GbP 3-2015 Editorial

»Die Flüchtlingskrise ist die Krise der deutschen Asylpolitik«

Es sind ereignisreiche Wochen, in denen die vorliegende Ausgabe zum Thema Flucht und Migration erscheint. Als wir vor über einem halben Jahr entschieden, diesem Thema eine Ausgabe unserer Zeitschrift zu widmen, haben wir nicht geahnt, dass die politische Situation und v.a. die Lage der Geflüchteten sich in so kurzer Zeit so dramatisch zuspitzen würde. Mit Zuspitzung ist nicht die schiere Zahl der Geflüchteten gemeint, an der das Ausmaß der so genannten Flüchtlingskrise oft von offizieller Seite festgemacht wird. Ein näherer Blick auf die verfügbaren Daten wirft Fragen auf, ob die von Regierungsseite und SPD geschätzte Zahl von 800 000 bzw. einer Million Geflüchteten alleine in Deutschland realistisch ist. Die weit niedrigeren Daten des UNHCR (siehe Seite 5) lassen daran zweifeln und legen nahe, dass mit diesen Zahlen das Szenario einer »Flüchtlingsflut« bzw. »Flüchtlingsschwemme« dramatisiert werden soll.

Unstrittig ist, dass die Zahl der Geflüchteten ebenso wie der Toten an den EU Außengrenzen in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist und in den Sommermonaten dieses Jahres ihren (vorläufigen) Höhepunkt erreicht hat. Dieser Umstand führt innerhalb Deutschlands zu einer ambivalenten Situation: Eine beeindruckende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern zeigt sich solidarisch und unterstützt in vielfältiger Weise die Geflüchteten. Während Teile der Leitmedien und Politiker sich auf humanistisch-demokratische Werte berufen, erstarkt aber gleichzeitig die häufig rassistisch konotierte Position, nach der die Menschen in »gute« Kriegsflüchtlinge versus »asylmissbrauchende Armutszuwanderer« eingeteilt werden.

Die praktische Konsequenz aus dem menschenfeindlichen Sprachgebrauch ist der massive Anstieg der rechtsterroristischen An- und Übergriffe, verübt und beklatscht von so genannten »besorgten Bürgern«. Bundesweit gab es seit Beginn dieses Jahres 61 Brandanschläge auf Unterkünfte von Geflüchteten.
Trotz aller Solidarität und beschwörter Willkommenskultur – die Maßnahmen, die die Regierung mit Unterstützung der grün regierten Länder zur »Lösung« der Situation beschlossen hat sprechen eine ganz andere Sprache: Fortführung der militärischen Abschottung der Europäischen Union im Rahmen der Mission EUNAVFOR, weitere Verschärfung des Asylrechts, Reduktion von Leistungen für Geflüchtete aus sicheren Drittstaaten unter das Existenzminium bei gleichzeitiger Ausweitung der sicheren Drittstaaten und Beschleunigung der Abschiebeverfahren.

Ein Paradigmenwechsel in der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik weg von Abschottung und Ausgrenzung wäre dabei längst überfällig. Seit mehr als zehn Jahren erreichen uns regelmäßig Bilder und Nachrichten von Menschen, die auf der Flucht in die EU ihr Leben lassen. Schätzungen gehen von mehr als 25 000 Menschen aus, die seit dem Jahr 2000 beim Versuch, in die EU zu migrieren, gewaltsam zu Tode kamen. Längst haben die Bundesregierung und die Europäische Union den Zeitpunkt verpasst, auf diese Situa­tion in angemessener – d.h. in allererster Linie menschenwürdiger – Weise zu reagieren und sichere Fluchtrouten nach Europa einzurichten. Zwar beteuern quer durch das Parteienspektrum alle Politiker einhellig, dass die »Bekämpfung der Fluchtursachen« höchste Priorität genießen sollte, wie genau das angegangen werden soll, wird aber nicht konkret formuliert.

Der Beitrag von Thomas Gebauer in dieser Ausgabe zeigt auf, dass sich – bei aller Komplexität der Fluchtursachen – diese häufig aus Umständen ableiten, die durch die Außen- und Wirtschaftspolitik der G7/G8-Staaten, der EU und internationalen Einrichtungen wie dem IWF mit verursacht werden.
Die eingangs erwähnte beschleunigte Migrationsdynamik stellt die etablierten Verfahrensweisen in der EU und der BRD auf die Probe. Das Dublin-Abkommen steht seit Jahren in der Kritik und auch die legale Situation in Deutschland ist in vielen Bereichen nicht geeignet, praktische Bedürfnisse zum Umgang mit der Situation einerseits und humanistischen Ansprüche andererseits zu genügen.

Ein umstrittener Aspekt ist schon seit Längerem der Zugang zu medizinischer Versorgung für Asylsuchende. Der Beitrag von Anna Kühne stellt die politischen und rechtlichen Hintergründe dar, die zur bundesweiten Kampagne der Medibüros und Medinetze in Deutschland zur Ver­besserung der medizinischen Versorgung von Asylsuchenden geführt haben. Das verstärkte ehrenamtliche Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger, auch aus dem vdää heraus, substituiert vielerorts sozialstaatliche Kernaufgaben und wirft neue Fragen nach dem Selbstverständnis dieser Hilfe auf. Der Text von Elène Misbach zeichnet diese Problematik ebenfalls vor dem Hintergrund des Zugangs zu medizinischer Versorgung für Menschen ohne Aufenthaltsstatus nach.

Im öffentlichen Diskurs in Deutschland werden Geflüchtete häufig als passive Manövriermasse der Asylpolitik gefasst. Der Beitrag von Benjamin Wachtler zeigt auf, wie Geflüchtete sich als politisch handelnde Subjekte gegen ihre Situation als »non-citizens« organisiert und mit mehreren umstrittenen Hungerstreikaktionen ihrem Protest Ausdruck verliehen haben.

Die Asylpolitik auf EU- und nationaler Ebene eröffnet in den meisten europäischen Ländern ein Raster, durch das viele Menschen fallen, um schließlich als »sans papiers« illegalisiert zu sein. Gisela Penteker stellt in ihrem Beitrag die Plattform für Internationale Zusammenarbeit zu Migranten ohne Aufenthaltsstatus vor.
Griechenland ist weiterhin der Haupteintrittsort für Geflüchtete in die EU. Wie es die Menschen vor Ort schaffen, trotz ökonomischer Krise solidarische Strukturen zur Unterstützung und Versorgung der Geflüchteten zu organisieren, erzählt der Beitrag von Nadja Rakowitz.

Bei aller gegenwärtigen Präsenz des Themas Migration und Flucht wollen wir in dieser Ausgabe unser gesundheitspolitisches Kerngeschäft nicht außer Acht lassen. Das Bundesministerium für Gesundheit arbeitet unter Minister Gröhe konsequent den Koalitionsvertrag ab und hat – wie angekündigt – einen Entwurf für ein Krankenhaus-Struktur-Gesetz vorgelegt. Der vdää hat sich dazu im Rahmen einer Presseerklärung und der öffentlichen Anhörung im Bundestag kritisch positioniert. Peter Hoffmann hat die Kernpunkte der Argumentation zusammengefasst.
Im Namen der Redaktion bleibt mir nun, Ihnen eine interessante, anregende und kontroverse Lektüre der vorliegenden Ausgabe zu wünschen.

 

Thomas Kunkel
Mitglied im erweiterten Vorstand

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Flucht und Migration. 3/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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