NS-Geschichte auf dem Jahrmarkt des Pharmainfantilismus
Immerhin schaffte es die »Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin« (DGIM) 70 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus, ihre Geschichte in der NS-Zeit aufzuarbeiten. Andere medizinische Fachgesellschaften hatten sich diesem Thema schon deutlich früher zugewandt (z.B. die »Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde« im Jahr 1998). Mit der Gestaltung einer entsprechenden Ausstellung wurden die beiden renommierten Historiker Ralf Forsbach und Hans-Georg Hofer beauftragt. Beim 121. Kongress der DGIM im April dieses Jahres in Mannheim wurde die Ausstellung und der aufwendig gestaltete Katalog präsentiert. Die Ausstellung stellte in einem von der umgebenen Industrieausstellung abgesonderten Raum auf großen Stellwänden Bilder und Texte zum Thema dar. Man konnte hier einiges lernen über vorauseilenden Gehorsam, Anpassung, Denunziation, Beteiligung an NS-Verbrechen und auch über den ärztlichen Widerstand.
Hitler war keine zwei Monate Reichskanzler, als der Vorstand der DGIM beschloss, den von den NS-Machthabern als Jude eingestuften Leopold Lichtwitz als Vorsitzenden abzusetzen. Der systematische Ausschluss jüdischer Mitglieder, die häufig gezwungen wurden, ins Exil zu gehen, führte dann auch bald zu einem wissenschaftlichen Qualitätsverlust, der sich u.a. am sinkenden Niveau der Jahreskongresse zeigte.
Durchaus interessant an der Ausstellung war die Darstellung der Widersprüche zwischen esoterisch anmutenden NS-»Neuen Deutschen Heilkunst« und der etablierten naturwissenschaftlicher Medizin, die als »jüdisch durchsetzt« denunziert wurde, der aber auch nach der Machtübernahme des Faschismus weiterhin viele Wortführer der gleichgeschalteten Fachgesellschaft anhingen. Überzeugte Nazis waren in beiden Lagern zu finden. Bei diesen Auseinandersetzungen ging es nicht nur um das Medizinverständnis sondern auch darum, das Behandlungsmonopol der Ärzteschaft zu sichern. Im Rahmen der Kriegsplanung wurde vom NS-Regime eine effektive Militärmedizin gefordert, was es der Universitätsmedizin ermöglichte, sich gegenüber alternativen Heilmethoden durchzusetzen. Nicht wenige aus der Führungsriege der DGIM waren an Humanexperimenten mit Salzwasserversuchen, Fieberexperimenten und Giftgas in Konzentrationslagern oder zu Hepatitis und Multipler Sklerose in Kliniken beteiligt. Wenig verwunderlich ist, dass der Überfall auf und Vernichtungskrieg gegen andere Länder von der DGIM-Führung enthusiastisch begrüßt wurde. Die Ausstellung erinnerte auf der anderen Seite auch an die wenigen Mitglieder, die sich aktiv am Widerstand gegen das NS-Regime beteiligten wie Walter Seitz aus dem Umfeld der »Weißen Rose«.
Alles Themen, die mit viel Sorgfalt und durchaus auch textträchtig präsentiert wurden. Die eigene Konzentration auf die Inhalte war gefragt.
Nun war diese Ausstellung konfrontiert mit der heutigen Realität medizinischer Fachkongresse, die immer mehr einem Jahrmarkt der Pharmaindustrie gleichen. Entsprechend wurde man bei Lesen der Stelltafeln immer wieder von Vertretern der Pharmaindustrie, teilweise als Tabletten und Pillen verkleidet, wie sie Fernsehsendungen für Vorschulkinder entsprungen sein könnten, für irgendwelche Werbemaßnahmen angesprochen. Als ich nach der dritten derartigen Ansprache bei meiner Antwort etwas lauter wurde, war die Reaktion in meiner Umgebung gespalten. Neben beifälligem Nicken, war auch einiges Erstaunen zu beobachten…
In einer Email an den Kongresspräsidenten Prof. Hallek schlug ich eine angemessenere Würdigung der Präsentation vor. Die lapidare Antwort war, man würde den wichtigen Hinweis bei der Auswertung berücksichtigen. Der Verdacht liegt nahe, dass es der DGIM mehr darum ging, sich einer lästigen Pflicht zu entledigen, als eine für Gegenwart und Zukunft fruchtbare Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu befördern.
Bernhard Winter
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)