Gesundheitsbezogene Selbsthilfe
Peter Scholze über Hilfe für Patienten und Chancen für das professionelle Versorgungssystem
Peter Scholze stellt die gesundheitsbezogenen Selbsthilfegruppen und ihre Geschichte vor. Von Anfänglicher Ablehnung durch die Ärzte werden sie heute grundsätzlich positiv bewertet. Bis zur adäquaten Respektierung ist allerdings noch ein Stück gemeinsamen Weges zurückzulegen.
Dem traditionellen ärztlichen Selbstverständnis entspricht: Ärztinnen und Ärzte besitzen das Expertenwissen, sie wissen am besten, was für die PatientInnen gut ist. Die PatientInnen werden in eine passive Rolle gedrängt, in der sie angehalten werden, die ärztlichen Anordnungen zu befolgen (compliance = Folgsamkeit, Fügsamkeit, Konformität, Unterwürfigkeit, Befolgung, Willfährigkeit). Der traditionelle Arzt tritt im Idealfall als paternalistisch-benevolenter Fürsorger dem in Passivität gehaltenen Patienten gegenüber.
Beginnend in den 1950er Jahren entwickelte sich eine Gegenbewegung zu diesem einseitigen und asymmetrischen Behandlungs- und Beziehungsansatz. Patienten erkannten zunehmend: Die besten Behandlungsergebnisse werden bei einer partnerschaftlichen Arzt-Patienten-Beziehung erreicht, in der neben dem Expertenwissen der ärztlichen Profession auch das Erfahrungswissen der Betroffenen als hilfreiches und nützliches Potential genutzt wird. Damit entstand die gesundheitsbezogene Selbsthilfebewegung.
Die Selbsthilfegruppen (SHG) erhielten (v.a. außerhalb der Ärzteschaft) einen überzeugenden Bedeutungszuwachs. Viele Studien zeigten, dass die aktive Beteiligung von Patienten zu besseren Behandlungserfolgen und zu einer besseren Krankheitsbewältigung führen. Die Patientenorientierung wurde hoffähig (jedoch leider noch zu wenig umgesetzt). Wichtige Therapie-Entscheidungen sollen heute auf der Grundlage einer »partizipativen Entscheidungsfindung« (shared decision making) und der »informierten Einwilligung« (informed consent) getroffen werden. Die meisten Zertifizierungsverfahren für Krankenhäuser und Arztpraxen legen Wert auf die Kooperation der Behandler mit SHG. Zertifizierte Tumorzentren verpflichten sich über einen Kriterienkatalog zur regelmäßigen und institutionalisierten Zusammenarbeit mit SHG. Über ihre Dachorganisationen sind die SHG in die gesetzlich vorgeschriebene »Patientenbeteiligung« einbezogen, so als Partner im Gemeinsamen Bundesausschuss (§140f, SGB V) und als »Bank« in den Zulassungsausschüssen und bei der Bedarfsplanung.
Auch die Zahlen sprechen für diesen Bedeutungszuwachs: Bundesweit gibt es etwa 100 000 örtliche Selbsthilfegruppen (davon zwei Drittel mit Gesundheitsbezug), mehr als 100 bundesweite Selbsthilfeorganisationen chronisch Kranker und Behinderter und rund 250 professionelle Selbsthilfekontaktstellen. Etwa zwei bis drei Millionen Menschen sind in Deutschland in der Selbsthilfebewegung aktiv, dies mit steigender Tendenz.
Welches sind die Gründe für den Bedeutungszuwachs von SHG?
• Die Patienten fragen nach mehr Information, Transparenz und Beteiligung. Über die Entwicklung von Autonomie und Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen suchen sie nach besserer Krankheitsbewältigung.
• Der soziale Wandel führt zum Verlust traditioneller familiärer, nachbarschaftlicher und sozialer Strukturen und damit einhergehend zur Schwächung primärer Hilfesysteme. Traditionelle soziale Netzwerke tragen nicht mehr, so kommt es zur Isolation Betroffener.
• Die Medizin zeigt sich derzeit im Wandel. Sie verlagert ihren Schwerpunkt von der Akutmedizin zur Betreuung chronisch Kranker. Und gerade bei chronisch Kranken engagieren sich Selbsthilfegruppen.
• Die immer weiter um sich greifenden hochtechnisierten Versorgungsstrukturen (High-Tech-Medizin) lösen bei chronisch Kranken Angst- und Defizitgefühle aus, die sie in SHG gemeinsam bewältigen möchten.
• Aufgrund der starren Trennung und Konkurrenz zwischen den einzelnen Säulen des Gesundheitswesens (Prävention, ambulante Medizin, Krankenhäuser, Rehabilitation) sitzt der Patient oft zwischen den Stühlen ungeklärter Zuständigkeiten.
• Das professionelle Medizinsystem entwickelte sich in differenzierte Subsysteme, die nur noch Teilaspekte des Patienten wahrnehmen (können). Patienten fühlen sich dadurch oft überfordert, alleingelassen oder nicht mehr ganzheitlich verstanden.
• Die Arbeit von Selbsthilfegruppen stellt einen hohen volkswirtschaftlichen und ökonomischen Wert dar. Selbsthilfegruppen können zur Kostenersparnis im Gesundheits- und Sozialwesen führen – wenn dies auch nicht deren primäre Intention ist.
• Die modernen Informationsmedien berichten immer häufiger über Themen aus dem Bereich der Gesundheit. Die Kehrseite von der wachsenden Aufmerksamkeit ist allerdings die teilweise einseitige, unkritische und reißerische Darstellung medizinischer Sachverhalte. Selbsthilfegruppen sind hier als qualifiziertes Gegengewicht gefragt.
Anfänglich wurde die Selbsthilfebewegung von der Ärzteschaft vorwiegend bekämpft und verteufelt: Die SHG seien Besserwisser ohne fachliche Kompetenz, sie seien ärztefeindlich, sie torpedierten medizinisch notwendige Behandlungen und agierten mit fehlgeleiteten ideologisierten Konzepten. Die gesundheitsbezogene Selbsthilfe wurde von dem überwiegenden Teil der Ärzteschaft nur als ein konkurrierendes Störfeld angesehen.
Zwischenzeitlich wird das Prinzip »gesundheitliche Selbsthilfe« von der Ärzteschaft im Grundsatz zunehmend positiv bewertet. Es bleibt jedoch beim unverbindlichen Wohlwollen. Hierzu Rolf Rosenbrock: »Seit den 80er Jahren gehört es in der Bundesrepublik zum gesundheitspolitisch und gesundheitswissenschaftlich guten Ton, Selbsthilfe irgendwie prima zu finden … Selbsthilfe ist … ein beliebter Gegenstand von Sozialbelletristik und Sonntagsreden aller Art.«
Es mangelt jedoch an konkreten Umsetzungsschritten. Weder im Medizinstudium noch in der Weiter- oder Fortbildung wird das Potential der gesundheitlichen Selbsthilfe diskutiert und integriert. Strukturierte Kooperationen mit SHG haben sowohl im Krankenhaus als auch im ambulanten Bereich eher Seltenheitswert. Wenn überhaupt, dann suchen insbesondere hochspezialisierte Krankenhaus-Abteilungen Kooperationen mit Selbsthilfegruppen – hier vor allem chirurgische, neurologische, gastroenterologische und physikalisch-medizinische Abteilungen. Niedergelassene Fachärzte suchen partiell Kontakt zu Selbsthilfegruppen – hier vor allem Rheumatologen, Neurologen, Gastroenterologen und Diabetologen. Hausärzte pflegen bisher nur rudimentäre Kontakte zu Selbsthilfegruppen. Ihre Einstellung ist geprägt von »interessiertem Desinteresse«, wohlwollender Zurückhaltung und/oder Ambivalenz. Positive Erwartungen sind verflochten mit traditionellen Vorbehalten.
Beklagt wird des Öfteren, dass Selbsthilfegruppen größtenteils von der Pharmaindustrie gesponsert und gesteuert würden. Tatsächlich gibt es (leider) Selbsthilfegruppen, die sich über ein Sponsoring von der Pharmaindustrie zu Marketing-Zwecken instrumentalisieren lassen. Die Spitzenverbände der Selbsthilfe haben dieses Problem jedoch erkannt und bereits 2006 »Leitsätze der Selbsthilfe für die Zusammenarbeit mit Personen des privaten und öffentlichen Rechts, Organisationen und Wirtschaftsunternehmen, insbesondere im Gesundheitswesen« verabschiedet. Die allermeisten Selbsthilfegruppen arbeiten ehrlich unter Respektierung dieser Leitsätze ohne jegliches Sponsoring vonseiten der Pharmaindustrie.
Fazit
SHG ergänzen das professionelle Versorgungssystem. Sie tragen zu besseren Behandlungsergebnissen und besserer individueller Krankheitsbewältigung bei. Sie entwickeln soziale Unterstützungsnetze. Sie bekämpfen den Risikofaktor »Isolation«, dem insbesondere chronisch und unheilbar Kranke ausgesetzt sind. Sie organisieren demokratische Beteiligung und solidarische Interessensvertretung von Betroffenen. Sie leisten einen Beitrag zur Gesundheitsaufklärung, Prävention und Gesundheitsförderung. »Einsteiger« in das Gesundheitswesen sollten sich mit den Inhalten und Strukturen der gesundheitlichen Selbsthilfe vertraut machen. Die Patienten werden es ihnen danken.
Dr. Peter Scholze, Internist/Psychotherapie, München
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin. Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)