Kein Recht auf Gesundheit?
Anna Kühne über die Versorgung von MigrantInnen ohne Aufenthaltsstatus
Noch werden Asylbewerber, wenn es um ihre gesundheitliche Versorgung geht, wie Menschen zweiter Klasse behandelt. Anna Kühne erklärt uns die Details und stellt die Arbeit der Medibüros bzw. Medinetze vor, die sich um die medizinische Versorgung von Unversicherten kümmern.
Der Zugang zum Gesundheitssystem ist für Migranten ohne Aufenthaltsstatus oder ohne Krankenversicherung schwierig. Häufig warten die Migranten aus Angst vor Kosten oder vor Abschiebung deshalb sehr lange, bevor ein Arzt aufgesucht wird. Medinetze und Medibüros sind ein Netzwerk aus Gesundheitsarbeitern, die den Zugang zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne Aufenthaltsstatus verbessern wollen. Dafür benötigen sie dringend Ärztinnen und Ärzte, die sich eine Kooperation vorstellen können.
Aus der Praxis eines Medinetzes
Frau Y. hat im Frühjahr ein Kind zur Welt gebracht. Sie kommt aus einem anderen Land und ist nicht krankenversichert. Das Kind musste als Frühgeborenes nach der Geburt einige Wochen in einer Klinik der Maximalversorgung versorgt werden. Bei der Entlassung wurde den Eltern die engmaschige pädiatrische Betreuung des Säuglings ans Herz gelegt. Familie Y. wendete sich kurz darauf an ein Medibüro mit einer Krankenhausrechnung über mehrere tausend Euro.
Um sie bei der Durchsetzung ihres Rechtes auf die Kostenübernahme zu unterstützen, vermittelte das Medibüro den Eltern einen Anwalt. Die Vermittlung eines Termins in der Pädiatrie gestaltete sich deutlich schwieriger, da sich über Monate kein Termin bei einem Pädiater vereinbaren ließ, der bereit war, seine Arbeitszeit umsonst und Sachmittel ermäßigt zur Verfügung zu stellen. Drei Monate nach Entlassung des Säuglings aus dem Krankenhaus ist es dem Medibüro schließlich gelungen, einen Termin bei einer Ärztin zu vereinbaren, die sich bereit erklärte, einmalig überfällige U-Untersuchungen und Impfungen durchzuführen. Anfallende Kosten für Impfungen und Medikamente übernahm das Medibüro.
Dies ist ein typischer Fall für Medinetze bzw. Medibüros.
Praktische Hilfe und politische Initiative
Deutschlandweit existieren über 30 Medinetze und Medibüros. Zusammen versorgen diese jährlich mehrere tausend Menschen ohne Aufenthaltsstatus ehrenamtlich und anonym. Medinetze organisieren medizinische Versorgung durch Niedergelassene und Krankenhäuser, die Arbeitszeit und zum Teil Arbeitsmittel kostenfrei erbringen. Anfallende Rechnungen werden durch Spenden bezahlt. Zudem setzen sich die Medinetze für einen verbesserten Zugang von Migranten zum Gesundheitssystem ein. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das im Grundgesetz festgeschrieben ist, gilt auch für Migranten.
In der Sprechstunde der Medinetze oder Medibüros werden Migranten ohne Krankenversicherung Arzttermine im Ärztenetzwerk vermittelt oder Operationen und Geburten durch kooperierende Krankenhäuser ermöglicht. Neben der Vermittlung in Einrichtungen der medizinischen Versorgung, die anonym und kostenfrei behandeln, kooperieren Medinetze oder Medibüros oft eng mit anderen Beratungseinrichtungen, Dolmetschern und Anwälten.
Häufig bleibt die medizinische Versorgung jedoch provisorisch und unzureichend, wenn sich kein passender Facharzt finden lässt, wenn die Summe für die Operation aus Spenden nicht aufzubringen ist oder wenn notwendige Diagnostik nicht organisiert werden kann. Eine adäquate medizinische Versorgung kann in diesem System, das auf zivilgesellschaftlichem Engagement und Spenden basiert, nicht gewährleistet werden. Die Vermittlung in ein ehrenamtlich arbeitendes Netzwerk von Ärzten und Therapeuten verstehen die Medinetze oder Medibüros nicht als Lösung, sondern als Notbehelf für Menschen, die anderenfalls von Gesundheitsversorgung gänzlich ausgeschlossen wären.
Hintergrund
Migranten ohne Aufenthaltsstatus sind abgelehnte Asylbewerber, Studenten oder Touristen, die nach Ablauf des Visums geblieben sind, Menschen die illegal eingereist sind, um in Deutschland zu arbeiten, oder Familienangehörige, die selber kein Aufenthaltsrecht erhalten haben (Schönwälder, Vogel, Sciortino; 2004). Nach offiziellen Schätzungen leben in Deutschland 100 000 bis 1 Million Menschen ohne Aufenthaltsstatus, für Sachsen gibt es keine Zahlenschätzungen (BAMF; 2006).
Dazu kommt eine große Zahl Migranten aus neuen EU-Ländern, die eingeschränkte Rechte genießen und häufig nicht krankenversichert sind. Oft weist ihr Leben Parallelen zu dem illegalisierter Migranten auf (Frings; 2004). Diese sind in aller Regel ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe und von der Einlösung ihrer Grundrechte. Leben ohne Rechte bedeutet Arbeitsbedingung und -löhne können schlecht verhandelt werden, Kinder nicht in der Schule angemeldet werden, Gewalttaten nicht angezeigt werden und Gesundheitsleistungen nicht in Anspruch genommen werden (Schönwälder, Vogel, Sciortino; 2004). Weil jede offizielle Stelle in Deutschland eine Meldepflicht nach § 87 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) an die Polizei hat, wenn sie von dem illegalen Aufenthalt eines Ausländers erfährt, sind Rechte für illegalisierte Migranten nicht umsetzbar und nicht einklagbar (DIMR; 2007). Im europäischen Vergleich weist Deutschland eine der höchsten Zugangsbarrieren zum Gesundheitssystem für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus auf (MdM; 2007). Mehrfach hat der Deutsche Ärztetag in der Vergangenheit die Meldepflicht sowie den eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem kritisiert.
Migranten ohne Aufenthaltsstatus im Gesundheitssystem – die Rechtslage
Ärzte und Krankenhauspersonal haben keine Meldepflicht. Eine Meldung an Polizei oder Ausländerbehörde verletzt vielmehr die Schweigepflicht (§ 203 StGB, § 88 AufenthG). Ärzte machen sich nicht strafbar, wenn sie Menschen ohne Aufenthaltsstatus versorgen, eine Verweigerung der Behandlung kann hingegen strafbar sein (§ 323c StGB, § 95 AufenthG). Kommt ein Patient ohne Aufenthaltsstatus oder ohne Krankenversicherung in ein Krankenhaus oder eine Praxis, sollte zunächst die notwendige Diagnostik durchgeführt werden. In einem Gespräch sollten Behandlungs- und Abrechnungsmöglichkeiten geklärt werden. Die medizinische Behandlung sollte sich nicht von der Behandlung anderer Patienten unterscheiden. Für die Migranten ist es zudem wichtig zu wissen, dass nicht die Polizei gerufen wird, sondern gemeinsam Möglichkeiten der Behandlung gesucht werden. Es sollte nicht der Vordruck zur Kostenübernahme als Privatzahler ausgehändigt werden, sondern gegebenenfalls mit Unterstützung des Sozialdienstes oder Beratungseinrichtungen eine der folgenden Abrechnungsmöglichkeiten genutzt werden (ÄK Hamburg; 2008).
Migranten ohne Aufenthaltsstatus sind theoretisch durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) versorgt, welches nicht nur die Versorgung von Asylsuchenden regelt, sondern auch von Menschen ohne Aufenthaltsrecht (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG). Eine Abrechnung medizinischer Leistungen über das Sozialamt nach § 4 und § 6 AsylbLG ist möglich bei akuter Erkrankung, Schmerzzuständen, bei Schwangerschaft und Geburt, bei zur Sicherung der Gesundheit unerlässlicher Behandlungen sowie amtlich empfohlenen Impfungen und medizinisch gebotenen Vorsorgeuntersuchungen. Nur in Notfällen kann die Kostenübernahme erst nach erfolgter Behandlung beantragt werden. Für illegalisierte Migranten bedeutet dies, dass sie von Behandlung, die nicht notfallmäßig erfolgt, offiziell ausgeschlossen sind, da die Beantragung eines Krankenscheines beim Sozialamt im Vorfeld einer Behandlung die Weiterleitung der Daten an die Ausländerbehörde und damit die Abschiebung bedeutet (§ 87 AufenthG). Im Falle einer Behandlung im Notfall kann der Antrag auf Kostenübernahme ans Sozialamt nach der Behandlung stattfinden und auch durch Dritte geschehen (Arzt oder Sozialdienst). In diesem Fall gilt eine Ausnahme der Meldepflicht (§ 88 AufenthG), die mit der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz 2010 (AVV) bestätigt wurde: Für Daten, die im Rahmen der medizinischen Behandlung aufgenommen wurden, gilt die verlängerte Schweigepflicht. Das bedeutet, dass weder medizinisches Personal noch das mit der Abrechnung medizinischer Behandlung befasstes Personal noch die Sozialbehörde im Falle eines Patienten ohne Aufenthaltsstatus die Polizei informieren darf, wenn diese Daten im Rahmen einer medizinischen Behandlung aufgenommen wurden (§ 88 AufenthG sowie AVV zum AufenthG Nr 88.2.1 – 88.2.3 und 88.2.4.0). Suchen Migranten ohne Aufenthaltsstatus Krankenhaus oder Praxis zur Notfallversorgung auf, kann die Kostenübernahme nachträglich durch die Behandelnden vom Sozialamt eingefordert werden. Zum Schutz der Patienten ist es empfehlenswert bei der Weiterleitung an das Sozialamt, dieses darauf hinzuweisen, dass diese Daten dem verlängerten Geheimnisschutz nach § 88 AufenthG unterliegen und nicht der Ausländerbehörde zur Verfügung gestellt werden dürfen. Das Sozialamt ist im Falle von mittellosen illegalisierten Migranten zur Kostenübernahme verpflichtet, die Datenweiterleitung ist untersagt (Katholisches Forum; 2009). In der Praxis meiden viele Migranten weiterhin auch in Notfällen das Gesundheitssystem, weil Meldungen an Polizei und Ausländerbehörde durch Ärzte oder das Sozialamt rechtswidrig vorkommen (Classen; 2012).
Bei Migranten, die im Heimatland versichert sind, kann die Krankenkasse im Heimatland der zuständige Kostenträger sein (Frings; 2004).
Kommt keine der Abrechnungsmöglichkeiten in Betracht, sollte erwogen werden, ob die Klinik oder die Praxis dem Patienten eine Behandlung zu einem reduzierten Preis oder in Ratenzahlung anbieten kann (ÄK Hamburg; 2008).
Es gibt weitere Möglichkeiten, die in seltenen Fällen, zum Beispiel bei Arbeitsunfällen oder Gewalttaten, eine Finanzierung ermöglichen. Weitere Informationen finden sich in der Broschüren der Bundesärztekammer (BÄK; 2012). In den meisten Fällen bleibt Migranten ohne Aufenthaltsstatus jedoch für die nicht notfallmäßige Versorgung nur die Option der Bezahlung als Privatpatient oder die Versorgung in zivilgesellschaftlichen Netzwerken wie dem Medinetz.
Lokale und bundesweite Lösungsansätze
Seit vielen Jahren fordern die Medinetze bundesweit die Abschaffung diskriminierender Gesetze, wie das Asylbewerberleistungsgesetz und die Meldepflicht, um den gleichberechtigten Zugang zu medizinischer Versorgung für Migranten zu ermöglichen. Zusammen mit dem vdää und medico international haben die Medibüros und Medinetze vor kurzem eine Kampagne gestartet für eine Eingliederung in die Gesetzlichen Krankenkassen. Da notwendige Gesetzesänderungen mittelfristig nicht realisierbar sein werden, sind lokale Konzepte, wie der anonyme Krankenschein, notwendig. Ziel ist es, Menschen ohne Aufenthaltsstatus die Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen zu ermöglichen, ohne sie durch eine Datenweitergabe an die Ausländerbehörde zu gefährden. Die Migranten sollen mit einem anonymisierten Krankenschein, der durch eine spezielle Vergabestelle ausgehändigt werden kann und nicht ihren Namen preisgibt, die Institutionen der Regelversorgung in Anspruch nehmen können. Die Abrechnung soll über das Sozialamt erfolgen.
Ärzte dringend gesucht
Sie können die Medinetze und Medibüros durch Ihr Engagement unterstützen. Der Umfang des Engagements kann individuell abgesprochen werden. Die Bereitschaft einmal pro Woche oder pro Monat bei einem Kind eine U-Untersuchung durchzuführen oder eine gynäkologische Untersuchung anzubieten, ermöglicht wertvollen Zugang zu medizinischer Versorgung.
Dr. Anna Kühne, Ärztin, MPH ist im MediBüro Berlin aktiv.
(aus: Gesundheit braucht Poitik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt Flucht und Migration, 3/2015)