GbP Sonderausgabe 2015 Dickel / Vagkopoulou

„Inequalities are measured; inequities are judged.“ 1

Kritische Sozial-Epidemiologie in Lateinamerika und ihre Kritik an der Forschung im globalen Norden - von Renia Vagkopoulou und Philipp Dickel

Die moderne kritische Sozialepidemiologie2 hat in Lateinamerika eine lange und vielschichtige Tradition. Insbesondere in den letzten 50 Jahren entstanden unterschiedliche nationale sowie supranationale Bewegungen und Theorieschulen in diesem Feld. Hinsichtlich der analytischen Schärfe, mit der medizinische Daten und gesellschaftliche Wirklichkeit verbunden werden, ist diese Forschung einzigartig, nicht zuletzt, weil es durch die Anbindung an Gesundheitsbewegungen eine Forschung ist, die auch jenseits wissenschaftlicher Institute erfolgt.

Trotzdem gehört die lateinamerikanische kritische Sozialepidemiologie nicht selbstverständlich zum Kanon der medizinischen Ausbildung im globalen Norden. Fangen wir deshalb mit einer historischen Einordnung an.

Historischer Hintergrund

Im Zuge der sogenannten zweiten Welle der importsubsituierenden Industrialisierung3 und der zunehmenden Verbreitung sozialistischer Ideen während der 60er Jahre fanden in vielen Ländern Lateinamerikas tiefgreifende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit krankmachenden Arbeitsbedingungen und ungleich verteilten Machtstrukturen statt. In den 70er Jahren gingen diese Debatten weiter, wenngleich unter sehr viel schwierigeren Bedingungen: Infolge von Staatsstreichen, die häufig vom Westen unterstützt wurden, hatten sich in mehreren Ländern Militärdiktaturen etabliert. 

Die festgestellten länderübergreifenden Gemeinsamkeiten hinsichtlich gesundheitlicher Ungleichheit entlang sozioökonomischer Unterschiede vertieften das Verständnis von den Zusammenhängen zwischen Gesundheit und der gesellschaftlichen Verteilung von Ressourcen und führten zu einem regelmäßigen transnationalen Austausch. Akteur_innen aus verschiedenen Ländern Lateinamerikas begannen, an einer Synthese aus sozialwissenschaftlicher und biomedizinischer Forschung zu arbeiten, die notwendigerweise auch eine Neuformulierung der Ausbildungsinhalte und des Selbstverständnisses von Gesundheitsarbeiter_innen einschloss.

Eine Person, die in diesen Jahren eine sehr einflussreiche Rolle einnahm, war der argentinische Arzt und Soziologe Juan César García. Als Forschungskoordinator innerhalb der Pan American Health Organisation (PAHO) organisierte er in den späten 70er und frühen 80er Jahren eine Reihe transnationaler Seminare der Sozialen Medizin – insbesondere die richtungsweisenden Treffen Cuenca I (1972) und II (1974) in Ecuador – und nutzte darüber hinaus seinen Einfluss und die durch die Rockefeller Foun-dation bereitgestellten finanziellen Ressourcen, um zum Aufbau von Instituten in der gesamten Region beizutragen und Stipendienprogramme aufzulegen.

Unter Rückgriff auf marxistische Theoretiker wie Gramsci, Althusser und Poulantzas verknüpfte García seine Überlegungen zu Gesundheit und Krankheit mit der Frage der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Staatlichkeit. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen entwickelte er einen stark historisch kontextualisierenden Ansatz, der die lateinamerikanische Sozialmedizin nach-haltig beeinflusst hat. In einem Interview, das er 1984 mit sich selbst führte, misst er folgenden historischen Ereignissen hinsichtlich der Entwicklung der lateinamerikanischen Sozialmedizin zentrale Bedeutung bei:

1. Durch die Revolutionen in Kuba (1959), Chile (1970) und Nicaragua (1979) entstanden öffentliche Gesundheitssysteme, die die Frage nach dem Umgang mit den krankmachenden Folgen gesellschaftlicher Ungleichheit radikal beantworteten: Nicht die Symptome sollen bekämpft werden, sondern die Ursachen, die Ungleichheit an sich. In diesem Zusammenhang kam auch Salvadore Allende – selbst Arzt und vor seiner Zeit als Präsident Chiles Gesundheitsminister – eine zentrale Rolle in der Ausgestaltung der Sozialmedizin zu. Das von ihm entwickelte Konzept für ein nationales Gesundheitssystem basiert ähnlich wie Che Guevaras „revolutionäre Medizin“ auf gesellschaftlichem Wandel und der damit einhergehenden Veränderung der Arbeits- und Lebensbedingen der Menschen. In der Ausbildung aller Gesundheitsberufe, einschließlich der Ärzte und Ärztinnen, wird ein Schwer-punkt auf die sozialen und gesellschaftlichen Ursprünge von Krankheiten gelegt und die Notwendigkeit der Veränderung der sozialen Lebensbedingungen als Voraussetzung von Gesundheit betont.

2. Nachdem sich in Brasilien und Argentinien Militärdiktaturen an die Macht geputscht haben, entwickeln sich Widerstandsbewegungen, die gegenüber der staatszentrierten Gesundheitsversorgung einen kritischen Standpunkt ein- nehmen und für die eigene Mitbestimmung eintreten. Mit der kritischen Medizin in Brasilien entsteht daraus eine eigene und sehr erfolgreiche Theorieschule, welche mit dem Sistema Único de Saúde (SUS) die Entwicklung eines auf Prävention ausgelegten Gesundheitssystems maßgeblich beeinflusst hat.

3. Angesichts des brachialen Strukturwandels unter neoliberalem Vorzeichen, der von Chile ausgehend in den 80er Jahren im Schlepptau der ersten Ölkrise in ganz Latein-amerika durchgesetzt wurde – die Diktatur unter Pinochet gilt als Laboratorium dieser Entwicklung – entsteht die sozialmedizinische Bewegung auch als Widerstandsbewegung und Gegentheorie zum Neoliberalismus.

Die lateinamerikanische Sozialmedizin vertrat zu jedem Zeitpunkt eine ausdrücklich linke politische Haltung; sie war und ist Teil gesellschaftlicher Transformationsbewegungen, durch die auf extremer ökonomischer, sozio-kultureller und politischer Ungleichverteilung basierende Regime gestürzt oder per Wahl abgelöst wurden. Durch die Bewegungsanbindung gründet sie sich auf eine aktive politische Praxis.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass auch die europäische Sozialmedizin vor dem Hintergrund einer revolutionären Epoche, dem 19. Jahrhundert und im Speziellen der Revolution von 1848 in Frankreich und Deutschland, entstanden ist. Einer der zentralen Vordenker war Rudolf Virchow. Sein Schüler Max Westenhofer lehrte später an der Universität von Chile; dort gehörte auch Allende zu seinen Studenten. Virchow kämpfte auf unterschiedliche Arten für eine andere Gesellschaft, unter anderem auch auf den Barrikaden der Märzrevolution 1848 in Berlin. Diese Tradition der europäischen Sozialmedizin mit einem Fokus auf gesellschaftliche Verhältnisse erlebte gegen Ende der Weimarer Republik mit der aufkommenden „Rassenhygiene“ und der Machtergreifung der National-sozialisten in Deutschland einen jähen Bruch. Nach den Jahren des nationalsozialistischen Terrors war man in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit in der Ärzteschaft sehr bemüht, alles Politische aus der Medizin herauszuhalten, gerade weil sich die übergroße Mehrzahl der nichtjüdischen Ärzte frühzeitig und mit Begeisterung der NSDAP angeschlossen hatten – eine Farce, behielten doch die Altnazis auch in Bundesrepublik ihre Doktorenkittel an.4

In Lateinamerika wurde im Gegensatz dazu die Tradition fortgesetzt und institutionalisiert. In vielen Ländern entstanden bereits sehr früh Stadtteilgesundheitszentren und sozialmedizinische Forschungsinstitute5. 1984 gründete sich auf Initiative von Juan César García die Lateinamerikanische Assoziation der Sozialen Medizin (ALAMES6), die bis heute eine wichtige Rolle im transnationalen Austausch und Wissenstransfer spielt.

Die jüngere lateinamerikanische Sozialmedizin, die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts mit den Wahlerfolgen vieler linksgerichteter Regierungen7 eine Blüte erlebt hat, konzentriert sich sowohl auf die epidemiologische Forschung als auch auf die Erforschung der strukturellen Determinanten von Gesundheit. Darüber hinaus liegt ein Fokus auf den von der Gesellschaft produzierten sozialen, ethnisierten und geschlechterspezifischen Machtverhältnissen und deren Auswirkungen auf Gesundheit und geht damit über die Beschäftigung mit den „allgemeinen“ ökonomischen Verhältnissen hinaus.
 Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen unter den zentralistisch organisierten Militärregierungen der 70er Jahre wird bei der Präventions- und Versorgungsforschung häufig mit dem Bezug auf die Community eine kleinräumigere Ebene betrachtet.

Theoretische Ansätze und Kritik

Im Folgenden werden exemplarisch einige Thesen8 der modernen lateinamerikanischen Sozialepidemiologie und ihre Kritik an der europäischen Forschung zu Sozialen Determinanten vorgestellt:

1. Kritik am Wissenschaftsbegriff

Gemein ist der lateinamerikanischen Forschung, dass sie sich sehr viel kritischer mit Wissenschaft an sich auseinandersetzt. Der im europäischen Raum in der Medizin dominierende positivistische Ansatz, demzufolge die Welt mithilfe von Instrumenten und Formeln berechnet und damit „objektiv“ abgebildet werden kann, hat hier einen viel schwereren Stand. Anders als im Mainstream der europäischen Forschung existiert ein Bewusstsein darüber, dass auch die Wissenschaft als „symbolischer Betrieb“ Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist und Wahrheiten nicht einfach durch Laboruntersuchungen entdeckt, sondern selbst hergestellt werden. Insofern müssen die Forschungs-ergebnisse in den Kontext der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse, der Kämpfe und Aushandlungsprozesse gestellt werden, um ihre Aussagekraft zu prüfen. Zugleich sollen die gesellschaftlichen Bedingungen zum Untersuchungsgegenstand werden.

2. Kritik an der epidemiologischen Analyse

In Bezug auf den epidemiologischen Ansatz übt der lateinamerikanische Forschungszweig Kritik an der WHO Commission on Social Determinants of Health (CSDH). Ihr wird vorgeworfen, durch ihre neokausalistische9 Argumentation die Zusammenhänge zu stark zu simplifizieren. Die sozialen Determinanten werden isoliert und als einzelne Risikofaktoren verhandelt, die lediglich über externe Verbindungen zusammengebracht werden. Demgegenüber betonten die Kritiker_innen die Komplexität der wechselseitigen Auswirkungen sozialer Faktoren auf individuelle und kollektive Gesundheit. Sie stellen sich damit gegen einfache Kausalketten im Stil von: Weil XY als Kind armer Eltern zur Welt kam, lebte er in einem armen Stadtteil und ging dann auf eine schlechte Schule, hat jetzt keinen Job, ernährt sich unausgewogen und ist deshalb krank. Soziale Determinanten sollten stattdessen als Ausdruck historisch bedingter Prozesse untersucht werden, die notwendigerweise eine starke Verflechtung untereinander aufweisen.

Martinez weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass das Ursache-Wirkung-Prinzip als „großer Organisator und Logik des Universums“ postuliert werde. Diese in der Realität unterstellte lineare Kausalität ist ihrer Meinung nach allerdings nur ein weiteres Beispiel dafür, wie stark das positivistische Denken trotz seiner offenkundigen Begrenztheit in der Forschung verankert ist. Die Rolle der Probanden kann in dieser Art der Forschung nur die des Objekts sein. Martinez fordert dagegen, sie als Subjekte einzubeziehen, um zu verstehen, wie sie ihre Umwelt interpretieren, sie gestalten und verändern.

3. Ansätze der lateinamerikanischen Schule

Breilh weist darauf hin, dass die lateinamerikanische Sozialmedizin und Sozialepidemiologie sich auf verschiedenen Ebenen den Gesundheit und Krankheit bedingenden Faktoren nähert. Ein wichtiger Aspekt ist hier die Kontextualisierung der Forschung: Arbeit, Bildung und Wohnort werden nicht einfach als singuläre Fakten gewertet, die ein bestimmtes Risiko implizieren, sondern werden als Manifestationen der historisch gewachsenen gesellschaftlichen Machtverhältnisse untersucht. Prozesse der Rassifizierung/Ethnisierung sind dabei verschränkt mit genderbedingter Diskriminierung und klassenspezifischen Ausschluss- und Einschlussmechanismen. Der Unterschied zur europäischen SDH-Forschung schlägt sich auch in den Begriffen nieder: In der lateinamerikanischen Forschung wird der Begriff der „sozialen Determination“ vorgezogen, da mit diesem Begriff nicht Faktoren in den Vorder-grund gerückt werden – die „sozialen Determinanten“ –, sondern die umkämpften gesellschaftlichen Verhält-nisse und damit die Wandelbarkeit der gesund- und krankmachenden Faktoren. An dieser Stelle offenbart sich in Bezug auf die Sozialmedizin der Unterschied zwischen der eher akademisch geprägten europäischen Forschung und der noch immer aktiv in der Tradition der sozialrevolutionären Bewegung stehenden latein-amerikanischen Forschung: Während in Studien der ersteren Richtung bestenfalls Policy-Empfehlungen für Regierungen zur Linderung der identifizierten Probleme formuliert werden, propagiert die Sozialmedizin in Lateinamerika häufig die tatsächliche Umwälzung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung mitsamt einer Neuverteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Trotz ihrer bahnbrechenden theoretischen, methodischen und empirischen Fortschritte für die sozialmedizinische Forschung werden die oben genannten Ansätze im globalen Norden nur vereinzelt wahrgenommen. Ein postkolonialer Moment in der westlichen Wissenschaft – individuell unbewusst, strukturell jedoch ein Anzeichen für das Fortwirken überkommener Herrschaftsbeziehungen, die auch heute noch den einstigen Kolonien eine periphere Bedeutung zuweisen und so die eigene Dominanz bei der „Entdeckung der Wahrheit“ sichern. Wir brauchen aber gerade dieses Wissen, für eine andere Idee von Gesundheit und Gesundheitsversorgung und auch für die kommenden Kämpfe in Europa. Fangen wir also an, die uns bislang verborgen gebliebenen Schätze zu heben!

Verweise

  1. Das Zitat aus der Zeitschrift Social Medicine (Volume 4, Nummer 2, Juni 2009, abrufbar unter www.socialmedicine.info) weist auf einen wesentlichen Kritikpunkt der lateinamerikanischen Sozialepidemiologie an der SDH-Forschung der WHO hin: Die Commission on Social Determinants of Health (CSDH) und andere Institute messen zwar Ungleichheiten, versäumen es aber, die Verursacher_innen und das strukturell ungerechte System dahinter zu benennen. Ungerechtigkeiten werden demnach in der Forschung im globalen Norden häufig nicht verurteilt.
  2. Die Bezeichnungen der verschiedenen Ansätze und Theorieschulen in Lateinamerika variieren. Jamie Breilh verwendet als Klammer für die progressive Forschung den Begriff kritische Sozialepidemiologie.
  3. Eine wirtschaftspolitische Strategie, deren zentrale Zielsetzung die Stärkung und der Ausbau des infolge (neo-)kolonialer Ausbeutung inexistenten oder schwachen Binnenmarktes ist.
  4. In der DDR wurde die Tradition der Sozialmedizin unter Kurt Winter wesentlich früher wieder aufgenommen.
  5. Zu nennen sind hier insbesondere die Institute und Abteilungen an der Universität von San Marcos in Lima/Peru und das Oswaldo Cruz Institut in Rio de Janeiro/Brasilien.
  6. Asociación Latinoamericana de Medicina Social
  7. V.a. Venezuela, Brasilien, Bolivien, Ecuador, Argentinien und Uruguay
  8. Prominente Vertreter_innen der lateinamerikanischen Schulen sind u.a. Jaime Breilh, Carolina Martinez und Cristina Laurell.
  9. Neokausalistisch weist hier auf die, trotz des historisch umkämpften Ansatzes, reine Bezugnahme auf das Ursache-Wirkungs-Prinzip hin. Der Dialektische Materialismus weist demgegenüber beispielsweise auf die inneren Widersprüche der zu untersuchenden Gegenstände und auf die im Laufe der Entwicklung auftretenden neuen Qualitäten hin, welche eine lineare Kausalkette häufig nicht abbilden.

Literaturempfehlungen

  • Franco/Nunes/Breilh/Laurell: Debates en Medicina Social, Quito 1991
  • Asa Cristina Laurell/Mariano Noriega: La Salud en la Fabrica, Mexico 1989
  • Betancourt/Breilh/Campana/Granda: Reproduccion social y Salud, Guadalajara 1991
  • Jaime Breilh: Epidemiologia Critica: Ciencia Emancipadora E Interculturalidad, Buenos Aires 2003
  • Asociación Latinoamericana de Medicina Social (ALAMES), www.alames.org
  • Social Medicine ist ein bilinguales open-access Journal des Montefiore Medical Center Albert Einstein College of Medicine und der ALAMES www.socialmedicine.info
  • International Association of Health Policy (IAHPI), www.healthp.org

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderausgabe Soziale Determinanten von Gesundheit, 2015)


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