pankreas. Zwei davon sind noch nicht operiert, plagen sich mit Erbrechen und Schmerzen. Einer der beiden wurde im Verlauf der letzten Tage zunächst wunderlich aggressiv, dann immer verwirrter und bettflüchtig.
Der Alkoholiker mit Durchbruch der Magenhinterwand vor drei Tagen aus dem ersten Zimmer sucht mich im Lauf des Vormittages immer wieder auf und versucht Fragen an mich zu stellen, hat jedoch jedes Mal vergessen, was er eigentlich fragen will. Bei jedem neuen Anlauf lallt er stärker. Er trinkt direkt weiter, drei Tage nach seinem Magendurchbruch.
Ein Patient liegt mit paralytischem Darm nach OP bei perforierter Appendizitis im Bett und krümmt sich vor Schmerzen. Er läuft »im Orbit« für eine erneute Lavage im OP, noch allerdings zeigt der Bauch keine Abwehrspannung.
In der Nacht kam eine Neuaufnahme über die Notaufnahme, ein junger Mann, alkoholkrank, mit multiplen Pankreaspseudozysten. Er ist im Oberbauch voroperiert und hat Anzeichen eines hohen Dünndarmileus im Röntgen und CT. Mein Facharztkollege kümmert sich erst mal um ihn, verschafft sich einen klinischen Eindruck und versucht, ihn auf den OP-Plan zu setzen. Er ruft die diensthabende Oberärztin der Anästhesie an, um mit ihr die anstehenden akut-OPs und auch die Eintaktung der liegengebliebenen OPs vom Vortag zu besprechen. Sie wird sofort laut am Telefon: Sie habe kein Personal zur Verfügung und legt mitten im Satz auf. Der Ton zwischen allen Beteiligten ist jetzt bereits scharf und gereizt.
Samstag, 10:30 Uhr
Ich stehe die folgende Stunde im Arbeitsraum der Station und ziehe die Antibiotika und i. v. Medikamente auf, die ich dann den PatientInnen anhänge. Die Pflegekräfte haben keine Zeit dafür. Die Gabe ist auf 08:00 Uhr angesetzt, die meisten PatientInnen bekommen ihre Medikamente gegen 11:00 Uhr.
Beim Anhängen des Antibiotikums für den Patienten mit der lokalen Peritonitis nach Appendixperforation finde ich diesen gekrümmt im Bett vor, er erbricht sich über die Bettkante auf den Boden. Ich rufe eine Pflegekraft zu Hilfe. Wir lagern den Patienten aufrecht, geben ihm eine Spucktüte, ziehen sein Hemd aus und verabreichen ihm Antiemetika. Ich ahne, dass es nichts bringen wird. Sein Bauch ist gebläht, aber noch weich. Wir wollen ihm eine Magensonde legen, unsere Versuche sind jedoch frustran. Der Patient drängt darauf, nochmals operiert zu werden. Wenn er wüsste, dass er im OP-Programm bisher noch nicht einmal vorgesehen ist…
Samstag, 12:00 Uhr
Nachdem ich die Entlassungen des Tages fertig gemacht habe, machen mein Kollege und ich die anfallenden Verbände auf Station. Wunddehiszenzen, ischiorektale Abszesse, Teilklammerentfernungen usw. Die Leasingkräfte sind nicht ausgebildet für diese Tätigkeiten.
Wir warten weiter auf das Startsignal von der Anästhesie und die Freigabe für den OP. Zwei Elektivpatienten vom Vortag sind seit Stunden nüchtern und warten auf ihre Fistel-Ausschneidung. Sie sind bereits am Vortag abends abgesetzt worden. Um es vorweg zu nehmen: Beide werden am Nachmittag nach Hause entlassen – ohne OP!
Der Patient mit der Whipple-OP vom Vortag wird nach nicht einmal dreizehn Stunden wegen Bettenmangel im Intensivbereich zu uns auf die Station verlegt. Seine Baxterpumpe streikt bald, innerhalb einer Stunde liegt er mit Schweißausbrüchen und starken krampfartigen Bauchschmerzen im Bett. Ich titriere ihn vorsichtig mit Piritramid an die Schmerzlinderung, einen Monitor haben wir auf Station nicht, um ihn dabei zu überwachen. Der Patient bittet, auf die IMC zurück verlegt zu werden. Ich weiß nach einem vorangegangenen Telefonat mit dem Kollegen der IMC, dass dort wegen Notfällen gar nichts geht. Ich bitte den Patienten, sich zu melden, wenn die Schmerzen wieder zunehmen. Er sagt, er traue sich nicht zu klingeln, die Pflegekräfte hätten letztes Mal entnervt behauptet, er hätte was am Kopf.
Anruf an die Oberärztin der Anästhesie mit der Info, die Pumpe würde streiken und der Patient hätte Schmerzen. Sie findet keine Zeit, die Pumpe wird dann erst gegen Mitternacht – also 12 Stunden später – wieder in Gang gesetzt.
13:00 Uhr
Wir essen verbotenerweise das übriggebliebene fade Klinikessen und verschaffen uns einen Überblick über die Patienten. Der Ileuspatient wird klinisch immer schlechter. Sein Bauch ist prall gespannt, aber immerhin erbricht er noch nicht. Ich will gerade eine Patientin für einen Eingriff aufklären, da geht der Pieper – Polytraumaalarm.
Mein Kollege ist schon in der Notaufnahme. Dort ist ein unfallchirurgischer Assistenzarzt anwesend, der eigentlich alle allgemeinchirurgischen Patienten ansehen und in Absprache mit uns behandeln sollte. Meist sind die KollegInnen in der Notaufnahme aber so überfordert von der Patientenzahl, dass sie uns die Patienten einfach einige Stunden sammeln und dann en-bloc abarbeiten lassen.
Das Polytrauma wird hereingefahren: Mann als Fußgänger bei Rot vom Auto erfasst und mehrere Meter durch die Luft geschleudert. Der Bauch ist klinisch unauffällig und die Frakturen im CT geben erst mal den anderen Fachrichtungen zu tun. Für unseren Ileuspatienten und uns heißt das: weiter warten.
16:00 Uhr
Zurück auf Station. Der Nachbar des Ileuspatienten ist ein bisher nicht operierter Patient mit einem metastasierten, stenosierenden Magenkarzinom. Wir haben ihn vor einigen Tagen wegen Stuhlunregelmäßigkeiten aufgenommen und in der CT zeigte sich ein später histologisch gesichertes Magen-CA. Er hat nun einen PDK und einen ZVK liegen. Er wurde in den vergangenen Tagen immer wunderlicher, verwirrter und bettflüchtig.
Als ich in sein Zimmer komme, steht er zwei Meter weg von seinem Bett und insbesondere von seinem Infusionsständer, dessen Strippen sich wie Wäscheleinen durch den Raum spannen. Er steht mitten im Raum, vor ihm sein Erbrochenes auf Körper, Hemd, Bett und Boden. Ich rufe eine Pflegekraft. Sie sind zu zweit im Spätdienst für die 30 PatientInnen zuständig und obwohl beide erfahrene chirurgische Schwestern sind, wirken sie heute sichtlich überfordert und können nicht direkt kommen. Ich führe den Patienten ins Bett, wische seinen Mund ab, entkleide ihn und ziehe sein Bett ab. Er ist unruhig und fahrig. Ich besorge Spucktüte, Antiemetika i. v. und laufe auf die IMC, um etwas inravenöses Tavor zu holen. Der Patient hat eine Alkoholanamnese und ich vermute Entzugssymptomatik hinter seinem Zustand. Ich verabreiche ihm das Tavor langsam intravenös. Einen Monitor oder ein Sauerstoffmessgerät habe ich wieder nicht zur Verfügung. Das Lumen des Schmerzpumpenschlauches ist durch das Manöver des Patienten so eingeengt, dass dort wohl kein Naropin mehr durchkommt. Ich hoffe, er bleibt schmerzfrei.
18:30 Uhr
Wir haben uns etwas Warmes zu Essen bestellt und eine halbe Stunde Zeit für ein Gespräch. Themen: Die unbefriedigenden Arbeitsbedingungen und die pseudophilosophische Frage, ob wir noch nützliche Idioten oder schon Täter sind, die dieses System am Laufen halten.
Beim Essen ein Anruf von der Intensivstation: Ein Patient wurde instabil und man befürchtet, bei der erfolgreichen Reanimation eine intraabdominelle Verletzung provoziert zu haben. Im Röntgen ist freie Luft zu sehen – eine dringende OP-Indikation. Wir wittern unsere Chance, nun endlich Priorität für die OP-Freigabe zu bekommen, um auch unser restliches Programm abzuarbeiten.
Wir suchen davor den Ileuspatienten noch einmal auf. Als wir ins Zimmer kommen steht er vor seinem Bett, das Laken dahinter, der Boden, seine Beine – alles voll mit flüssigem Stuhl. Ein schlimmer Anblick. Wir helfen der Schwester beim Reinigen des Patienten. So zynisch es klingt, aber für den armen Mann war dieser erniedrigende Zustand seine Rettung – wäre sein Ileus weiter manifest geworden, wer weiß, wann endlich Kapazität gewesen wäre, ihn zu operieren?
Jetzt geht alles ganz schnell. Wir werden vom OP angepiepst, die Instrumentenschwester meckert in einem schlimmen Ton, dass wir verdammt nochmal endlich kommen sollen. Miserable Stimmung steht uns bevor. Mein Kollege fängt allein an, ich muss noch zwei Venenzugänge auf Station legen und die i. v. Medikamente anhängen. Es ist etwa 19:30 Uhr als die PatientInnen ihre 16:00 Uhr-Medikamente bekommen und ich in den Saal gehe.
Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt. Gemecker, unfreundlicher Ton, wenige zaghafte Scherze über Gott und die Welt meines Kollegen machen die Stimmung nicht besser. Wir merken: Der Anästhesist ist total erschöpft. Er ist wie wir seit 12 Stunden im Dienst – ohne Pause. Wir laparoskopieren die Patientin. Der Magen ist langstreckig perforiert. Der Bauch wird nun vollständig geöffnet, der Magen übernäht und die Patientin intubiert wieder auf die ITS gelegt. Wir gehen nach der OP auf Station und besuchen erneut den Ileuspatienten. Er hat weiter abgeführt und wir entscheiden uns gegen eine OP. Auch der andere Patient mit der Paralyse ist klinisch »entschärft«.
Während der vermeintlich letzten OP funkt uns die internistische Notaufnahme an. Eine akute Cholezystitis wäre noch in der Notaufnahme. Ich bleibe im Saal, helfe beim Ablegen, mein Kollege läuft in die Notaufnahme. Alle sind müde, ausgepowert und entnervt. Es ist nach 24:00 Uhr. Ich ziehe blanken Hass auf mich, als ich dem OP- und Anästhesieteam mitteilen muss, dass die Gallenblase akut ist und auch noch operiert werden soll.
Ich renne auf Station, helfe, die Papiere fertig zu machen und fahre die Patientin mit meinem Kollegen gegen 00:30 Uhr in den OP. Es herrscht eisiges Schweigen im Saal während dem nicht einfachen Eingriff. Danach lässt das völlig überarbeitete Anästhesieteam lautstark seinen Frust an uns ab. Ich kann es ihnen nicht mal verdenken.
03:00 Uhr
Wir bringen die Patientin auf Station. Ich tippe noch einen Arztbrief für die heutige Entlassung und gehe gegen 03:45 Uhr ins Bett, aus dem ich dann noch zweimal herausgeklingelt werde.
07:30 Uhr
Ich sitze mit einer Tasse Kaffee im Arztzimmer und bereite die Übergabe vor.
Auf der Station teilt um 08:00 Uhr die vollkommen erschöpfte Nachtschwester das Frühstück aus. Ich frage sie, warum sie noch hier ist. Der Pfleger vom Vortag hat sich krank gemeldet. Sie ist erst mal allein mit zwei Leasingkräften, bis die Stationsleitung um 09:00 Uhr anwesend ist. Der Krankenstand in der Pflege auf unserer Station ist damit aktuell bei sieben KollegInnen. Ich schreibe noch drei Entlassungsbriefe gehe nach der Übergabe um halb zehn nach Hause.
Fazit
Was mich im Rückblick an diesem – sicher für viele KollegInnen durchschnittlichen – Dienst, so beschäftigt hat, war die schlechte Stimmung und die Anspannung, die durch die hohe Arbeitsbelastung ausnahmslos aller KollegInnen verursacht wurde. Die Pflegekräfte auf unserer Station, das Anästhesieteam, die KollegInnen in der Notaufnahme – sie alle waren am Anschlag.
Reflexartig wird mit der Überlastung so umgegangen, dass die Ursache nicht in der Verdichtung der Arbeitskraft gesehen wird, sondern auf das (vermeintliche Fehl-) Verhalten einzelner KollegInnen geschoben wird. Die Überlastung des Personals wird verschärft durch eine Kultur des Gegeneinanders. Darüber hinaus ist bemerkenswert, wie viel Zeit ich in einem solchen Dienst letztendlich mit originär pflegerischen Tätigkeiten verbringe – eine Folge der Unterbesetzung in den Pflegeteams. Eine Pflegekraft für 15, teilweise kritisch kranke, chirurgische PatientInnen ist einfach zu wenig.
Die negativen Folgen eines derartigen Systems tragen ohnehin die PatientInnen. Für die vom Vortag liegengebliebenen Elektiv-PatientInnen bedeutete dies, eineinhalb Tage lang nüchtern warten zu müssen, um letztendlich doch nicht operiert zu werden. Akute Patienten wie unser Ileus-Patient kommen nicht rechtzeitig in den Saal, weil personelle Ressourcen fehlen. Schmerzpatienten, wie der Mann, der am Vortag eine Whipple-OP hatte, sind nicht adäquat versorgt. Die Teams der Anästhesie und die OP-Schwestern haben an diesem Tag mehr als 20 Stunden durchgehend gearbeitet.
Ich habe mich oft gefragt, ob es eventuell an strukturellen Problemen in den Arbeitsabläufen liegt. Aber rückblickend muss ich sagen, dass in meinem Haus die Abläufe sehr, sehr effizient organisiert sind. So effizient, dass aus dem verfügbaren Arbeitskräften auf allen Ebenen das Letzte herausgequetscht wird.
* Jenny Merx ist Assistenzärztin und im vdää aktiv.. Der Name wurde von der Redaktion geändert.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Im Schlaraffenland?, 1/2014)