»Muddling through« oder »heimlich, still und leise«?
Die Gesundheitspolitik der dritten großen Koalition – Ein Zwischenfazit von Kai Mosebach*
Kai Mosebach gibt einen Überblick über die wichtigsten, bislang verabschiedeten Gesetze zur Krankenversorgung und geht aus der Perspektive der drängendsten gesundheitspolitischen Reformbaustellen der Frage nach, ob es folgenreiche Entscheidungen – für und gegen wen? – gegeben hat.
Die gesundheitspolitische Gesetzgebung der zweiten großen Koalition unter der Regentschaft von Angela Merkel stand unter der Zielsetzung der unspektakulären Bereinigung gröbster Konfliktlinien und der Stärkung bisheriger Reformmaßnahmen. Ganz in diesem Sinne wurde das Bundesgesundheitsministerium (BMG) mit einem erfahrenen Politikmoderator besetzt, Hermann Gröhe (CDU), dessen Aufgabe nach allgemeiner Einschätzung darin bestand, gesundheitspolitische Entscheidungen zu moderieren.
Finanzierung der Krankenversorgung: Gesundheitsfonds und Zusatzbeiträge
Als eine der ersten Gesetzgebungsinitiativen startete die schwarz-rote Bundesregierung das GKV-Finanzstruktur- und Qualitäts-Weiterentwicklungsgesetz (GKV-FQWG). Im Wesentlichen fokussierte es auf zwei Bereiche: erstens die Weiterentwicklung des Gesundheitsfonds und zweitens die Einrichtung eines beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) angesiedelten »Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen« (IQTiG; § 137a SGB V) zur Weiterentwicklung der Qualitätsorientierung im deutschen Gesundheitswesen. Einem klassischen Kuhhandel gleich wurde zwischen den Koalitionspartnern die Festschreibung des Arbeitgeberanteils (7,3 %) am allgemeinen Beitragssatz der GKV gegen die Aufgabe der »kleinen Kopfpauschale« getauscht. Der allein von Versicherten zu tragende Anteil (0,9 % der beitragspflichtigen Einnahmen) verschwand, tauchte jedoch kurzerhand wieder in verwandelter Form als kassenindividueller und einkommensabhängiger Zusatzbeitrag wieder auf. Die versprochene und zunächst auch beschlossene Absenkung des Beitragssatzes (von 15,5 % auf 14,6 %) ist folglich mittelfristig nur Augenwischerei.
Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Krankenversorgung: Mit IQTiG gegen IQWiG?
Der zweite wesentliche Baustein des GKV-FQWG bestand in der Installierung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTiG), das zum 9. Januar 2015 vom G-BA gegründet wurde. Hiermit wurde parallel zum IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen nach § 139a SGB V) ein zweites fachlich unabhängiges, wissenschaftliches Institut dem G-BA unterstellt. Im Gegensatz zum Aufgabenspektrum des IQWiG, welches sich der Entwicklung und Anwendung evidenzbasierter Verfahren zur Bewertung von Diagnostika und Therapeutika widmet, fokussiert das IQTiG auf »Maßnahmen zur Qualitätssicherung und zur Darstellung der Versorgungsrealität im Gesundheitswesen.« (§ 137a Abs. 3 Satz 1) Angesichts der gesetzlich festgehaltenen Ausrichtung des bereits existierenden IQWiG auf die »Bereitstellung von für alle Bürgerinnen und Bürger verständlichen allgemeinen Informationen zur Qualität und Effizienz in der Gesundheitsversorgung sowie zu Diagnostik und Therapie von Krankheiten mit erheblicher epidemiologischer Bedeutung« (§ 139a Abs. 3 Nr. 6 SGB V) liegt mit der Gründung des neuen IQTiG und der offensichtlichen Dopplung von Aufgaben bei den beiden Instituten der Verdacht nahe, dass jenseits der zweifellos notwendigen Strukturierung vielfältiger Zertifikate und Qualitätssiegel (§ 137a Abs. 3 Nr. 7) mit dem IQTiG ein eher versorgungsnahes Qualitätsinstitut im deutschen Gesundheitswesen installiert werden soll.
Reformierung der Wirtschaftlichkeitsprüfungen in der vertragsärztlichen Versorgung: vor einer Honorarexplosion?
Der G-BA und die Gemeinsame Selbstverwaltung werden von dem jüngsten und mit Abstand bedeutsamsten Gesundheitsgesetz der dritten großen Koalition in vielfacher Weise stark aufgewertet: dem GKV-VSG, das in seiner Komplexität hier nicht ausführlich behandelt wird. Neben der Weiterentwicklung des Qualitätssteuerungssystems zielt das GKV-VSG auch auf die Reformierung der Wirtschaftlichkeitsprüfungen und der ungleichen Honorarniveaus zwischen den KV-Regionen in der vertragsärztlichen Versorgung, was von den Krankenkassen als Ausstieg aus und Ende der Wirtschaftlichkeitsprüfungen im ambulant-medizinischen Versorgungssektor kritisiert wurde, weil es eine Ausgaben- und Honorarexplosion zur Folge haben werde (vgl. z.B. Carels 2015: 35f.) Gegenstand der Prüfung sind nicht mehr bundesweit vereinbarte Regelleistungsvolumina, sondern die regional vereinbarten Arznei- und Heilmittelbudgets. Vermutlich werden in der Tat die vereinbarten Arzneimittel- und Heilmittelbudgets wachsen.
Bemerkenswert bei aller grundsätzlichen Kontinuität ist, dass im neuen § 140a Abs. 2 Satz 4 Verträge zu besonderen Versorgungsformen »spätestens vier Jahre nach dem Wirksamwerden der zugrunde liegenden Verträge« ihre Wirtschaftlichkeit nachweisen müssen. Im Gegensatz dazu verpflichtete der alte § 140b Abs. 3 Satz 1 SGB V lediglich die Vertragspartner von integrierten Versorgungsverträgen auf eine »qualitätsgesicherte, wirksame, ausreichend, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten«.
Sicherstellung der Krankenversorgung: Mengenentwicklung, Wartezeiten und Versorgungssicherheit
Als besonders brennend wurden in den letzten Jahren periodisch wiederkehrend Versorgungsprobleme hinsichtlich einer nicht-medizinisch indizierten Mengenausweitung (insbesondere im Krankenhaus), überlanger Wartezeiten von GKV-Versicherten im Vergleich zu privat versicherten Patienten und auch die Sicherstellung insbesondere der ambulanten hausärztlichen Versorgung in ländlichen und strukturschwachen Regionen diskutiert. Mit dem GKV-VSG versucht der Gesetzgeber, diesen Problemen mittels einer ganzen Reihe von Maßnahmen zu begegnen.
Erstens verpflichtet der Gesetzgeber den G-BA, eine Liste von Indikationen planbarer Operationen zu entwickeln, die besonders der Gefahr der nicht-medizinisch indizierten Mengenausweitung unterliegen (§ 27b Abs. 1 u. 2). Diese Liste soll die Grundlage für den Anspruch auf Einholung einer »Zweitmeinung« bei Fachärzten in unterschiedlichen Einrichtungen der vertragsärztlichen Versorgung (Praxis, MVZ, ermächtige Krankenhäuser) und zugelassener Krankenhäuser begründen (§ 27b Abs. 2 u. 3 SGB V). Ob ein solches Zweitmeinungsverfahren die Anreizstrukturen, die zu einer nicht-medizinisch indizierten Mengenausweitung führen können, neutralisieren kann, bleibt offen.
Zweitens will der Gesetzgeber die im Laufe der letzten Dekade bekannt gewordenen steigenden Wartezeiten von GKV-Versicherten durch die Einrichtung sog. Terminservicestellen bei den Kassenärztlichen Vereinigungen entgegenwirken (§ 75 Abs. 1a SGB V). Die – auch kooperativ mit den Landesverbänden einer Krankenkasse gründbare – Terminservicestelle hat Versicherten »innerhalb einer Woche einen Behandlungstermin« zu vermitteln. Die maximale Wartezeit auf den vereinbarten Termin beträgt vier Wochen. Wenn es Terminservicestelle nicht gelingt, innerhalb von vier Wochen einen Behandlungstermin bei einem Arzt in zumutbarer Entfernung anzubieten, muss sie einen »ambulanten Behandlungstermin in einem zugelassenen Krankenhaus« (§ 75 Abs. 1a Satz 5) anbieten – und dies soll auf Kosten des KV-Budgets gehen. Routineuntersuchungen und Bagatellerkrankungen sind von dieser Regelung ausgeschlossen. Die Hauptursache für die Wartezeiten-Problematik besteht darin, dass PKV-Versicherte im Vergleich mit GKV-Patienten ein höheres Einkommen für die niedergelassene Ärzteschaft generieren. Die Terminservicestellen ändern an diesem Tatbestand nichts. Wo Wartezeiten existieren, weil die Versorgung rein quantitativ nicht sichergestellt ist, können Terminservicestellen nichts bewirken, außer dass Patienten höhere Entfernungen zu vermittelten Fachärzten in Kauf nehmen müssen.
Drittens: die (lokale, regionale) Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung. Bereits mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) der schwarz-gelben Regierungskoalition war versucht worden, die Regelungen zu Über- und Unterversorgung von Haus- und Fachärzten zu verändern und eine kleinteiligere Bedarfsplanung zu entwickeln. Im GKV-VSG wird nunmehr Kommunen auch ohne Zustimmungspflicht durch die Kassenärztlichen Vereinigungen die Möglichkeit eröffnet, über die Gründung von Medizinischen Versorgungszentren an der vertragsärztlichen Versorgung teilzunehmen (§ 95 Abs. 1a Sätze 1 u. 2 SGB V). Der G-BA wird darüber hinausgehend beauftragt, bis zum 1. Januar 2017 auch für die Gruppe der psychotherapeutisch tätigen Psychotherapeuten analog zu den anderen Facharztgruppen die »Verhältniszahlen zu überprüfen« und dabei »die Möglichkeit zu einer kleinräumigen Planung« zu beachten (§ 101 Abs. 1 Satz 7 SGB V). Die weiter bestehenden Probleme bei der Sicherstellung der hausärztlichen Versorgung in strukturschwachen bzw. ländlichen Regionen wird zum einen über die bundesweite Ausweitung regionaler Weiterbildungsprogramme zur Förderung der Allgemeinmedizin – wie in Hessen und Baden-Württemberg mit Erfolg verfolgt – anvisiert (§ 75a SGB V). Schließlich soll nicht verschwiegen werden, dass die Zulassungsbeschränkungen präzisiert und ausgeweitet wurden. So sollen die Landesausschüsse bei Überschreiten des allgemeinen bedarfsgerechten Versorgungsgrades um 40 Prozent eine Feststellung vereinbaren (§ 103 Abs. 1 Satz 2); mit welchen Folgen bleibt unklar.
Während einige Maßnahmen sinnvoll erscheinen und auch in der gesundheitswissenschaftlichen Community positiv diskutiert wurden (Beteiligung von Kommunen an der vertragsärztlichen Versorgung, strukturierte Weiterbildungsmaßnahmen im Fach Allgemeinmedizin), sind andere Maßnahmen in ihrer Wirksamkeit eher skeptisch zu beurteilen. So ist die Übertragung ärztlicher Tätigkeiten auf nicht-medizinische Gesundheitsberufe als halbherzig zu beurteilen und ist im internationalen Vergleich geradezu als rückständig zu charakterisieren. Auch der Versuch, mittels Sonderzulassungsrechten für Ärztinnen und Ärzte, die eine Zeit lang in schlecht versorgten Versorgungsregionen tätig waren, die Versorgungslücken auf dem Land zu schließen, dürfte sich die Versorgungslage in den unterversorgten Bereichen nur geringfügig verbessern.
»The Empire strikes back« oder »Tradition verpflichtet«: Ärztinnen und Ärzte sind Punktsieger der schwarz-roten Gesundheitspolitik
Es kann nicht behauptet werden, dass die Reformvorhaben nicht besondere Akzente gesetzt hätten. Zunächst ist zu beobachten, dass die gesundheitspolitischen Reformen sich weiterhin dem Dogma der ökonomisch begründeten Beitragssatzstabilisierung beugen und damit bestens die neomerkantilistische Strategie der deutschen Wirtschaft unterstützen, die so viel Unheil in der Europäischen Union angerichtet hat. Der Gesetzgeber fokussiert nunmehr offenbar auf eine zunehmende, schleichende Privatisierung der Gesundheitsausgaben der GKV vermittels des neu eingeführten Zusatzbeitrages, dessen zukünftige Steigerung die Krankenkassen schon aus ihren Büchern lesen. Insbesondere für die wachsende Zahl prekär beschäftigter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dürfte das in Zukunft ein veritables Finanzierungs- bzw. Haushaltsrisiko darstellen – zumal es keine Regelungen, gibt, die die unteren Einkommensgruppen schonen. Des Weiteren lässt sich als übergreifendes Muster der vielfachen gesetzlichen Regelungen für die GKV feststellen, dass Leistungserbringer, insbesondere Ärztinnen und Ärzte sowie die Regelungsaufgaben der Gemeinsamen Selbstverwaltung massiv zu Lasten der Gestaltungsmöglichkeiten einzelner Krankenkassen bzw. der Kostenträger insgesamt gestärkt wurden.
Insofern stellt sich die schwarz-rote Gesundheitspolitik konsequent in die Tradition liberal-konservativer Gesundheitspolitik, die immer wieder die Privatisierung von Finanzierungsleistungen zulasten der Versicherten zum Zweck der Beitragssatzstabilität betrieben hat und zugleich den Interessen von Leistungserbringern, insbesondere der niedergelassenen Ärzteschaft entgegengekommen ist. Das Modell des Leistungserbringer getriebenen Wettbewerbs (Innovationsfonds) soll das Machtgleichgewicht zwischen Krankenkassen, Ärztinnen und Ärzten rekonfigurieren. Eine solidarische Krankenversorgung für alle in Deutschland lebenden Menschen ist hingegen nicht in Sicht, denn weder ist die Abschaffung der PKV auf der politischen Agenda mehrheitsfähig noch die Aussetzung des dysfunktionalen Krankenkassenwettbewerbs absehbar.
* Kai Mosebach ist Dipl.-Politologe und derzeit beauftragt mit der Vertretung des Lehrgebietes »Gesundheitswissenschaften, Gesundheitspolitik und Gesundheitsökonomie« an der FH Ludwigshafen betraut.
(Dies ist die stark gekürzte Fassung der Analyse von Kai Mosebach. Die originale Langfassung ist auf der Homepage des vdää nachzulesen. Zu den Veränderungen in der Krankenhausfinanzierung siehe den Artikel von Peter Hoffmann in diesem Heft.)
Zitierte Literatur
Jan Carels: »Reform-Menü mit fadem Beigeschmack«, in: G + G. AOK-Forum für Politik, Praxis und Wissenschaft, 18(4), 2015, S. 34-37
Marian Döhler/Phillip Manow: »Strukturbildung von Politikfeldern«, Opladen 1997
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)