GbP Sonderausgabe 2015 Editorial Poliklinik

Das vorliegende Heft ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen dem vdää und der Poliklinik Gruppe Hamburg. Es richtet sich an alle, die sich für die Zusammenhänge von Gesellschaft und Gesundheit interessieren und Alternativen zu dem aktuellen Gesundheitssystem anstreben.

In Deutschland besteht ein Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den reichsten und ärmsten Bevölkerungsgruppen von etwa 10 Jahren. Solche Unterschiede bestehen auch für die Mehrheit chronischer Erkrankungen und das in allen Lebensphasen. Diese gesundheitlichen Ungleichheiten finden ihre Ursache zum größten Teil in der Gesellschaft, den „sozialen Determinanten von Gesundheit.“ Die Kommission der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat 2008 die Bekämpfung von gesundheitlichen Ungleichheiten als übergeordnetes gesellschaftliches Ziel benannt und gefordert, jegliche politischen Entscheidungen darauf auszurichten. Dieses Heft stellt verschiedene Forschungsansätze zu diesem Themengebiet vor. Grundlegende Forschungsergebnisse zu den sozialen Determinanten von Gesundheit kommen aus Großbritannien. Die Whitehall-Studien haben den Einfluss psychosozialer Faktoren auf die Gesundheit nachgewiesen. Während die angelsächsische Forschung stark von der Epidemiologie mit ihrem aus der traditionellen Naturwissenschaft herrührendem objektivierbaren Ursache-Wirkungsprinzip dominiert ist, hat sich in Lateinamerika die „kritische Sozialepidemiologie“ entwickelt, die einen anderen Blickpunkt einnimmt. Sie kritisiert die angelsächsische Forschung für die isolierte Betrachtung einzelner epidemiologischer Einflussfaktoren, ohne den Menschen in der Interaktion mit seiner gesamten Umwelt zu erfassen. Wie die soziale und physische Umwelt biologische Prozesse im Körper beeinflusst und damit in den Körper „einschreibt“, beschreibt das Konzept Embodiment. Für rein biomedizinisch geschulte Gesundheitsarbeiter_innen eröffnet es neue Perspektiven für das Verständnis von Entstehung von Krankheit. Manche vermeintlich biologische Kategorien entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als soziale Kategorien. Die in der Medizin häufig verwendete Einteilung nach „Kaukasiern“, „Asiaten“ etc. verhandelt verschiedene Krankheitshäufigkeiten als rein biologisch bedingt. Im Sinne einer auf vermeintlich genetischer Homogenität gesellschaftlicher Gruppen beruhenden Ursächlichkeit ist dies nicht haltbar und blendet soziale Ursachen aus. Im besten Fall führt dies einfach nur zu Unverständnis und zur Reproduktion von Stereotypen, im schlechteren Fall jedoch zu Behandlungsfehlern. Obwohl viele soziale Determinanten von Gesundheit außerhalb des direkten Einflusses des Gesundheitssystems liegen, hat die Art und Weise wie das Gesundheitssystem organisiert ist, Auswirkungen auf gesundheitliche Ungleichheiten. Die Weltgesundheitsorganisation sieht es als Aufgabe der Gesundheitsversorgung, die verschiedenen Determinanten von Gesundheit zu erkennen, zu berücksichtigen und für eine Reduktion dieser Ungleichheiten einzutreten. Von diesem Ziel ist die gegenwärtige Organisation des deutschen Gesundheitssystems weit entfernt; sie ist vielmehr von einer Vielzahl anderer Interessen geprägt. Das Konzept der Klassenmedizin geht auf diese Aspekte ein und stellt eine praktische alternative Anleitung für Ärzt_innen dar.

Aus den Erkenntnissen der im Heft dargestellten Zusammenhänge folgt, dass rein biomedizinische Interventionen nicht die alleinige Grundlage für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung sein können. Sozialarbeit, Psychotherapie und präventionsorientierte Gesundheitspflege nehmen beispielsweise einen ebenso wichtigen Stellenwert ein. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Berufsgruppen sollte daher gleichberechtigt und partnerschaftlich organisiert sein. Menschen aus einem Stadtteil sollten in der Ausgestaltung der örtlichen Gesundheitsversorgung partizipieren und Gesundheitsarbeiterinnen für die Verbesserungen der lokalen sozialen Determinanten von Gesundheit ihrer Patient_innen eintreten. Die Poliklinik Gruppe beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Aufbau eines Stadtteilgesundheitszentrums als common (Kollektivgut), in dem Krankenversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung zusammen gedacht werden und das Gesundheitszentrum zum Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung wird. Ein Interview aus der Zukunft anlässlich des zehnjährigen Geburtstages der Poliklinik gibt Einblicke was aus dem Projekt bis dahin geworden sein wird.

Die Gestaltung des Heftes greift die Auseinandersetzung um differierende Auffassungen von Forschung und Wissenschaftlichkeit auf, indem sie gewohnte Blickregime verwirrt und mit dem Spannungsfeld zwischen Objektivität und Subjektivität spielt. In der Forschungsliteratur vermitteln Schaubilder eine Sphäre von Wissenschaftlichkeit und Objektivität; in diesem Heft stellen Schaubilder die Grenze zwischen Wissenschaftlichkeit und Absurdität, zwischen Wahrheit und Ideologie, zwischen Objekt und Subjekt infrage.

Wenn die gesellschaftliche Ungleichheit der zentrale Faktor für Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod ist, bedeutet das, dass wir die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, grundlegend ändern müssen, wenn wir ernsthaft eine Verbesserung des Gesundheitszustands der Massen erwirken wollen. In der Schlichtheit dieser Aussage liegt zugleich die Radikalität: Gesundheitsversorgung und -vorsorge muss weit über den medizinischen Bereich hinaus gedacht werden; das Wissen liegt nicht einfach bei der jeweiligen Expert_in, sondern zunächst bei jedem und jeder selbst; in der gemeinsamen Entwicklung einer gesellschaftlichen Transformationsstrategie entfaltet sich das Potenzial eines neuen Präventionsbegriffs.

Begeben wir uns also in das Getümmel von Analyse und Kritik. Tragen wir die Debatte um soziale Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit zurück in die Gesellschaft!

Der vdää und die Poliklinik Gruppe freuen sich über Kritik und Anregungen.

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Sonderausgabe Soziale Determinanten von Gesundheit, 2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf