Freudigst begrüßt...
Entrechtung, Ausschaltung und Vertreibung der jüdischen und staatsfeindlichen Ärztinnen und Ärzte im Nationalsozialismus
Ursula Ebell erzählt die Geschichte der Ärzteschaft in Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus und erinnert dabei auch an das Schicksal der entrechteten, vertriebenen und ermordeten Kolleginnen und Kollegen.
Auf Initiative der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und der SPD-Fraktion in der Bezirksvertretung des Kölner Stadtteils Lindenthal wird am 20. Mai 1986 die dortige Haedenkampstraße, Sitz der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, umbenannt in Herbert-Lewin-Straße – gegen deren Widerstand.
Dr. Herbert Lewin, Jahrgang 1899, 1935 Chefarzt der Gynäkologie und Geburtshilfe am Berliner Jüdischen Krankenhaus, ab 1937 im Krankenhaus des Israelitischen Asyls in Köln tätig, wird im Oktober 1941 zusammen mit seiner Frau nach Lodz deportiert. Während seine Frau ums Leben kommt, überlebt Dr. Lewin. Nach seiner Habilitation wird er 1950 zum Chefarzt der Städtischen Frauenklinik in Offenbach berufen – begleitet von massiver antisemitischer Hetze. Dazu später mehr.
Rückblick: 30 Jahre zuvor, im Juni 1956, erhielt die Bundesärztekammer, offizielle Nachfolgerin der Reichsärztekammer, auf ihre Initiative hin in Köln die Adresse »Haedenkampstraße 1«, um Dr. Karl Haedenkamp für seine besonderen Verdienste um die ärztlichen Standesorganisationen zu ehren. Pikant, denn bereits 1933 war er, als Antisemit und Gegner der Gesetzlichen Krankenkassen in der Weimarer Republik bekannt, von Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner zur Ausschaltung jüdischer, sozialdemokratischer und kommunistischer Kollegen und damit zur Gleichschaltung des Gesundheitswesens ins Reichsarbeitsministerium berufen worden. Seiner Karriere nach 1945 tat das keinen Abbruch. Haedenkamp organisierte den Wiederaufbau der westdeutschen ärztlichen Standesorganisation, war zeitweise Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern und geschäftsführender Vorsitzender des Präsidiums des Deutschen Ärztetages.
30 Jahre dauerte es, bis es zur Änderung des Straßennamens kam. Und nochmals nahezu so lange, bis sich 2012 auf dem Deutschen Ärztetag in Nürnberg die Ärzteschaft öffentlich zu ihrer Verantwortung im Nationalsozialismus bekannte: »Wir erkennen die wesentliche Mitverantwortung von Ärzten an den Unrechtstaten der NS-Medizin an (…) Diese Verbrechen waren auch nicht die Taten einzelner Ärzte, sondern sie geschahen unter Mitbeteiligung führender Repräsentanten der verfassten Ärzteschaft.« Einstimmig wurde eine entsprechende Resolution verabschiedet.
Im Vorwort des Begleitheftes zu der Ausstellung »›Fegt alle hinweg…‹ – Zum Approbationsentzug der jüdischen Ärztinnen und Ärzte«, die zum offiziellen Programm dieses Ärztetages gehörte, schreibt Dr. Montgomery unmissverständlich: »Führende Vertreter der Ärzteschaft waren maßgeblich an der Vertreibung ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt.«
»Fegt alle hinweg, die die Zeichen der Zeit nicht verstehen wollen«, hetzte Dr. Gerhard Wagner, der Vorsitzende des Nationalsozialistischen Ärztebundes, im März 1933 in einem Aufruf an die Ärzte. Bereitwillig folgte die Ärzteschaft und ließ sich innerhalb weniger Monate gleichschalten. Auf allen Ebenen wurden »jüdische« – nach den rassistischen Kriterien der NS-Gesetzgebung – und politisch links bzw. sozial engagierte Ärztinnen und Ärzte als »staatsfeindliche« Personen ihrer Funktionen enthoben und ausgeschlossen und die politische Führung dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund übergeben.
Wie konnte diese offene Gewalt innerhalb der deutschen Ärzteschaft gegenüber weithin bekannten und verdienten Kollegen und Kolleginnen so schnell Erfolg haben?
Verglichen mit anderen akademischen Berufsgruppen war der Organisationsgrad unter den Ärzten der höchste: Mit regionalen Unterschieden waren etwa 50 Prozent Mitglieder der NSDAP bzw. aktiv in der SA und/oder SS. Ihre Haltung gegenüber den »jüdischen« und politisch unliebsamen Kolleginnen und Kollegen nährte sich aus einer kruden Mischung von biologistischen, rassistischen und ideologischen Ressentiments. Daneben spielten zweifelsohne ökonomische Gründe keine unbedeutende Rolle: Viele junge Ärzte hatten in der Folge der Weltwirtschaftskrise keine feste Stelle und mussten als sogenannte Volontärärzte, d.h. ohne Bezahlung, ihre Facharztausbildung absolvieren. Durch die Verdrängung und Ausschaltung von etwa 9 000 jüdischen Ärztinnen und Ärztinnen im Reichsgebiet boten sich hervorragende Berufschancen.
Bereits am 22. März 1933 telegrafierte Geheimrat Dr. Alfons Stauder, der Vorsitzende von Ärztevereinsbund und Hartmannbund, an Adolf Hitler: »Die ärztlichen Spitzenverbände Deutschlands … begrüßen freudigst den entschlossenen Willen der Reichsregierung der nationalen Erhebung«. Das neue Regime belohnte die »arische« Ärzteschaft für die vorbehaltlose Unterstützung: Schon am 2. August 1933 wurde eine einheitliche Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands als Körperschaft des öffentlichen Rechts geschaffen – eine langjährige Forderung der organisierten deutschen Ärzteschaft. Am 1. April 1935 erfüllten die Nationalsozialisten eine weitere Forderung: eine öffentlich-rechtliche Reichsärztekammer mit Zwangsmitgliedschaft für alle deutschen Ärzte.
Schlag auf Schlag erfolgte die Verdrängung der jüdischen Ärzte: Am 24. März 1933, zwei Tage nach seiner Ergebenheitsadresse an Hitler, vereinbarte Stauder mit Dr. Gerhard Wagner, dem 1. Vorsitzenden des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes, »im Sinne der deutschen Ärzteschaft beschleunigt dafür Sorge zu tragen, dass aus Vorständen und Ausschüssen die jüdischen Mitglieder ausscheiden und Kollegen, die sich innerlich der Neuordnung nicht anschließen können, ersetzt werden. Ferner ist … darauf zu dringen, dass jüdische und marxistische Vertrauensärzte beschleunigt ersetzt werden.« (nach Bayerische Ärztezeitung vom 1. April 1933). Am 6. April schließlich konnte das <i>Deutsche Ärzteblatt</i> stolz den Vollzug melden: »Die Entfernung von Juden und Marxisten aus den Vorständen und Ausschüssen hat sich ohne Schwierigkeiten erreichen lassen und ist im Allgemeinen durchgeführt«.
Der reichsweite Boykottaufruf am 1. April 1933 – mit massiver Einschüchterung durch SA-Posten vor jüdischen Geschäften und Anwaltskanzleien – richtete sich auch gegen jüdische Ärzte, begleitet von einer beispiellosen Schmutzkampagne durch Gauleiter Julius Streichers antisemitisches Hetzblatt Der Stürmer.
Das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 zielte auf den Ausschluss von Juden und politischen Gegnern des Nationalsozialismus aus dem öffentlichen Dienst: In öffentlichen Kliniken tätige jüdische Ärzte wurden in den Ruhestand gezwungen bzw. entlassen, Fürsorgeärzte verloren ihre Funktion.
Mit der »Verordnung über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen« vom 22. April 1933 sollten jüdische Kassenarztpraxen (in Berlin z.B. etwa 43 Prozent, in Frankfurt rund ein Drittel) für »deutsche« Ärzte freigemacht werden. Eine vorläufige Ausnahmeregelung bestand nur für Soldaten im 1. Weltkrieg. Die Nürnberger Gesetze vom 15. September 1935 waren die juristische Grundlage für die Diskriminierung und Verfolgung der Juden. Das »Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« verbot Juden, nicht-jüdische Hausbedienstete unter 45 Jahren zu beschäftigen. Davon betroffen war auch Praxispersonal. Ehen bzw. außereheliche Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden waren untersagt. Zuwiderhandlung wurde als »Rassenschande« geahndet.
Mit dem Inkrafttreten der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli zum 30. September 1938 erloschen die Approbationen aller jüdischen Ärztinnen und Ärzte. Sie verloren damit die Möglichkeit, ihren Beruf weiter auszuüben. Zum 31. Januar 1939 wurde das Verbot auf die jüdischen Zahnärzte, Tierärzte und Apotheker ausgeweitet.
Waren 1933 bei einer Gesamtzahl von etwa 52 000 Ärzten mehr als 15 Prozent nach den rassistischen Kriterien der NS-Gesetzgebung »jüdisch«, d.h. mindestens 8 000, so betraf der Approbationsentzug 1938 noch 3 152 jüdische Ärztinnen und Ärzte. Viele waren bereits ins Exil getrieben worden oder hatten verzweifelt ihrem Leben ein Ende gesetzt. Lediglich 709 durften noch als sogenannte »jüdische Krankenbehandler« ihre Familien und Juden bis zu ihrer Deportation behandeln.
Neben der endgültigen Vernichtung ihrer beruflichen Existenz war es nicht zuletzt die Erfahrung brutaler Gewalt in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 und der darauf folgenden Verschleppung in Konzentrationslager, die auch den letzten noch in Deutschland gebliebenen jüdischen Ärzten klar machte, dass nur die Emigration eine Überlebensperspektive bieten konnte. In einem fremden Land, fern ihrer Heimat, Sprache und Kultur, meist ohne ihre Familie, durch Reichsfluchtsteuer, Vermögens- und Zwangsabgabe nahezu mittellos, versuchten sie, unter schwierigsten Bedingungen Fuß zu fassen. In der Regel mussten sie ihre Examina noch mal machen – noch dazu in einer fremden Sprache. Nicht jedem gelang es, wieder als Arzt tätig zu sein. Durch den Entzug ihrer Approbation hatten sie die formale Berechtigung für die Ausübung des Arztberufes verloren. Viele mussten sich ihren Lebensunterhalt mit Hilfstätigkeiten verdienen. Nur ca. 5 Prozent der 5 000 Emigranten kehrten nach Kriegsende nach Deutschland zurück. Wem der Weg ins Exil nicht gelang, der wurde in die Vernichtungslager deportiert. Nur wenige überlebten.
Einer von ihnen war Dr. Herbert Lewin. Seine Berufung zum Chefarzt der Städtischen Frauenklinik in Offenbach 1949 war begleitet vom ersten antisemitischen Skandal in der neuen Bundesrepublik. Bürgermeister sowie Gemeinderatsmitglieder als auch Klinikpersonal stellten sich gegen ihn und benannten statt seiner einen ehemaligen Nazi für diese Stelle. Dr. Lewin werde »mit den Ressentiments seiner Rasse und mit dem Rachegefühl des KZlers seine Arbeit antreten, keine Frau könne sich ihm mit ruhigem Gewissen anvertrauen«. Weltweiter Protest und übergeordnete Behörden machten diesem Treiben ein Ende. Bis 1967 hatte Dr. Herbert Lewin die Leitungsfunktion inne, zwischen 1963 und 1969 war er Vorsitzender des Zentralrats der Juden.
Ursula Ebell ist Kuratorin der Ausstellung »Fegt alle hinweg« zum Approbationsentzug der jüdischen Ärztinnen und Ärzte.
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Medizin im Nationalsozialismus, 4/2015)