GbP 2-2015 Wulf Dietrich

Zwischen Wunsch und Realität

Wulf Dietrich zur Leitlinien-Erstellung in der Medizin

 

Die einen meinen, Medizin sei eine Kunst, der Arzt entsprechend Künstler und deshalb könne er sich – ein eher unreflektierter Kunstbegriff – nicht an Leitlinien orientieren, weil die Freiheit der Kunst des Berufs leide; die anderen meinen, Medizin sei ein Naturwissenschaft und deshalb müsse man »bloß« entsprechende Leitlinien entwerfen, an die sich die Praxis zu halten habe und schon komme eine gute Medizin heraus. Wulf Dietrich diskutiert das Verhältnis von Medizin zu Leitlinien und hinterfragt beide Argumentationen.

 

»Der Arzt ist ein Künstler, seine Tätigkeit ist die Heilkunst. So wenig, wie man neben das Gemälde eines Künstlers eine Farbtopf stellt, damit jeder Besucher das Gemälde in seinem Sinne korrigieren könne, so wenig kann man die Tätigkeit eines Arztes oder einer Ärztin durch von außen vorgegebenen Leitlinien in ein Korsett zwängen.«

Diese von Standesdünkel geprägte Haltung bestimmte über lange Zeit das Selbstverständnis eines Großteils der Ärzteschaft. Man wollte sich in seine Kunst nicht hineinreden lassen. Sicher gibt es Einiges in der ärztlichen Tätigkeit, was sich nicht absolut messen lässt: Der Umgang mit den Patienten, die Empathie, mit der die Probleme des Patienten erfasst werden, das Erfassen des sozialen Status eines Patienten und dessen Zusammenhang mit seinen Symptomen. Oder die Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen und anderen Mitarbeitern.

Trotzdem: Die Naturwissenschaft hat viele Prozesse in der Medizin messbar gemacht. Und was messbar ist, kann verglichen und wissenschaftlich beurteilt werden. Diese Tatsache auf der einen sowie der Druck von Kostenträgern und Patienten auf der anderen Seite haben in den vergangenen Jahrzehnten zu der Entwicklung von klinischen Behandlungsleitlinien geführt. Leitlinien sind systematisch entwickelte Aussagen, die den gegenwärtigen Erkenntnisstand wiedergeben, um Ärzte und Patienten bei der Entscheidungsfindung für eine angemessene Versorgung in spezifischen klinischen Situationen zu unterstützen. Leitlinien geben nur einen Empfehlungskorridor an, in dem sich der Arzt oder die Ärztin in ihrer medizinischen Tätigkeit bewegen sollte. Bei begründeten Zweifeln kann der behandelnde Arzt sich in seinen Entscheidungen auch entgegen den Leitlinien verhalten. Im Gegensatz dazu stellen medizinische Richtlinien, die von der Bundesärztekammer z.B. in der Transfusions- oder Transplantationsmedizin erlassen werden, verbindliche Vorgaben dar, nicht übertreten werden dürfen und die damit quasi Gesetzeskraft haben.

Theoretisch klingt das sehr einfach: Eine Gruppe von Autoren trägt zu einer bestimmten medizinischen Fragestellung alle wissenschaftlich relevanten Erkenntnisse zusammen und zieht daraus die Konsequenz für die bestmögliche Therapie der Patienten. Der Auftrag oder die Genehmigung erfolgt in der Regel durch die Fachgesellschaften. Häufig aber tritt auch ein Gremium von Fachleuten, die nicht besonders legitimiert sein müssen, auf Initiative der Pharmaindustrie zusammen und erstellt »Leitlinien«, die später von der entsprechenden Fachgesellschaft gebilligt wird (endorsement).

Leider hält sich die Praxis nicht an die simple Theorie der Leitlinienerstellung: Die Sichtung der vorhandenen Erkenntnisse, in der Regel dargestellt in wissenschaftlichen Publikationen, ist extrem aufwändig. Häufig kommen die verschiedenen wissenschaftlichen Publikationen zu sehr unterschiedlichen, oft widersprüchlichen Ergebnissen. Bei der Sichtung der Literatur für die Erarbeitung von Leitlinien wird zuerst die wissenschaftliche Evidenz eine Aussage beurteilt. Also, wie gut ist die Methodik der vorliegenden Arbeit, lässt sich das Ergebnis der Arbeit aus den dargestellten Daten ableiten, ist die Statistik nachvollziehbar usw. Für dieses Verfahren gibt es strenge methodische Regeln. Dabei gelten prospektive, randomisierte und doppelblind durchgeführte Studien immer noch als die Königsdisziplin wissenschaftlicher Erkenntnis. Einen ähnlichen Stellenwert haben sauber durchgeführte Meta-Analysen, also zusammenfassende Auswertungen unterschiedlicher Studien. Dann wird, und das ist der schwierigste Teil im Prozess der Leitlinienerstellung, eine Empfehlung zur klinischen Anwendung der untersuchten Methodik geben. Hierbei wird bewertet, ob der Nutzen der Anwendung größer als deren Risiko ist. Ist der Nutzen sehr viel größer als das potentielle Risiko, so wird eine Klasse 1-Empfehlung ausgesprochen. Ist dagegen das Risiko größer als der Nutzen so erfolgt eine Klasse 3-Empfehlung bzw. die Ablehnung dieser Methode (Die Klassifizierung von Evidenz und Empfehlungsgrad variiert in den unterschiedlichen Methodiken von Leitlinienerstellung). Jede Empfehlung enthält einen gewissen subjektiven Anteil, denn es wird auch die Relevanz einer Intervention für das klinische outcome der Behandlung beurteilt. Wenn also die Überlegenheit einer Intervention in vielen Studien nachgewiesen wurde, das Risiko sehr gering ist, aber der Vorteil für den Patienten hinsichtlich seines Krankheitsverlaufes nur gering oder gar nicht vorhanden ist, so kann auch eine niedrigere Empfehlung ausgesprochen werden.

Aus zwei Gründen ist dieser Prozess weitaus schwieriger als es auf den ersten Blick erscheint:

1. Bei aller Wissenschaftsgläubigkeit wird häufig übersehen, dass die wissenschaftliche Evidenz vieler medizinischer Maßnahmen sehr gering beziehungsweise gar nicht vorhanden ist. Ein Beispiel: Die Gesellschaft der US-amerikanischen Herzchirurgen hat in einer Leitlinie 71 Interventionen und Maßnahmen zum Blut-Transfusionsverhalten untersucht. Nur ein Viertel dieser in der klinischen Praxis routinemäßig angewendeten Maßnahmen hatten einen Evidenzgrad A, war also in soliden wissenschaftlichen Untersuchungen als effektiv befunden worden. Nur 15 Prozent dieser Maßnahmen konnten mit einem sehr hohen Empfehlungsgrad (diese Maßnahmen sollten durchgeführt werden) in die Leitlinie aufgenommen werden. Bei 30 Prozent der Maßnahmen beruhte die Evidenz nicht auf wissenschaftlich nachprüfbaren Ergebnissen, sondern alleine auf der Meinung von Experten. Fakt also ist, dass die Medizin in der täglichen Praxis bei weitem nicht den Grad an Wissenschaftlichkeit hat, der sonst so gerne in der Öffentlichkeit suggeriert wird.

2. Da die wissenschaftlichen Veröffentlichungen in der Medizin für den Einzelnen kaum noch überschaubar sind und die Erstellung von Leitlinien keiner strikten Definition oder Kontrolle unterliegt, hat sich ein Wust an sogenannten »Leitlinien« entwickelt. Jeder, der will, kann auch. Da die pharmazeutische Industrie im Zweifelsfalle sehr von den Empfehlungen von Leitlinien profitiert, hat sie ein ganz spezielles Interesse an deren Erstellung entwickelt und fördert sie. Dies natürlich nur, wenn sie sich einen Benefit für die von ihr vertriebenen pharmazeutische Produkte erhofft. Häufig sucht (und bezahlt) sie zu diesem Zweck ausgewiesene Experten, die natürlich der Firma und ihren Produkten besonders gewogen sind. Hier ein Beispiel: An der Erstellung einer europäischen Leitlinien zur Vermeidung von perioperativen Blutungen waren 23 Autoren beteiligt. Von diesen hatten zehn einen Interessenskonflikt mit einer Firma, deren Produkt heute eine wesentliche Rolle in der Gerinnungstherapie spielt. Zwei der Autoren waren sogar Angestellte von Firmen, deren Produkte in der Leitlinie bewertet wurden. Diese Leitlinie wurde von der europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie übernommen und stellt heute die Grundlage für die Gerinnungs- und Transfusionsmedizin in der operativen Medizin in Europa dar. (Zum Umgang mit und zur Vermeidung von Interessenskonflikten bei der Erstellung von Leitlinien siehe nebenstehenden Antrag, der von Transparency International und MEZIS entwickelt und von Mitgliedern des vdää auf dem deutschen Ärztetag 2015 eingebracht wurde).

Die Erstellung von Leitlinien wird heute in Deutschland von der Arbeitsgemeinschaft der medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) koordiniert und vorangetrieben. Nur die von ihr konsentierten Leitlinien mit hoher methodischer Qualität (S3) sollten ernst genommen und im Zweifelsfall befolgt werden. Denn Leitlinien an sich nicht sind nichts Schlechtes, sie müssen nur richtig gelesen werden. Die wissenschaftliche Evidenz der Aussagen muss immer kritisch hinterfragt und die Interessenskonflikte der Ersteller von Leitlinien sollten offengelegt werden. Bei unkritischer Aufnahme von Leitlinien gibt es drei Profiteure: Die Autoren erhöhen ihr wissenschaftliches Renommee; die Zeitschrift, die die Leitlinie publiziert, gewinnt Leser und wird zitiert; die Industrie kann die passenden Leitlinien zu Werbezwecken ge(miss)brauchen. Nur der Patient wird nicht unbedingt einen Nutzen aus ihrer Anwendung ziehen.


Beschluss des Ärztetags 2015

Der 118. Deutsche Ärztetag 2015 unterstützt und unterschreibt den Appell an die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland zum Umgang mit Interessenkonflikten bei der Erarbeitung von Leitlinien, der von Transparency International und MEZIS gestartet wurde. Er bittet den Vorstand der Bundesärztekammer, in Kontakt mit der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zu treten, um eine weite Verbreitung und Umsetzung dieses Appells in den medizinischen Fachgesellschaften zu erreichen.

»Appell an die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland zum Umgang mit Interessenkonflikten:


Als Ärztinnen und Ärzte wenden wir uns an die medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland und ihre Dachorganisation, die AWMF, um Vorschläge für den Umgang mit Interessenkonflikten bei Leitlinienautoren zu machen. Klinische Behandlungsleitlinien sollen Ärzten und Patienten Orientierung zur bestmöglichen Behandlung einer Krankheit bieten. Sie müssen sich ausschließlich auf die verfügbare wissenschaftliche Evidenz stützen und dürfen nicht von kommerziellen Motiven der Hersteller von Arzneimitteln und Medizinprodukten beeinflusst werden. Die ärztlichen Autoren medizinischer Leitlinien sind jedoch häufig mit der Industrie verflochten, beispielsweise durch Beraterverträge, Vortragshonorare und industriefinanzierte Studien.

Zur wirksamen Regulierung von Interessenkonflikten schlagen Mein Essen zahle ich selbst (MEZIS), Transparency Deutschland und NeurologyFirst sowie alle Unterzeichner die folgenden Maßnahmen vor:

Mindestens 50 Prozent der Leitlinienautor(inn)en sollen keine oder allenfalls geringfügige Interessenkonflikte haben. Langfristiges Ziel ist die Unabhängigkeit aller Leitlinienautoren. Die federführenden Leitlinienautoren dürfen keine Interessenkonflikte haben. Bei interdisziplinären Leitlinien entsenden die beteiligten Fachgesellschaften einen Vertreter ohne Interessenkonflikte, falls sie nur einen Vertreter stellen. Fachgesellschaften, die mehrere Vertreter entsenden, beachten die 50-Prozent-Regel. Sie identifizieren und entwickeln aktiv unabhängige Leitlinienautoren aus den Reihen ihrer Mitglieder.

Die Selbstbewertung der Interessenkonflikte nach eigenem Ermessen entfällt in Zukunft, da sie nicht funktioniert. Stattdessen braucht es klare Kriterien zur Bewertung der Schwere von Interessenkonflikten. Zu diesen Kriterien wird auch die Festlegung gehören, ob bestimmte Interessenkonflikte, beispielsweise ein Beratervertrag mit einer Firma, eine Mitarbeit an einer Leitlinie gänzlich ausschließen. Die Interessenkonflikte der Autoren werden bereits bei Anmeldung des Leitli­nien­projekts bei der AWMF deklariert und von der AWMF bewertet.

Bei Abstimmungen zu einzelnen Empfehlungen gilt: Wer einen Interessenkonflikt zu einem Hersteller der zu bewertenden Produkte angegeben hat, muss sich enthalten. Die Einhaltung dieser Regel wird für jede Abstimmung protokolliert. Zudem wird das jeweilige Abstimmungsergebnis in der Langfassung der Leitlinie vermerkt. Experten mit erheblichen Interessenkonflikten können punktuell als Berater hinzugezogen werden, falls auf ihre Expertise nicht verzichtet werden kann.
Der Einfluss von Interessenkonflikten kann außerdem durch eine internetbasierte Diskussion des Leitlinienentwurfs durch die Mitglieder der beteiligten Fachgesellschaften gemildert werden.«


Wulf Dietrich ist Kardioanästhesist und Vorsitzender des vdää.

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin. Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf