GbP 2-2015 Cordula Mühr

Aus Patientensicht

Cordula Mühr über die Funktionsweise des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA)

 

Patientenvertretung im G-BA

Im Gegensatz zu Ländern mit einem staatlichen Gesundheitssystem wird in Deutschland die hoheitliche Aufgabe der Organisation und Leistungserbringung von Gesundheitsversorgung an eine sogenannte »Selbstverwaltung« delegiert. Die Idee der Selbstverwaltung hat sich in Deutschland parallel zur Ent­stehung der Krankenversicherung entwickelt, sie beinhaltet, dass öffentliche Angelegenheiten durch juristische Personen des öffentlichen Rechts, die dem Staat eingegliedert sind, in eigenem Namen, unter eigener Verantwortung durch eigene Organe, aber unter der Aufsicht des Staates erfüllt werden. Selbstverwaltungskörperschaften im Gesundheitswesen sind die Berufskammern der Heilberufe (Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker und neuerdings auch Psychologen), ferner die Träger der Sozialversicherung, und hierbei speziell die gesetzlichen Krankenkassen, sowie die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Spitzenorganisation der Krankenhausträger. (Siehe unten Exkurs zu Sozialwahlen)

Die oberste Ebene der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen auf Bundesebene war bis 2003 in fünf nebeneinander tätigen Ausschüssen organisiert, diese berieten hinter verschlossenen Türen und ohne transparente Berichterstattung über die Leistungen der GKV für ihre 70 Mio. Versicherten. Dieses Vorgehen geriet zunehmend in die öffentliche Kritik, weil die Ausschüsse als »untergesetzgeberische Normgeber« (»kleiner Gesetzgeber«) Beschlüsse trafen, die erhebliche Konsequenzen für Versicherte und Patienten hatten, ohne demokratisch ausreichend – z.B. durch allgemeine Wahlen – legitimiert zu sein. Gleichzeitig hatten sich die den Patienten und Bürgern zugeschriebenen Rollen in allen Gesundheitssystemmodellen bereits seit den 1980er Jahren gewandelt: Einerseits wurden sie vermehrt unter ökonomischen Aspekten als Nachfrager einer Dienstleistung betrachtet, gleichzeitig spielte auch Druck durch Bewegungen »von unten«, z.B. im Rahmen der Selbsthilfe-Bewegung seit den 70er Jahren und der Gesundheitsbewegung der 80er Jahre eine Rolle, ohne die Patientenbeteiligung im G-BA nicht denkbar wäre. Auch die in den 90er Jahren international geführte Debatte um mehr Bürgerbeteiligung auf allen Ebenen spielt eine gewisse Rolle. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das Thema der Bürgerbeteiligung bzw. kollektiver Rechte schon 1994 in ihrer »Declaration on the Promotion of Patients’ Rights in Europe« aufgenommen. Ein neues europä­isches Konzept kollektiver Bürgerrechte als Beteiligungsrechte enthält die Deklaration des Europarates Recommendation No. R (2000) (1)

Aus Systemsicht kann die Patientenbeteiligung jedoch eher als Flankierung notwendiger Reformen verstanden werden denn als Wunsch nach Demokratisierung des Gesundheitssystems. Nicht zufällig waren nämlich zeitgleich mit der Patientenbeteiligung Einschränkungen im Leistungskatalog sowie die Praxisgebühr eingeführt worden.

Seit 2004 gestaltet ein einziger Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA) als oberstes Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland die Vorgaben des Sozialgesetzbuches V aus.(2) Den gesetzlichen Auftrag und damit seine rechtliche Legitimation erhält der G-BA durch den Bundestag und den Bundesrat in Deutschland. Die Finanzierung erfolgt über sogenannte Systemzuschläge: Bei jedem stationär oder ambulant abzurechnenden Behandlungsfall wird dazu aus den Versicherten­beiträgen ein Zuschlag erhoben. Dem Bundesgesundheitsministerium (BMG) kommt lediglich die sog. Rechtsaufsicht zu, das heißt: Es darf nur prüfen, ob Satzungsbeschlüsse staatliche Rechtsnormen oder die Satzung der Körperschaft verletzen. In Ermessens- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen der Selbstverwaltung darf die Aufsichtsbehörde – bis auf wenige Ausnahmen – nicht eingreifen. Die Legitimität des G-BA ist angesichts der Erweiterung seiner Zuständigkeiten bei gleichzeitiger Ausdehnung der Bindungswirkung der durch ihn erlassenen Richtlinien bis heute Gegenstand verfassungsrechtlicher Kontroversen.(3)
Zeitgleich mit dieser Neu­strukturierung wurde mit der Gesundheitsreform 2003 im Sozialgesetzbuch V geregelt, dass Patientenvertreter im G-BA und einigen weiteren Gremien auf Landesebene als rede- und antrags-, jedoch nicht stimmberechtigte Mitglieder beteiligt werden. Die Beteiligung von Patientenorganisationen an der Gestaltung des Gesundheitssystems ist in § 140 f (SGB V)(4) geregelt. Sein zentraler Absatz 1 lautet: »Die für die Wahrnehmung der Interessen der Patientinnen und Patienten und der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen maßgeblichen Organisationen sind in Fragen, die die Versorgung betreffen, (…) zu beteiligen.« Folgende Patienten- und Selbsthilfeorganisationen sind als maßgebliche Organisationen derzeit berechtigt, Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter zur Mitwirkung im G-BA zu benennen:

• Deutscher Behindertenrat (DBR, www.deutscher-behindertenrat.de)
• Bundesarbeitsgemeinschaft der PatientInnenstellen (BAGP, www.gesundheits.de/bagp/)
• Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. (DAG SHG, www.dag-shg.de )
• Verbraucherzentrale Bundesverband e. V. (vzbv, www.vzbv.de)

Weitere Organisationen könnten anerkannt werden, wenn sie nachweisen, dass sie die genannten Anforderungen erfüllen. Das ist allerdings bisher nicht geschehen. (Zu den Anforderungen an Patientenvertretung, siehe Exkurs unten)

Ungleich lange Spieße

Patientenvertretung im G-BA wird überwiegend von ehrenamtlichem Engagement getragen – häufig von selbst betroffenen und kranken Menschen. Und so stehen deren Ressourcen zur Erreichung der gesteckten Ziele in einem deutlichen Missverhältnis zu den Kapazitäten der Träger des G-BA.
Beschlüsse des G-BA haben unmittelbaren Einfluss auf die Berufsausübung und von Ärzten, Krankenhäusern und Pharmaindustrie, ihre Beratungen im G-BA sind dementsprechend politisch brisant und umkämpft. Die Trägerorganisationen des G-BA haben durchaus widersprüchliche Funktionen: Ärztekammern sollen einerseits die Einhaltung der Berufspflichten der Ärzte überwachen, die sie selbst in Berufsordnungen definiert haben, zugleich aber auch Interessenvertretung für den Berufsstand sein. Krankenkassen sollten einerseits die Interessen ihrer Mitglieder und vor allem die Interessen der Patienten vertreten, sind aber zugleich untereinander im Wettbewerb und konkurrieren um junge Gesunde.

Ein wichtiger Schritt zu mehr Einfluss der PatientInnen erfolgte im Rahmen des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes vom 26. März 2007, durch das der G-BA verpflichtet wurde, die Patientenorganisationen bei der Umsetzung ihrer Beteiligungsrechte zu unterstützen: Eine »Stabsstelle Patientenbeteiligung« wurde eingerichtet, deren Mitarbeiterinnen für die Unterstützung der Patientenvertretung bei der Ausübung des Mitberatungs- und Antragsrechts (§ 140f Absatz 6 SGB V) verantwortlich sind. Gleichzeitig organisiert die Stabstelle regelmäßig Fortbildungen und Schulungen für Patientenvertreter zu Themenbereichen wie Arzneimittel- und Methodenbewertung, Qualitätssicherungsverfahren, Bedarfsplanung oder zu Grundsatzfragen der evidenzbasierten Medizin.
Seit elf Jahren sind Patientenvertreter im G-BA an allen Themen in fast allen Gremien beteiligt. Sie dürfen mitberaten, mitdiskutieren und Anträge stellen, aber nicht mit abstimmen. Inzwischen wird das Votum der Patientenvertreter in den meisten Gremien auch zu Protokoll genommen. Gelegentlich versuchen sogar andere Beteiligte, die Stimme der gar nicht stimmberechtigten Patienten zur Stärkung ihrer Position zu nutzen.

Stimmrecht für Patientenvertreter?

Viele Patientenvertreter verlangen inzwischen ein gleichberechtigtes Stimmrecht im G-BA. Als Einwand dagegen wird diskutiert, dass Patientenvertreter vor einem vollen Stimmrecht intensiv qualifiziert und mit deutlich mehr Ressourcen ausgestattet werden müssten. Zudem würde sich dann das Problem der qualifizierten Meinungsbildung und -äußerung noch verschärft stellen, denn Patienten sind keine homogene Gruppe, die automatisch eine einheitliche Meinung hätte: Sie bräuchten verbindliche Strukturen und Prozesse zur Abstimmung und Koordination ihrer Positionen und Forderungen. Als ein pragmatischer und realistischer Vorschlag für einen nächsten Schritt wird gesehen, Patientenvertretern in den vielen Gremien erst einmal ein Stimmrecht in Verfahrensfragen einzuräumen, zum Beispiel wenn es um Geschäftsordnungen geht oder um Fragen der Themenauswahl.
Ein neues Feld für Patientenbeteiligung auf Länderebene wird zukünftig die sektorenübergreifende Qualitätssicherung sein, für die die Bundesländer ganz neue Strukturen mit verpflichtender Patientenbeteiligung aufbauen müssen.

Sollen Patientenvertreter professioneller werden, um Stimme und Wirkung zu haben? Das widerspricht dem Selbstverständnis vieler Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder von der Authentizität ihrer Erfahrung als Patienten, als chronisch Kranke, als Menschen mit Behinderung leben. Einige befürchten, dann als Betroffenenorganisationen von den Beraterorganisationen dominiert und überstimmt zu werden.

Einige versorgungsbezogen Verbesserungen konnten in der Vergangenheit durch die Patientenvertretung im G-BA durchgesetzt werden. Häufig werden jedoch von der Patientenvertretung eingebrachte und durch Argumente, Fakten, Erfahrungsberichte und Gutachten fundierte Vorschläge und Anträge nicht aufgegriffen. Die von den Trägerorganisationen dominierten Verhandlungen sind aus Patienten-Sicht oft nicht sachgerecht oder es werden keine wesentlichen Erkenntnisse für die Verbesserung der Versorgung von Patientinnen und Patienten umgesetzt. Wenn dies gelingt, dauert es in der Regel zu lange, bis Verbesserungen für die Patientenversorgung in G-BA Richtlinien aufgenommen werden – und noch länger bis diese bei den Patientinnen und Patienten ankommen. Deshalb empfinden manche Patientenvertreter den Kampf mit den Leistungserbringern und Kostenträgern im G-BA als aufreibend und im Verhältnis zum Aufwand relativ uneffektiv und denken über ganz andere Wege der Beteiligung nach: zum Beispiel einen mächtigen Patientenbeirat bei der Bundesregierung oder beim Bundestag, der jede gesundheitspolitische Maßnahme prüfen, diskutieren und bewerten muss und dann genehmigen, modifizieren oder ablehnen kann.


Zum Selbstverständnis der Patientenvertreter im G-BA

 »Wir sind als Betroffene sowie Beraterinnen und Berater unabhängig von den dort sonst vertretenen Interessen der Leistungserbringer, Krankenkassen, Industrie und Politik. Wir sind nur den Interessen der Betroffenen verpflichtet und lassen uns nicht von fremden Interessen instrumentalisieren.
Wir sind das Gegengewicht zu den anderen Akteuren im G-BA. Als Stimme der Patientinnen und Patienten sind wir im Gesundheitswesen unverzichtbar. Wir stehen dafür, dass Patientinnen und Patienten im G-BA und in der Versorgung ernst genommen werden. Wir bringen die Interessen der Patientinnen und Patienten selbstbewusst in Politik und G-BA ein. Wir legen beharrlich Schwachstellen der Versorgung offen und benennen Defizite, um die Qualität der Patientenversorgung zu verbessern und Transparenz zu erreichen«.

(»10 Jahre Patientenbeteiligung – Wir geben Patientinnen und Patienten eine Stimme«, in: www.nakos.de/data/Andere/2014/Patientenvertretung-GBA-Broschuere-10-Jahre.pdf)


Sozialwahlen


Die Sozialwahl oder Sozialversicherungswahl ist die Wahl zu den Selbstverwaltungsorganen der gesetzlichen Sozialversicherungsträger in Deutschland. Die ersten Sozialversicherungsträger nach dem Selbstverwaltungsprinzip wurden 1883 mit dem Gesetz über die Krankenversicherung der Arbeiter gegründet. Es folgten Unfall- und Rentenversicherung. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Selbstverwaltung im Zuge der Gleichschaltung wirkungslos. Mit dem Selbstverwaltungsgesetz vom 13. August 1952 wurde sie nach dem zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder eingeführt, seit 1953 findet sie alle sechs Jahre bei allen Trägern der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung statt. Durch die Zugehörigkeit zu einer Krankenkasse soll den Versicherten die Teilnahme an der Selbstverwaltung (Verwaltungsrat) und damit die Mitgestaltung der den Krankenkassen obliegenden Aufgaben ermöglicht werden. Diese Ausgestaltungsform der Mitbestimmungsrechte wird von den Versicherten aber nur in geringem Maße als Beteiligungschance wahrgenommen: Bei den bisher insgesamt 11 durchgeführten Sozialwahlen lag die Wahl durchschnittlich bei etwas über 30 Prozent. Häufig wird kritisiert, dass eine »Wahl« eigentlich nicht stattfindet, weil in den allermeisten Fällen nur eine einzige Vorschlagliste zugelassen wird oder die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber auf unterschiedlichen Vorschlagslisten der Anzahl der zu vergebenden ordentlichen Mandate entspricht. In diesem Fall gelten die Vorgeschlagenen als gewählt (»Friedenswahl«). Die Sozialwahlen 2011 kosteten die Versicherungsträger (bzw. die Versicherten) etwa 46,3 Millionen Euro. ( www.sozialversicherungswahlen.de; Schlussbericht über die Sozialwahlen 2011: www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/a411-schlussbericht-sozialwahlen-2011.html)


Sieben Anforderungen

an maßgebliche Organisationen zur Patientenvertretung auf Bundesebene

Sie müssen »(1) nach ihrer Satzung ideell und nicht nur vorübergehend die Belange von Patientinnen und Patienten oder der Selbsthilfe fördern, (2) in ihrer inneren Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen, (3) gemäß ihrem Mitgliederkreis dazu berufen [sein], die Interessen von Patientinnen und Patienten oder der Selbsthilfe chronisch kranker und behinderter Menschen auf Bundesebene zu vertreten, (4) zum Zeitpunkt der Anerkennung mindestens drei Jahre bestehen und in diesem Zeitraum im Sinne der Nummer 1 bundesweit tätig gewesen [sein], (5) die Gewähr für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung bieten; dabei sind Art und Umfang der bisherigen Tätigkeit, der Mitgliederkreis und die Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, (6) durch Offenlegung ihrer Finanzierung nachweisen können, dass sie neutral und unabhängig arbeiten, und (7) gemeinnützige Zwecke verfolgen.«


 

Cordula Mühr ist Ärztin und Patientenvertreterin und lebt in Berlin.

 

Anmerkungen:
1 »Soziale Herausforderungen an die Gesundheit: Gerechtigkeit und Patientenrechte im Kontext von Gesundheitsreformen«. Fünfte Konferenz der europäischen Minister für Gesundheit, Warschau 7.–8. November 1996, Abschlusstext, Unautorisierte Übersetzung aus: Kranich/Böcken: »Patientenrechte und Patientenunterstützung in Europa«, Baden-Baden 1997
2 www.g-ba.de
3 www.g-ba.de/downloads/17-98-3899/Rechtsgutachten_G-BA_Kluth_2015-04-13.pdf
4 www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/__140f.html
5 www.g-ba.de/institution/struktur/patientenbeteiligung/

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)


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