GbP 2-2015 Kirsten Schubert,Udo Schagen

Demokratisierung der Ärzteschaft durch die Praxis

Eine kurze Geschichte der Kooperation in der ambulanten Versorgung Von Kirsten Schubert und Udo Schagen

Um den komplexen Zusammenhängen chronischer Erkrankungen, aber auch der krankheitsverursachenden sozialen Bedingungen gerecht zu werden, ist eine Arbeit im multiprofessionellen Team unerlässlich. Dies ist zwar von Politik, Krankenkassen und Bundesärztekammer – theoretisch – weitestgehend anerkannt, doch was in vielen anderen Ländern Standard ist, gehört in Deutschland weiterhin zur Ausnahme: die berufsgruppenübergreifende Kooperation in der ambulanten medizinischen Versorgung. Kirsten Schubert und Udo Schagen begeben sich auf Spurensuche nach den geschichtlichen Hintergründen dieser schleppenden Entwicklung.

 

»Der Arzt als Einzelkämpfer ohne Vernetzung zu anderen hat wohl keine große Zukunft mehr«, antwortete der 2011 verstorbene Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Hoppe 2009 auf die Frage, ob die Einzelpraxen aussterben werden. Die Ärzte seien »auf dem Weg in eine neue Welt«. Recht hatte er: Prägten Einzelpraxen jahrzehntelang die ambulante Versorgung in Deutschland, ist in den letzten Jahren die Zahl kooperativer Praxisstrukturen tatsächlich kontinuierlich angestiegen. Weiterhin wird jedoch mehr als die Hälfte der ambulanten Versorgung von ÄrztInnen in Einzelpraxen bestritten. Etwas mehr als ein Drittel arbeitet mit anderen ärztlichen KollegInnen oder PsychotherapeutInnen in einer Gemeinschaftspraxis (heute mit dem Wortungetüm Berufsausübungsgemeinschaft, BAG, bezeichnet). Nur unter zehn Prozent sind in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ) angestellt. Diese fachübergreifenden, ärztlich geleiteten Einrichtungen sind seit 2004 zugelassen und haben das Ziel eine interdisziplinären Versorgung aus einer Hand zu gewährleisten – eine Neuauflage der Polikliniken der DDR.

Es war ein langer, holpriger Weg, geprägt von viel Widerstand von Seiten der niedergelassenen ÄrztInnen, bis zur Entstehung der MVZ. Und es wird ein langer Weg sein, bis aus den MVZ Orte von integrativer Kooperation* werden – mit dem Ziel Gesundheit zu fördern, nicht nur Krankheit zu verwalten.
Bereits 1887 entstand eines der ersten ambulanten Gesundheits­zentren in Deutschland: Die »Poliklinik weiblicher Ärzte für Frauen und Kinder« in der Alten Schönhauser Straße in Berlin wurde von zwei Ärztinnen geleitet (bis 1901 war Frauen der reguläre Zugang zum Medizinstudium verwehrt) und versorgte Patientinnen im Berliner Scheunenviertel zwischen Alexander- und Rosenthaler Platz. In den 20er Jahren folgten dann weitere solcher Einrichtungen: Die Ambulatorien. Der Vorsitzende des Deutschen Ärztevereinsbund (Vorläufer des heutigen Deutschen Ärztetages), Hugo Dippe, warnte bereits 1920: »Es sollen wilde Polikliniken geschaffen werden, die sich bisher nirgends bewährt haben, Stätten, in denen die allgemein beklagte Ramschbehandlung wahre Orgien feiern wird (...) Wir zerbrechen uns die Köpfe, wie man die minderwertige Massenbehandlung der Versicherten verhüten kann; die Kassen setzen alles daran, sie im Großen auszubauen.« (Arndt, 2009)

Die 1923, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, erlassene Notverordnung sollte die Krankenkassen vor dem Bankrott retten. §1 verpflichtete ÄrztInnen zum effi­zienten Einsatz von Behandlungen sowie Arznei- und Hilfsmitteln – mit Androhung von Strafe bei Zuwiderhandlung. Aus Protest gegen diese Verordnung kündigten die Ärzte den im Berliner Abkommen festgelegten Vertrag mit den Krankenkassen auf. Die Krankenkassen beschlossen daraufhin, Ambulatorien einzurichten, um die medizinische Versorgung ihrer Mitglieder gewährleisten zu können, »die nicht in der Lage waren, die damals von Ärzten geforderten außerordentlich hohen Kampfhonorare zahlen zu können«. Sie waren jedoch auch »Aushängeschild gesundheitlicher Zielvorstellungen der linkspolitischen Parteien und Ärzte. Es sollte die sozialhygienische, also die auf Prävention angelegte ärztliche Tätigkeit integraler Bestandteil der ärztlichen Betreuung sein.« (Schagen, 2004). Knapp 40 Ambulatorien entstanden – vorrangig in Berlin. Von Anbeginn wurden sie vom Widerstand der Ärzteschaft begleitet, die zu 80 Prozent im Leipziger Verband (später nach seinem Gründer Hartmannbund genannt) organisiert waren und regelrechte Diffamierungskampagnen gegen ihre dort angestellten ärztlichen KollegInnen betrieben. Diese trügen zur »Vernichtung der Selbstständigkeit des Arztes« bei und dies bedeute die Aufgabe der ärztlichen »Berufsidee« (Karl Haedenkamp, berühmter ärztlicher Standespolitiker, 1928; der als oberster Vertreter der Ärzteschaft 1933 die Machtergreifung Hitlers »freudig begrüßte«). Die Ambulatorien wurden zum »Kristallisationskern einer Gesundheitspolitik, die sich der Politik der großen Ärzteverbände entgegenstellte (...) Für sozialmedizinisch engagierte Ärzte (...) war der angestellte Arzt – zum Beispiel am Ambulatorium ein alternatives Berufsmodel, und entsprechend arbeiteten hier häufig sozialdemokratische und kommunistische Ärzte.« (Wolff, 1997)

Nachdem die Arbeit und Ausweitung der Ambulatorien aus ökonomischen Gründen, aber auch auf Druck der selbstständigen Ärzte, zunehmend eingeschränkt wurde, kam es zu einem jähen Ende mit Machtantritt der Nationalsozialisten. Die »hoffnungsvollen Ansätze einer Gesundheitspolitik der Krankenkassen mit Hilfe von Ambulatorien und ihnen angeschlossenen Einrichtungen wurde 1933 durch die Nationalsozialisten zugunsten der ökonomischen Interessen der organisierten Ärzteschaft brutal zerschlagen.« (Tennstedt, 1976) Ambulatorien galten als »Inbegriff linker Gesundheitspolitik«. (Arndt, 2009)

Nach 1945 entwickelten sich in West- und Ostdeutschland zwei komplett unterschiedliche Gesundheitssysteme. Re-etablierten sich in der Bundesrepublik die ärztliche Selbstverwaltung in Ärztekammern, die Kassenärztliche Vereinigung und Einzelpraxen, wurde in der DDR ein über eine einheitliche Sozialversicherung finanziertes Gesundheitssystem aufgebaut: Mit dem Aufbau von Polikliniken knüpfte man bewusst an die Ambulatorien der Weimarer Republik an. Sie sollten die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung mit geringem Ressourcenaufwand sichern und hatten neben Diagnostik und Therapie auch Prävention zum Schwerpunkt. Der Begriff Ambulatorien wurde weiterhin für die Praxen in ländlichen Regionen, die nur mit einer ÄrztIn besetzt waren, benutzt. In den Städten jedoch entstanden kooperative Modelle, die mit mindestens drei FachärztInnen (meist Innere Medizin, Chirurgie, Gynäkologie, später auch Allgemeinmedizin) sowie Pflegekräften und oft auch ApothekerInnen, PhysiotherapeutInnen, OptikerInnen und anderen Gesundheitsberufen besetzt waren. Je nach Größe der Einrichtung gab es ein Labor, Röntgenabteilung und sogar eigene Betten zur stationären Betreuung oder Pflege. »Von einer Poliklinik versprach man sich eine verbesserte ärztliche Leistung durch geballtes Fachwissen, das nicht nur einzelne Bereiche des kranken Organismus in Betracht zog, sondern »die Gesamtpersönlichkeit« (des Menschen, d. Verf.) (...) unter Berücksichtigung seiner individuellen Lebensverhältnisse, (...) aber gleichzeitig unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen er lebt. Die Poliklinik stand eindeutig in der Tradition der Sozialhygiene. Soziales und ärztliches Handeln sollte miteinander verschmelzen.« (Arndt, 2009)

Die Polikliniken in der DDR schlossen nicht nur inhaltlich an die Ambulatorien der Weimarer Republik an, sie entstanden auch nach deren Vorbild. »Sie kamen nach Deutschland nicht, hier muss einer Legende widersprochen werden, als Erfindung der Sowjets. Im Gegenteil, die wichtigsten Gesundheitspolitiker der Sowjetunion waren in den zwanziger Jahren bei deutschen Sozialhygienikern in die Lehre gegangen.« (Schagen, 2004) Das klar formulierte politische Ziel der Polikliniken war es auch, eine »demokratische Ärzteschaft« zu formen und die »alte Mauer, die nicht ohne Absicht zwischen Werktätigen und intellektuellen Schichten unseres Volkes, errichtet wurde, zu beseitigen und eine vertrauensvolle Zusammenarbeit beider herzustellen als unabdingbare Bedingung für den Fortschritt überhaupt«, so der Sozialmediziner Kurt Winter 1947. Bis auf wenige Ausnahmen arbeiteten fast alle ÄrztInnen in den staatlichen und betrieblichen Ambulatorien und Polikliniken als Angestellte. Diese wurden unter der Leitung der Kommune, eines Betriebs, einer Universität oder eines Krankenhauses geführt. Wobei sich das Verhältnis über die Jahre zugunsten Letzterer verschob.

Nach der »Wende« standen sich zwei diametral entgegengesetzte Versorgungssysteme gegenüber. Da in der BRD die Ausübung ambulanter Medizin in Anstellung ein standesrechtliches Tabu war und (oft heute noch) mit minderwertiger Versorgungsqualität gleichgesetzt wurde, kam es – bis auf Ostberlin und Brandenburg – dementsprechend schnell zu einer Abwicklung des Polikliniksystems. Am intensivsten wurde »jedweder Erhalt poliklinischer Versorgungstrukturen« durch die nun auch in den neuen Bundesländern durch die Übernahme der westdeutschen gesetzlichen Regelungen entstandenen kassenärztlichen Vereinigungen bekämpft (BMVZ, 2015). Doch leider gab es auch in den neuen Bundesländern viel zu wenige ärztliche KollegInnen, die sich für den Erhalt der Polikliniken stark machten (Beck, 2003).

In der BRD war von Anbeginn im »Vergleich zu den Entwicklungen in der DDR (…) die ambulante Versorgung stark individualisiert und auf den niedergelassenen Arzt zugeschnitten (worden, d. Verf.). Vor allem Prävention, eines der Hauptaugenmerke der Gesundheitspolitik in der DDR, musste dabei zwangsläufig vernachlässigt werden. Prophylaktische Maßnahmen waren in der privaten Arztpraxis schwer zu realisieren. Sie hingen stark von der Bereitschaft des einzelnen Arztes ab, diese wenig lukrativen Aufgaben zu übernehmen.« (Arndt, 2009) D. h., prophylaktische Tätigkeiten wurden nach den Regelungen des westdeutschen Kassenarztrechtes überhaupt nicht bezahlt. In Berlin war aufgrund der direkt nach dem Kriege bestehenden Zuständigkeit der sowjetischen Besatzungsmacht und damit der Deutschen Zentralverwaltung für das Gesundheitswesen zunächst ebenfalls die einheitliche Sozialversicherung und auch die Gründung von Ambulatorien und Polikliniken ermöglicht worden. (Schagen/Schleiermacher 2001) Das Konzept der Polkliniken scheiterte in West-Berlin dann aber am Widerstand der niedergelassenen ÄrztInnen und bereits 1958 wurden sie bis auf wenige (die bekannteste ist heute das AOK Centrum für Gesundheit in Berlin-Wedding) geschlossen.

Die Folgezeit war im Westen geprägt von Einzelpraxen und erst ab Anfang der 70er Jahre kam es zu einer deutlichen Erhöhung der Zahl der ärztlichen Gruppenpraxen. »Das starke Interesse vor allem jüngerer Ärzte an der Gruppenpraxis als Arbeitsform macht ein nicht geringes Veränderungspotential seitens der Ärzte selbst Richtung kooperativer Versorgungsformen deutlich. Ein Fehlschluss wäre es jedoch, anzunehmen, dass es von hier aus nur ›ein kleiner Schritt‹ hin zu berufsübergreifenden, an einer integrativen partnerschaftlichen Zusammenarbeit orientierten Gruppenpraxis (...) wäre. Die in der Literatur häufig zu findenden Hinweise auf sehr viel zahlreichere interdisziplinäre Praxisformen in anderen Ländern (vor allem England, Holland, USA) könnten einer solchen Vermutung Vorschub leisten.« (Hoffmann und Kollegen, 1982)

Bis 1968 waren die ärztlichen Gruppenpraxen nur in Ausnahmefällen und mit Genehmigung der Ärztekammer zulässig. Sie wurden als »Trittbrett einer sozialisierten Medizin« verteufelt. Politisch geprägt durch die Studentenbewegung der 60er Jahre starteten an verschiedenen Orten Medizinstudierende, ÄrztInnen zusammen mit anderen GesundheitsarbeiterInnen neue Modelle ambulanter Versorgung: Berufsgruppenübergreifende Gruppenpraxen, die sog. Gesundheitszentren. Es wurde eine integrative Zusammenarbeit ärztlicher und nichtärztlicher Berufsgruppen etabliert, die zwei Hauptziele verfolgte: Die Unterstützung eigenverantwortlich handelnder PatientInnen und Förderung von Selbsthilfeaktivitäten und die Einflussnahme auf die sozialen Bedingungen der Verursachung von Krankheit und Gefährdung von Gesundheit. Hoffmann und Kollegen dazu: »Wenngleich gerade diese beiden ›kritischen‹ Momente der gesundheits- und gesellschaftspolitischen Intention der Gesundheitszentren und Gruppenpraxen nur ansatzweise, begrenzt oder bisher überhaupt noch nicht handlungsrelevant geworden sind, so sind mit den Initiativen doch zumindest für die Berufe wie für die Betroffenen Sammelbecken für neues Wissen und ›Orte‹ eines möglicherweise transparenten Umgangs mit dem komplexen Geflecht der sozialen Bedingungen von Krankheit entstanden.« (Hoffmann und Kollegen, 1982)
In der sogenannten ersten Generation entstanden Gesundheitszentren in Hessen (Riedstadt, Frankfurt) und in Berlin (Gropiusstadt, Spandau Heerstraße Nord). Es folgten – aus den Erfahrungen der großen Gesundheitszentren lernend – kleinere Gemeinschafts- und Kollektivpraxen an verschiedenen Orten in der BRD (siehe Gesundheit braucht Politik 1/2013). Neben einem anderen Bezug zu PatientInnen und Gesellschaft experimentierten sie auch viel mit kollektiven Arbeitsformen: Konsensverfahren, Abbau von Hierarchien im Team, aber auch Ein­heitslohn, Bedarfslohn etc. Nicht wenige scheiterten an der Praxis und wurden wieder reguläre Einzel- oder Gruppenpraxen. Zu groß war die Diskrepanz zwischen Theorie und Wirklichkeit, dem eigenen Einkommen und dem anderer ärztlicher KollegInnen. Zudem erschwert wurde die Zusammenarbeit durch die Festschreibung der existierenden Hierarchien durch das Finanzierungssystem und die rechtlichen Regelungen in der ambulanten Versorgung. So waren es immer die ÄrztInnen, die mit ihren Honoraren oder den aufgenommenen Krediten die größte finanzielle Last trugen und entsprechende Entscheidungsmacht einforderten. Konzepte der Patientenzentrierung oder Stadtteilarbeit waren zudem nicht ausfinanziert und gingen im stressigen Alltag zunehmend verloren.

Die 2004 wieder eingeführten MVZ haben wenig von dem, was die Gruppenpraxis-Bewegung entwickelte. Sie werden oft als »Neuauflage des poliklinischen Modells der DDR missverstanden«. Eine kritische Auseinandersetzung mit beiden Modellen ist dringend angebracht. (Empfehlung: Schubert-Lehnhardt, 2010)
MVZ stoßen zunehmend auf Interesse bei jungen ÄrztInnen: Eine Teilzeitanstellung, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und ein angemessenes Einkommen in den Bereichen Innere Medizin, Allgemeinmedizin oder Chirurgie stehen hoch im Kurs (Umfrage der KBV unter Medizinstudierenden). So entstehen an vielen Orten MVZ oder Gemeinschaftspraxen – oft jedoch weiterhin vorrangig mit ÄrztInnen besetzt. Zudem merkt man der Ausgestaltung an, welchen – durchaus guten – Zweck die existierenden kooperativen Formen verfolgen. Investitionen gemeinsam tätigen, Ressourcen optimal auslasten, abgestimmte Behandlung mehrerer ÄrztInnen etc. werden als »Vorteile der Kooperation« genannt (KBV Praxis Wissen, Arbeiten im Team, 2015). Von Prävention oder Gesundheitsförderung ist keine Rede. Hier heißt es weiterhin, auf die guten Erfahrungen in anderen Ländern und die Datenlage zu den sozialen Determinanten von Gesundheit hinzuweisen. Es bleibt allerdings fraglich, ob in einem Gesundheitssystem, das von Kommerzialisierung, Standesinteressen und Profitorientierung geprägt ist, gesundheitsförderliche Sozial- und Gesundheitszentren möglich sind. Einen Versuch ist es wert!

 


Exkurs zu Sozialhygiene


Die Sozialhygiene (trotz historisch differenter Begriffsentstehung, im Kern praktisch identisch mit Sozialmedizin oder Public Health) bildet die Argumentationsgrundlage für berufsgruppenübergreifende kooperative Versorgungsformen. Dem Einfluss der Wohn-, Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Gesundheit der Menschen kann nicht alleine die ÄrztIn gerecht werden. Es bedarf der Kooperation verschiedener Berufsgruppen (Pflege, Soziale Arbeit, Wissenschaft, Psychologie, Pädagogik, Recht etc.). Die Reflexion des Missbrauchs der Sozialhygiene durch die Nationalsozialisten ist dabei zentral. »Während durch den Ersten Weltkrieg und die erste parlamentarische Demokratie, die Weimarer Republik, eine soziale Medizin politische Akzeptanz erhielt, wurde sie mit Beginn des Nationalsozialismus zugunsten der Rassenhygiene aus dem akademischen Unterricht sowie dem öffentlichen Gesundheitsdienst entfernt. (Es) wurden in dieser Zeit nicht selten aus ›Sozialhygienikern‹ auch ›Rassenhygieniker‹ und nach Kriegsende in Westdeutschland wieder ›Sozialhygieniker‹. Nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten sozialmedizinische Forschung und Lehre in den beiden deutschen Staaten unterschiedliche Bedeutung und Förderung. Während die Sozialmedizin in der BRD einen langen Prozess der Etablierung durchlief, avancierte die Sozialhygiene in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR unmittelbar nach dem Krieg zur Leitwissenschaft für Universitätsmedizin und Gesundheits- wie Sozialpolitik.« (Schagen, Schleiermacher, 2005) Belastet von ihrer Vergangenheit haben es die Sozialmedizin und gegenwärtig Public Health nicht leicht in Deutschland. Eine weitere Förderung kritischer Forschung und Lehre in diesem Bereich, aber auch der Übergang von Theorie zur Praxis ist dringend notwendig.


 

* Kirsten Schubert ist Ärztin, aktiv in der ›Poliklinik-Gruppe‹ Hamburg/Berlin, die den Aufbau von Sozial-und Gesundheitszentren planen, und stellvertretende Vorsitzende des vdää;
Udo Schagen ist Arzt; er leitete von 1986 bis 2004 die Forschungsstelle Zeitgeschichte der Medizin, zunächst an der FUB und dann an der Charité / Universitätsmedizin Berlin.

 

Literatur:
Melanie Arndt: »Gesundheitspolitik im geteilten Berlin 1948 bis 1961«, Wien 2009
Bundesverband MVZ, Gesundheitszentren, Integrierte Versorgung e.V., sehr informative Webseite unter: www.bmvz.de
Winfried Beck: »Nicht standesgemäß: Beiträge zur demokratischen Medizin«, Frankfurt/M 2003
Ute Hoffmann / Carmen Tatschmurat / Ortrud Zettel /Ingrid Schubert: »Gruppenpraxis uns Gesundheitszentrum«, Frankfurt/M 1982
Udo Schagen: »Rede auf der Fachkonferenz über die Entwicklung von Gesundheitszentren«, 2004
Udo Schagen / Sabine Schleiermacher: »Gesundheitswesen und Sicherung bei Krankheit und im Pflegefall. Rahmenbedingungen für die Reorganisation des Gesundheitswesens. Die Sowjetische Besatzungszone und Berlin«, in: Udo Wengst (Hg. des Bandes): »Die Zeit der Besatzungszonen 1945-1949. Sozialpolitik zwischen Kriegsende und der Gründung zweier deutscher Staaten«, Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945 Bd. 2/1. Hg. vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung und dem Bundesarchiv. Baden-Baden 2001, S. 464-485 und 511-528. Bd. 2/2 enthält dazugehörige Dokumente.
Udo Schagen / Sabine Schleiermacher i. A. der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention (DGSMP): »100 Jahre Sozialhygiene, Sozialmedizin und Public Health in Deutschland«, CDR0M, Berlin 2005
Viola Schubert-Lehnhardt: »DDR-Polikliniken und Medizinische Versorgungszentren – ein Vergleich zweier umfassender Versorgungsformen«, in: Privatisierung von Krankenhäusern, Wiesbaden 2010
Florian Tennstedt: »Sozialgeschichte und Sozialverwaltung«, 1976
Eberhard Wolff: »Ärztestreik und Ambulatorien«, Deutsches Ärzteblatt 1994

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin. Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

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