GbP 1-2014 Editorial

Über-, Unter-, Fehlversorgung – was hat sich getan?

Alte Kamellen weitergekaut? Schon im Gutachten 2000/2001 prägte der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen in seinem Gutachten die Begriffe von »Über-, Unter-, Fehlversorgung« für das deutsche Gesundheitswesen. Vierzehn Jahre sind ins Land gegangen, hat sich etwas geändert? Das vorliegende Heft von Gesundheit braucht Politik beschäftigt sich mit diesem Thema und zeigt, dass es sich nicht um alte Kamellen handelt, sondern dass das Gutachten heute genauso aktuell wie vor 14 Jahren ist. Wir haben in unserem Gesundheitswesen, obwohl es eines der teuersten der Welt ist, krasse Formen von Über-, Unter-, Fehlversorgung.

Rolf Rosenbrock, einer der Autoren des damaligen Sachverständigengutachtens, beschreibt in seinem Artikel die eklatante Unterversorgung im Bereich der Prävention. Die große Koalition hat sich vorgenommen, das in der letzten Periode gescheiterte Präventionsgesetz wieder auf den Weg zu bringen. Auch daher ist dieses Thema von höchster Aktualität. Rosenbrock kommt zu dem Ergebnis, dass »die große Unterversorgung in der nicht-medizinischen Primärprävention« liegt und dass bisherige Ansätze zu sehr Arztzentriert sind. »Durch Verbesserungen der Medizin kann dieses Problem kaum angegangen werden, es werden v. a. nicht-medizinische Strategien der Primärprävention gebraucht.« Anders sehen das Klaus-Dieter Kolenda und Ulf Ratje, deren Buch: »Mehr Prävention! Vorbeugung und Behandlung lebensstilbedingter chronischer Krankheiten« von Klaus Thielmann rezensiert wird. Buch und Rezension haben innerhalb der Redaktion und des Vorstandes des vdää eine lebhafte Diskussion über den Zusammenhang von Verhaltens- und Verhältnisprävention und deren Wertigkeit ausgelöst. An diesem Thema müssen wir innerhalb des Vereins unbedingt weiterdiskutieren. Sicher aber ist, dass Prävention und Medizin im Allgemeinen mehr ist als ärztliches Tun.
Norbert Schmacke beleuchtet in seinem Artikel die Überversorgung in einem ganz speziellen Bereich der Medizin, nämlich der Kardiologie. In diesem Fachbereich wird besonders deutlich, wie technisch neue Methoden völlig überbewertet und finanziell gefördert werden, ohne dass ihr medizinischer Nutzen nachgewiesen wäre. Dies gilt für Linksherzkatheter ebenso wie für transarteriellen Klappenersatz oder die Implantation von Defibrillatoren. Dabei wird weniger die Indikation für bestimmte Fälle bestritten, sondern die massenhafte Anwendung und, wie Schmacke feststellt, die fehlende Einbindung evidenzbasierter Netzwerke in die Evaluation dieser Methoden. Klar, dass bei so viel Technik die persönliche Zuwendung auf der Strecke bleibt, sie wird ja auch nicht honoriert. Überhaupt der technische Fortschritt, auch mit ihm setzen wir uns in diesem Heft auseinander.
Interessant ist auch, dass beim Thema Über- oder Unterversorgung jede Profession das sieht, was ihr dient: In der offiziellen Ärzteschaft werden alle Formen von Überversorgung kleingeredet, dafür aber um so mehr auf den Ärztemangel, insbesondere in der ambulanten Versorgung auf dem Land, hingewiesen, während die Kassen da ganz anderer Meinung sind. Unbestreitbar ist, dass in einigen Regionen auf dem Land, aber auch in ärmeren Vierteln von größeren Städten die ambulante Versorgung problematisch ist. Aber sieht man sich die Gesamtzahl an Ärztinnen und Ärzte an, so muss man feststellen, dass sie wie auch die Zahl der StudienabgängerInnen in den letzten Jahren (wie in jedem Jahr seit Existieren der BRD) ständig gestiegen und auch keine Abwanderung junger Mediziner ins Ausland zu verzeichnen ist, im Gegenteil: In Deutschland arbeiten mehr Mediziner aus dem Ausland, als Mediziner ins Ausland abgewandert sind. Aber, und darauf weist Thomas Spies hin, es besteht ein eine extreme Fehlverteilung von Ärztinnen und Ärzten in diesem Land. Daran müsste primär angesetzt werden. Solange das Praktizieren in überversorgten Regionen und Städten lukrativ – und immer noch möglich – ist, wird sich an dieser Fehlverteilung nichts ändern. Und zur Not bleibt immer noch das IGeL-Schlupfloch. Bernhard Winter beschreibt die phantasievolle Kreierung neuer Einkommensmöglichkeiten, die mit medizinischer Notwendigkeit nichts zu tun hat. Auf die medizinische Unsinnigkeit von IGeLeistungen hat der vdää schon häufiger hingewiesen.
Die Zahnärzte können manchen KV-Funktionären als Vorbild dienen: Sie haben es geschafft, sich aus der solidarischen Leistungsvergütung fast ganz auszukoppeln und können ihren Patientinnen und Patienten Leistungen relativ frei, aber mit Selbstbeteiligung, anbieten. Die Kassen haben sich aus der Auseinandersetzung zurückgezogen. Sie zahlen meist nur noch feste Zuschüsse, den finanziellen Rest muss der Patient mit dem Arzt ausmachen.
Schließlich zeigt der Bericht einer jungen Assistenzärztin, warum das Interesse junger KollegInnen an der Medizin förmlich kaputt gemacht wird: Die Kommerzialisierung der Kliniken führt zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen und lässt die Berufsanfänger mit ihren Problemen allein.
Zum Schluss doch noch eine positive Nachricht: Der vdää hat nach langen Diskussionen sein Positionspapier zur Krankenhausfinanzierung verabschiedet. Auch wenn die Materie trocken und nicht immer leicht nachvollziehbar ist, die genaue Lektüre lohnt sich. Wir hoffen auf eine angeregte Diskussion und freuen uns über jeden Kommentar.
Ich wünsche Ihnen viel Spaß bei der nicht immer leichten Lektüre dieses Heftes.

Wulf Dietrich

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Im Schlaraffenland?, 1/2014)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
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