GbP Sonderausgabe 2015 Nguyen

Embodiment

Zur epidemiologischen Bedeutung von sozialen Determinanten von Gesundheit - von Anh-Thy Nguyen

Epidemiologie ist ein wissenschaftlicher Zweig, der sich mit der Entstehung, Verbreitung und Häufigkeit von Krankheit und Gesundheit innerhalb einer Bevölkerungs-gruppe und deren Determinanten beschäftigt. Sie produziert unsere medizinische und besonders unsere gesellschaftliche Rezeption oder Realität von Krankheitsentstehung und Gesundheit. Soziale Faktoren wurden dabei bis in die 70er Jahre weitestgehend  ignoriert, bis nach und nach verschiedene Autor_Innen wie Syme, Berkman und Reeder soziale Determinanten von Gesundheit (SdvG) in den Fokus rückten.

Heute ist es durchaus allgemein anerkannt, dass das soziale Umfeld die Gesundheit von Individuen, wie auch von Populationen, beeinflusst, jedoch wäre es zu viel zu behaupten, dass die Soziale Epidemiologie eine große Rolle spielen würde. Dies wird allein dadurch deutlich, dass unter den 432 000 Artikeln, die unter dem Schlagwort ‚epidemiology‘ zwischen 1966 und 2000 bei Medline abrufbar sind, nur 4 Prozent auch das Stichwort ‚social‘ beinhalten. Dabei ist festzuhalten, dass in Deutschland die Forschung zu diesem Thema eine noch geringere Rolle spielt als in der angelsächsischen Forschungswelt.

Es ist also durchaus wichtig SdvG eine größere Rolle zukommen zu lassen, aber eine umfassende epidemiologische Sichtweise benötigt eine Theorie, die über „Determinanten“ und „Mechanismen“ hinausgeht, wie es der herkömmliche ätiologische1 Ansatz verbreitet. Letzterer wird von ihr als zu linear und monokausal beurteilt, da Gesundheits- und Krankheitszustände der Menschen nicht anhand verschiedener Faktoren abgeleitet werden könnten, die für spezifische Mechanismen zuständig seien. 1994 führte Nancy Krieger den Begriff der Ökosozialen Theorie ein und damit das Konstrukt „Embodiment“, das diese Problematik aufgreifen will.

Was ist Embodiment?

„Embodiment“ beschreibt, wie wir die materielle und soziale Welt, die uns umgibt, eingliedern, verkörpern, verinnerlichen. Der menschliche Körper wird dabei als biologischer Organismus verstanden, der – wortwörtlich – die Welt inkorporiert, in der wir leben, inklusive der ökologischen und sozialen Verhältnisse. Es geht also nicht nur um ätiologische Hypothesen, die sich hauptsächlich mit dekontextualisierten körperlosen „Verhaltensweisen“ und „Einwirkungen“ in Interaktion mit ebenso dekontextualisierten und körperlosen „Genen“ beschäftigen. Sondern der Fokus liegt darauf, nach Hinweisen für momentane und sich verändernde gesundheitliche Populationsmuster in den dynamischen sozialen, materiellen und ökologischen Kontexten zu suchen, in die wir geboren werden, in denen wir uns entwickeln und interagieren.

Beispielsweise: unzureichende Nahrungsmittelversorgung, weitverbreitetes Fastfoodangebot, physischer und sexueller Missbrauch, unterschiedlicher Zugang zu Naherholungsgebieten, ökonomische und soziale Isolierung, mangelhafte medizinische Versorgung – alles hinterlässt Zeichen auf/in unseren Körpern.

Nancy Krieger beschreibt „Embodiment“ für die Epidemiologie als

a.    ein Konstrukt, Prozess, Realität, abhängig von der körperlichen Existenz
b.    mehrstufiges Phänomen, das Soma, Psyche und Gesellschaft in einen historischen und sozialökologischen Kontext integriert
c.    Anhaltspunkt für die Geschichte eines Lebens, versteckt und enthüllt
d.    als Erinnerung an miteinander verwickelte Konsequenzen verschiedener sozialer Ungleichheiten

Ein Beispiel, das Krieger nennt, erläutert das Konstrukt Embodiment anhand der gegensätzlichen Erklärungs-ansätze für gesundheitliche Ungleichheiten zwischen Populationen, die auf unterschiedliche Art ethnisiert2 werden (gemeint sind damit die sozial konstruierten Unterschiede anhand einzelner Phänotype oder kulturellen Zuschreibungen). Eine auf dem Embodiment-Ansatz beruhende Hypothese versuche hier z.B. festzustellen, ob jene gesundheitlichen Ungleichheiten möglicherweise der biologische Ausdruck von vergangener und derzeitiger rassistischer Diskriminierung sind. Im Gegensatz dazu suche der dekontextualisierte Ansatz eher nach „schlechten“, schädigenden Genen oder Verhaltensweisen. Während der Embodiment-Ansatz also Hypothesen anwendet, um die kollektiven Prozesse zu untersuchen, wird mit dem dekontextualisierten Ansatz der Schwerpunkt auf individualisierte Voraussetzungen und Verhaltensweisen gelegt.

Krieger argumentiert, dass Embodiment auf mehr basiere als „Phänotypen“, „Genotypen“ und einem vage definierten Umfeld, das „Gen-Umwelt-Interaktionen“ hervorrufe. Gene würden nicht mit der äußerlichen Umwelt interagieren, sondern der Organismus. Die Folgen davon seien Auswirkungen auf Genregulation und -expression. Die konkrete Realität von Embodiment drückt sich also in biologischen Charakteristiken aus.

Soziale Determinanten – what‘s next?

Es wird deutlich, dass die Untersuchung von sozialen Determinanten wichtig für eine umfassendere Epidemiologie ist, aber dass die biologischen Auswirkungen genauso wenig unberücksichtigt bleiben dürfen. Krieger weist darauf hin, dass bisherige Studien, die in theoretischer Hinsicht in der Politischen Ökonomie zu verorten sind und/oder von der sozialen Produktion von Krankheit ausgehen, viel dafür getan haben, soziale Determinanten von Gesundheit in einen größeren Fokus zu rücken, jedoch wenig Ansätze dafür bieten, was diese Determinanten eigentlich determinieren. Hauptsächlich konzentriere sich jene Strömung auf die soziale Verteilung der bereits bekannten Risiken und protektiven Faktoren, von denen die meisten individualisierte Charakteristiken darstellen, die von konventionellen epidemiologischen Untersuchungen erfasst wurden.

Der biologische Aspekt werde, so Krieger, eher vernachlässigt. Mit ihrem ökosozialen Ansatz spricht sich Krieger für einen vielschichtigen Rahmen aus. 

Um dies zu veranschaulichen, benutzt sie z.B. die Verbindung von Brustkrebs und Schwangerschaft: Es ist bekannt, dass frühe Schwangerschaften das Risiko an Brustkrebs zu erkranken verringern, während bei Schwangerschaften, die erst nach dem 35. Lebensjahr erfolgen, jedoch das Risiko erhöht ist. Dieser Zusammenhang wird häufig dazu benutzt zu erläutern, warum die Inzidenz von Brustkrebs mit dem Wohlstand der Frauen ansteigt und warum die Rate während des 20. Jahrhunderts gestiegen ist. Denn Frauen mit höherem Bildungsniveau bekommen häufig erst später im Leben Kinder, und das Bildungsniveau der Frauen, besonders in den industrialisierten Gesellschaften, ist generell angestiegen. Entlang der sozialen Determinanten könnte nun darauf eingegangen werden, wie der soziale Status der Frauen, Zugang zu Verhütungs-mitteln und Infrastruktur für Schwangerschaftsabbrüche, das Alter bei der ersten Schwangerschaft beeinflussen. Der ökosoziale Ansatz würde aber jenseits der SDvG versuchen zu beleuchten, wie die Schwangerschaft an sich mit Brustkrebs zusammenhängt. Fragen wären: In welchem Zusammenhang stehen Schwangerschaft und Entwicklungsbiologie der Brust (Maturation der Lobuli und Ductus und veränderte Apoptosisraten)? Welche Einflüsse hat die Schwangerschaft auf das hormonelle und kardiovaskuläre System (Hormonsynthese innerhalb der Brust und Veränderungen der hormonellen Fluktuationsgröße und -frequenz; erhöhte Vaskularisierung der Brust)? Im Ergebnis würde die Schwangerschaft nicht nur als Einflussfaktor neu definiert werden, sondern auch als biologischer Prozess verstanden werden können, der die Empfänglichkeit für exogene Karzinogene verändern kann.

Krieger plädiert für eine neu konzipierte Epidemiologie, die entlang des Konzepts des Embodiments Menschen und ihre Gesundheitszustände im Kontext betrachtet und dabei die Dichotomie zwischen den sozialen und biologischen Strömungen aufzuheben versucht. Wissenschaftliche Gegebenheiten können dabei keinesfalls objektive Wahrheiten darstellen und müssen v.a. von den Ausfüh-renden (Ärzt_innen, Psychiater_innen, Psycholog_innen, anderen Gesundheitsarbeiter_innen) immer wieder neu hinterfragt werden. Mit der ökosozialen Epidemiologie werden Vorausset-zungen geschaffen, um Institutionen, Strukturen etc., die für soziale Ungleichheiten von Gesundheit verantwortlich sind, aufzudecken und zu benennen.

Es ist an uns, den Geschichten, die die Menschen und ihre Körper uns erzählen, zuzuhören und gemeinsam die krankmachenden Verhältnisse zu verändern! 

(Bemerkung: Einige Passagen sind entnommen und übersetzt aus den Texten Kriegers gelistet in den Literaturempfehlungen.)

Verweise

  1. von Ätiologie: Zweig, der sich mit den Ursachen der Entstehung von Krankheiten beschäftigt
  2. Zur Nicht-Haltbarkeit dieses Begriffes s. „Das Konzept ‚Race‘ und die Humanmedizin“ von Kunz und Spreckelsen in diesem Heft

Literaturempfehlungen: Nancy Krieger

  • Theories for social epidemiology in the 21st century: an ecosocial perspective, 2001
  • Embodiment: a conceptual glossary for epidemiology, 2005
  • Epidemiology and the People‘s Health: Theory and Context, 2011

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderausgabe Soziale Determinanten von Gesundheit, 2015)


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