Umkämpftes Terrain
Eine Einführung in die Globale Gesundheit – von Andreas Wulf
Die enge Verknüpfung von Gesundheit, Politik und Wirtschaft zeigt sich nicht nur auf der Ebene nationalstaatlicher Gesundheitspolitik, sondern ganz besonders auch im internationalen Kontext. Andreas Wulf erläutert Sinn und Problematik des Begriffs der Globalen Gesundheit.
Gesundheitsfragen spielten in der internationalen Diplomatie schon im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Die ersten Verhandlungen und das erste internationale Abkommen betrafen die durch den globalen Handel der Kolonialperiode zunehmenden »globalen Epidemien«, vor allem die Cholera Ausbrüche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber auch die Pestepidemien, die noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts in Hafenstädten Europas durch den massiv gewachsenen Schiffsverkehr wieder auftraten. Informations-, Hygiene- und Quarantäne-Regelungen standen in Ermangelung wirksamer Behandlungskonzepte hier im Vordergrund, nicht anders als bei den heutigen Ausbrüchen von Ebola, MERS und Influenza. Die »International Health Regulations«(1), die 2005 unter dem Dach der Weltgesundheitsorganisation in Genf als völkerrechtlich bindender Vertrag von den Mitgliedsländern der WHO verabschiedet wurden, sind direkte Nachkommen dieser Geschichte, die 1851 mit der »First International Sanitary Conference« in Paris begann(2).
Die enge Verbindung von Gesundheit und kolonialer Ausdehnung der europäischen Mächte zeigte sich aber auch in der starken Investition in den kolonialen Ländern in die »Tropenmedizin«, die ein wichtiger Bestandteil für die koloniale Durchdringung wurde, zunächst und an erster Stelle als Schutz der europäischen Händler, Soldaten und Siedler vor unbekannten Gesundheitsgefahren. Die westafrikanische »Goldküste« von Guinea im Westen bis Kamerun im Osten galt, wegen der hohen Sterblichkeit an Gelbfieber und Malaria als »Grab des weißen Mannes«.
So entstanden in Antwerpen und Amsterdam, in London und Paris, in Hamburg und Berlin, in Barcelona und Lissabon tropenmedizinische Institute, die mit den »Waffen« der modernen Wissenschaft diesen Bedrohungen des Lebens und der Profite der kolonialen Herren zu Leibe rückten.
Zugleich wurde die sich rasch entwickelnde »moderne Medizin« auch Teil eines kulturellen Kampfes um die Herzen und Köpfe der kolonisierten Menschen, quasi das menschenfreundliche Pendant zur gewalttätigen Eroberung und Ausbeutung der kolonisierten Länder: Vor allem die kirchlichen Missionsdienste brachten westliche Bildung und Medizin in Form von Missionsschulen und Missionskrankenhäusern als Zeichen christlicher Humanität und zugleich zivilisatorischer Überlegenheit mit in die Länder Lateinamerikas, Afrikas und Asiens, und schufen dafür ihre eigenen Institutionen, von denen in Deutschland das protestantische »Deutsche Institut für ärztliche Mission« in Tübingen und das katholische »Missionsärztliche Institut« in Würzburg die wichtigsten sind. Auch wenn diese sich heute von der »missionarischen Tradition« ihrer Häuser deutlich distanzieren und fortschrittliche Konzepte der Basisgesundheitspflege (s.u.) und die Orientierung an universalen Menschenrechten ihre Arbeit bestimmen, stehen sie doch ebenso in dieser Geschichte wie die vielen christlich inspirierten Entwicklungshilfeorganisationen wie etwa World Vision, in deren Engagement lange Zeit und teilweise noch bis heute das missionarische Element mit den Gesundheits- und Bildungsprogrammen eng verwoben war.
Ein weiterer, säkularer aber nicht weniger wirkmächtiger Akteur globaler Gesundheit entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der größten privatwirtschaftlichen Stiftung, der Rockefeller Foundation in den USA. Gehörten Gesundheitseinrichtungen schon lange zum Feld philanthropischen Engagements reicher Bürger in ihren Städten und Gemeinden, so ermöglichte der ökonomische und politische Aufstieg der USA dieser Stiftung eine gezielte und erfolgreiche Etablierung als wichtigster Akteur bei der Entstehung des Wissens- und Politikfeldes »öffentlicher Gesundheit« (Public Health). In zahlreichen Ländern regte die Stiftung die Gründung von Public Health Instituten an, vergab Ausbildungsstipendien und finanzierte Forschungsvorhaben an und hatte dabei immer auch den ökonomischen Nutzen solcher Gesundheitspolitik mit im Blick: Die Bekämpfung von Krankheiten war immer auch eine Chance, neue Länder und Märkte für den »American way of life (and doing business)« zu öffnen, am deutlichsten vielleicht zu sehen am Engagement gegen die schweren Malaria- und Gelbfieberepidemien auf dem Doppelkontinent, die schon die Arbeiten am Panamakanal zu einem Massengrab für die Arbeiter gemacht hatten. Auch das Engagement der Stiftung bei der Bekämpfung der Hakenwurm-Infektion, die als chronische Krankheit mit dem Hauptsymptom der Blutarmut vor allem die Leistungsfähigkeit der Landarbeiter einschränkt, hatte neben dem humanitären einen klaren ökonomischen Aspekt.
Ein prominentes aktuelles Beispiel eines solchen »Philanthrop-Kapitalismus« ist die Bill & Melinda Gates Foundation, die mit milliardenschweren Investitionen bevorzugt in »Public-Private Partnerships for Health« die globale gesundheitspolitische Landschaft seit der Jahrtausendwende massiv dominiert. Der sehr US-amerikanische Traum von den »Quick Fixes«, den technologischen Wunderlösungen für komplexe gesellschaftliche und soziale Probleme, wie sie im Gesundheitsbereich vor allem auftreten, wird vielleicht am deutlichsten in dem »Grand Challenges Program« der Gates Stiftung, die seit 2003 mit inzwischen über 1 600 Förderungen an 16 Zielen arbeiten lässt, darunter der Anreicherung eines Grundnahrungsmittel mit einem vollen Profil von notwendigen Mikronährstoffen, der Entwicklung von Impfstoffen, die ohne Kühlung und ohne Injektion funktionieren, oder neuen Diagnostiktests, die ohne Labor auskommen.
Die problematischen »Nebenwirkungen« einer solchen auf technische Einzellösungen fixierten Haltung sind zweierlei: Zum einen geraten systematisch die strukturellen Ursachen für Gesundheit und Krankheit, die als »soziale Determinanten« die wesentlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen, Ernährungssicherheit, Wohnverhältnisse, und besonders die sozialen Ungleichheit als wesentliche Mitverursacher von Krankheit und vorzeitigem Tod identifizieren, aus dem Blick. Ein solches Konzept wurde auf der globalen Ebene besonders mit dem »Primary Health Care (Basisgesundheitspflege)«-Konzept aus den 70er Jahren zum Eckstein einer an sozialer Gerechtigkeit orientierten Gesundheitspolitik.
Zum Zweiten entstand besonders in den letzten 15 Jahren eine der immer stärkeren Fragmentierung von Gesundheitsdiensten in vielen Ländern des Südens in Einzelprogramme zur Bekämpfung einzelner Krankheiten (Tuberkulose, HIV/AIDS, Malaria) oder spezieller Lebenssituationen (Mutter-Kind-Gesundheit), die häufig besser ausgestattet sind als die verbliebenen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen, deren Personal in die besser bezahlten Programme oder gleich in den privaten Sektor für eine kleine vermögende Mittel- und Oberschicht abwanderte. Und damit wird die besonders bedürftigen Teile der Bevölkerung, die durch prekäre Lebensbedingungen besonders häufig krank werden, auch noch besonders benachteiligt beim Zugang zur Gesundheitsversorgung.
Ein ähnliches Phänomen der Zersplitterung ist auf der Ebene der globalen Gesundheitspolitik zu beobachten: War traditionell seit ihrer Gründung im Jahr 1948 die Weltgesundheitsorganisation WHO mit ihren inzwischen 193 Mitgliedsländern die zentrale »koordinierende und leitende« Institution für globale Gesundheitsfragen, so hat sie spätestens seit den 90er Jahren, als sich die Weltbank als größter globaler Finanzier von Gesundheitsprogrammen in den Entwicklungsländern auch gesundheitspolitisch klar auf die Seite von Privatisierungsmodellen in vormals öffentlichen Gesundheitssystemen gestellt hat, zunehmend Konkurrenz bekommen. Mit den »Globalen Gesundheitspartnerschaften« der 2000er Jahre, an denen die erwähnte Gates Foundation wesentlichen Anteil hat, und einer geringen Bereitschaft ihrer Mitgliedsländer, dieser Weltbehörde ausreichend flexible Mittel bereitzustellen, sondern durch vornehmliche Programmfinanzierung ihre Handlungsfähigkeit weiter einzuschränken, bleibt der WHO oft nur ein internes Krisenmanagement, wie es aktuell in der Ebola-Krise zu beobachten war.
Die WHO als wichtige Stimme und Vertretung einer am Gemeinwohl orientierten öffentlichen Politik zu stärken, fordern vor allem kritische zivilgesellschaftliche Stimmen. Wie wichtig das ist, zeigen die Versuche der Einflussnahme privatwirtschaftlicher Akteure auf Positionen der WHO, etwa die Pharma-Industrie auf Entscheidungen im Bezug auf Arzneimittelpolitik (z.B. Patentfragen oder Medikamentenwerbung) oder die Zucker- und Nahrungsmittelindustrie im Bezug auf die Ursachen und die Bekämpfung von chronischen Krankheiten (der Zusammenhang von globaler Nahrungsmittel-Kommerzialisierung und Zunahmen von Adipositas und Diabetes). Die Stimme der WHO in der Debatte um die Wichtigkeit einer öffentlichen Kontrolle und Regulation privatwirtschaftlicher Akteure, die vorrangig ihren Profitinteressen verpflichtet sind, wird durch die »global public-private Partnerships for Health«, in denen viele dieser globalen Konzerne involviert sind, und in der die WHO nur ein Akteur unter vielen geworden ist, massiv behindert. Auch die Abhängigkeit, in die die WHO durch massive finanzielle Zuwendungen von Seiten der Gates-Stiftung (die inzwischen nach den USA der zweitgrößte Finanzier der WHO geworden ist) geraten ist, verhindert strukturell eine kritische Haltung gegenüber den Interessenskonflikten zwischen privaten Akteuren und öffentlicher Gesundheitspolitik. Deshalb sind gerade auch die Debatten um die Kontrolle solcher Interessenkonflikte innerhalb der WHO und der Mitgliedstaaten besonders heftig.
Solche Debatten auch in der bundesdeutschen Öffentlichkeit jenseits der kleinen entwicklungspolitisch interessierten Kreise bekannt zu machen, ist das Ziel der Deutschen Plattform für Globale Gesundheit, in der interessierte Gewerkschaften, Sozialverbände und kritische Gesundheitsorganisationen mitarbeiten(3).
Ein erster öffentlicher Auftritt der Plattform waren kritische Anmerkungen zum 2013 erschienenen Konzept der Bundesregierung zu Globaler Gesundheit(4). Im Zentrum stand dabei eben jene Fixierung auf einen rein medizinisch-technischen Begriff von Gesundheit, der die zentralen sozialen und politischen Rahmenbedingungen von Gesundheit außer Acht lässt und zudem in erster Linie von Gesundheitsgefahren für die deutsche Bevölkerung ausgeht, statt eine konsequente Orientierung an einer »Gesundheit für alle Menschen« in den Blick zu nehmen, an der sich eine echte globale Gesundheitspolitik orientieren muss, wenn sie ihren Namen verdienen will. Einem solchen Blick fühlt sich auch der vdää verpflichtet, der seit der Gründung der Plattform ebenfalls Mitglied ist.
Andreas Wulf arbeitet bei medico international in Frankfurt als Projektkoordinator für Gesundheit.
Anmerkungen und Quellen:
1 www.who.int/ihr/publications/9789241596664/en/
2 https://en.wikipedia.org/wiki/International_Sanitary_Conferences
3 www.medico.de/die-deutsche-plattform-fuer-globale-gesundheit-14716
4 www.medico.de/fileadmin/_migrated_/document_media/1/globale-gesundheitspolitik--fuer-alle-menschen.pdf
(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin. Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)