GbP 4-2015 Wulf Dietrich

Karl Brandt – Begleitarzt Hitlers und Organisator der T4-Morde

Rezension von Wulf Dietrich

Ulf Schmidt: »Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich«

Berlin 2009, Aufbau Verlag, ISBN 9783351026714, 750 Seiten, 29,95 Euro

Es war ein Unfall, ein Unfall in der Nähe von Berchtesgaden mit Verletzungen, bei dem der Arzt Karl Brandt erste Hilfe leistete und der ihn in die Nähe Hitlers brachte und aus dem schließlich einer der mächtigsten Mediziner des Dritten Reiches wurde. In der Biografie »Hitlers Arzt Karl Brandt. Medizin und Macht im Dritten Reich« beschreibt der Historiker Ulf Schmidt den Aufstieg und das Ende dieses Mediziners während der Naziherrschaft. In zweierlei Hinsicht ist diese 750 Seiten-Biografie, die, wie es sich für einen Historiker geziemt, mit fast 150 Seiten Anmerkungen versehen ist, lesenswert: Zum einen skizziert sie exemplarisch das Medizinverständnis von Nazi-Ärzten, denen es im Wesentlichen um die Behandlung und Gesundung des Volkskörpers und nicht um die Genesung des individuellen Patienten ging. In den Vorstellungen Brandts spielte die Gesundheit des Individuums keine Rolle, er konnte sein Euthanasie-Programm und die Menschenversuche ohne Skrupel durchführen, da sie ja dem Großen und Ganzen dienten.

Zum anderen gibt diese Biografie einen sehr guten und detailreichen Einblick in die politischen Machtstrukturen des Dritten Reiches. Die politische Kommunikation verlief nicht in funktionalisierten Bahnen, es fanden in den späteren Jahren keine Kabinetts- oder Reichstagssitzungen mehr statt. Politische Entscheidungen wurden ohne Einbindung politischer Instanzen in Form eines personalisierten Führungsstils gefällt. Zudem gelangte der Arzt Karl Brandt nicht über politische Institutionen oder medizinische Fachgesellschaften zu seiner Machtposition, er hatte auch über lange Zeit bis zum Beginn des Weltkrieges keine offizielle Position im Geschehen der Nazis inne. Dennoch entwickelte er sich zum einflussreichsten und mächtigster Mediziner des Dritten Reiches, zum Herrn über Leben und Tod, zu einem der Hauptkriegsverbrecher.

Karl Brandt, Jahrgang 1904 studierte in Berlin und in München Medizin. Bis zu seinem Examen studierte er in Freiburg und kam dort mit dem berüchtigten Psychiater Alfred Hoche, der bekannt für seine Ausführungen zur Euthanasie war, in Kontakt. Hoche hatte 1920 gemeinsam mit dem Juristen Binding mit seinem Traktat über die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens die ideologische Grundlage für die spätere Massenvernichtung im Dritten Reich gelegt. Brandt durchlief die Weiterbildung zum Chirurgen und war politisch nicht wesentlich aktiv. Anfang der Dreißiger Jahre spielte er sogar mit dem Gedanken, zu Albert Schweitzer nach Afrika zu gehen. Erst mit der Abkehr von Schweizers christlicher Ideologie wandte er sich dem Nationalsozialismus zu. Er trat 1932 der NSDAP, 1933 der SA. Aus Angst, es könnte seiner medizinischen Karriere abträglich sein, engagierte er sich aber nicht an herausragender Position in der Nazibewegung. Über seine Frau Anna Rehborn, die eine bekannte Schwimmerin war, kam er in lockeren Kontakt zu Adolf Hitler.

Da er Hitlers Fahrer nach dessen Unfall operierte und versorgte, kam in engeren Tuchfühlung zum Berghof. 1934 wurde er zum Begleitarzt Hitlers. Schon 1934 genoss er einen solchen Ruf innerhalb der NS-Hierarchie, dass bei seiner Hochzeit Göring anwesend war und sogar Hitler kurz erschien. Seither lebte er in unmittelbarer Nähe Hitlers, hatte aber keine formale Funktion innerhalb der MS Hierarchie.

Mit Kriegsbeginn wurde Brandt von Hitler beauftragt, das »Euthanasie«-Programm zu planen und durchzuführen. Für dieses Programm gab es keine gesetzliche Grundlage. Es existiert nur eine Weisung Hitlers vom 1. September 1939, in der er Brandt mit der Durchführung der Euthanasie-Aktion beauftragte. Ein formales Gesetz zur Durchführung dieses Massenmordes gab es nicht. In strikter Geheimhaltung wurde die Aktion T4 geplant und durchgeführt. Da es keine gesetzliche Legitimation für diese Aktion gab, scheute Brandt die Konfrontation und versuchte die Ziele mit Kompromissen durchzusetzen. Interessant ist, dass er sich mit dem Direktor der Anstalt in Bethel, Bodelschwingh, der ein ganz entschiedener Gegner der Euthanasie war, mehrfach traf, um ihn von der Notwendigkeit der T4-Aktion zu überzeugen. Zwar führte der zunehmende Druck aus der Öffentlichkeit 1941 zum offi­ziellen Ende der T4-Aktion, doch ging der Mord an behinderten Kindern mit Wissen von Brandt auch später weiter.

Als sich abzeichnete, dass der Krieg in der Sowjetunion verloren würde, wurde Brandt von Hitler zum Bevollmächtigten für das Sanitäts- und Gesundheitswesen ernannt. Damit setzte er sich im Kompetenz-Chaos der NS-Strukturen gegen andere konkurrierende Medizinfunktionäre durch. Er wurde damit quasi zum Generalkommissar des Gesundheitswesens. Wichtig dabei ist, dass diese Posi­tion nicht durch irgendeine herausragende Rolle in der Partei oder im Staat legitimiert wurde. Gleichzeitig beschäftigte sich Brandt zu dieser Zeit sehr intensiv mit Fragen von medizinischer Ethik.

Je aussichtsloser die Kriegslage wurde, desto mehr war Brandt in Menschenversuche involviert. Es waren Ernährungsversuche oder Sulfonamid-Experimente, die in Kriegsgefangenenlagern oder KZ durchgeführt wurden. Für all diese Versuche gab es keine offiziellen Weisungen, sondern sie wurden stillschweigend von Brandt akzeptiert, aber auch aktiv unterstützt.

1943 fühlte sich Brandt an der Spitze des deutschen Gesundheitswesens stehend und plante die Einrichtung eines Gesundheits-Ministeriums. Dieser fast unaufhaltsame Aufstieg eines Außenseiters, der kein »alter Kämpfer« war, stieß aber auf den erbitterten Widerstand führender NS-Größen. Besonders Martin Bormann entwickelte sich zu seinem Gegenspieler. Brandt wurde zwar noch 1944 zum Reichskommissar für das deutsche Gesundheitswesen ernannt, doch begann mit diesem Höhepunkt seiner NS-Karriere gleichzeitig sein Niedergang. Als er Hitler 1945 über den Zusammenbruch der medizinischen Versorgung informierte, wurde er des Defätismus beschuldigt und im April 1945 verhaftet. Er wurde zum Tode verurteilt und entging der Erschießung nur durch das Ende des Krieges.

Nach Kriegsende wurde Brandt von den Alliierten verhaftet. Da er der Hauptverantwortliche für die Forschung auf dem Gebiet der biologischen und chemischen Kriegsführung war und gleichzeitig die oberste medizinische Autorität des Naziregimes verkörperte, wurde er der Hauptangeklagte im Nürnberger Ärzte-Prozess 1946/47. In diesem Prozess wurde er zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet. Bis zu seinem Ende bereute Brandt sein Verhalten während der Nazizeit nicht, er reklamierte hingegen ethisch-idealistische und moralische Motive für sein Handeln.

Zusammenfassend stellt Ulf Schmidt fest: Brandt verkörperte Elemente eines rationalen Medizinwissenschaftlers mit denen eines äußerst effizienten Organisators, der sich zudem für antike Kulturen, Mystizismus, Rassen, Eugenik und Romantik interessierte. Es sei genau diese Kombination aus politischem und ideologischem Radikalismus mit einer besonderen Form von Rationalität, medizinischer Ideologie und Weltanschauung, die einen rationalen, hochkultivierten und gebildeten jungen Akademiker dazu führten, Massenmord und verbrecherische Menschenversuchen in bisher unbekanntem Ausmaß zu initiieren und zu verantworten.
Dieses äußerst flüssig geschriebene Buch ist lesenswert, weil es zeigt, wie Mitglieder der deutschen intellektuellen Elite im Stande waren, die rassistische und menschenverachtende Politik der Nazis zu unterstützen und aktiv zu fördern. Gleichzeitig gibt es Einblick in die völlig intransparenten politischen Machtstrukturen des Nazi-Regimes.

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)


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