GbP 2-2015 Wulf Dietrich

Trotzdem – rein in die Kammern

Wulf Dietrich zur Mitarbeit in den ärztlichen Standesorganisationen


Als langjähriger Delegierter in der Bayerischen Landesärztekammer und auf Deutschen Ärztetagen erläutert Wulf Dietrich die Geschichte der Oppositionsarbeit in den Kammern und plädiert – trotz Zweifeln – dafür, weiter zu opponieren.

 

»Weil wir nicht raus können, müssen wir hineingehen« – so lautete Mitte der achtziger Jahre das Motto der Liste demokratischer Ärzte, als sie zum ersten Mal zur Wahl für die bayerische Landesärztekammer antrat. Die Listenkandidaten kamen damals aus der Friedensbewegung: Sie hatten sich empört über Pläne für Bunkerbau, den Ausbau des Zivilschutzes oder zur Fortbildung in Katastrophen-Medizin. Die überwältigende Mehrheit der Vertreter in der bayerischen Landesärztekammer war damals verstockt reaktionär. Während wir unter dem Motto »Wir werden Euch nicht helfen können« gegen den weiteren Ausbau von Zivilschutz von Katastrophen-Medizin und gegen den Ausbau der Atomenergie antraten, befürwortete die Kammer aktiv die Weiterbildung in Katastrophen- und Kriegsmedizin. Damals war das ehemalige SS- und NSDAP-Mitglied Sewering Vorsitzender der Kammer. Verstockt hatte er sich über Jahre geweigert, zu seiner medizinischen Tätigkeit unter den Nazis Stellung zu beziehen.

Der steinige Weg

Ärztekammern haben als Körperschaften des öffentlichen Rechts auch die Aufgabe, an der »öffentlichen Gesundheitspflege« teilzunehmen – ein sehr schwammiger und dehnbarer Begriff, der aber auch politische Beschlüsse in den Kammerversammlungen zulässt. Die Aufstellung einer Wahlliste war zum damaligen Zeitpunkt rein politischer Natur. »Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar« –also muss fortschrittliche Politik in die Kammern getragen werden. Als Pflichtmitglieder mussten wir unseren Zwangsbeitrag entrichten, also wollten wir auch mitbestimmen und deshalb hinein in die Kammer. Überraschenderweise erhielt die Liste Demokratischer Ärztinnen und Ärzte bei den Wahlen zur ärztlichen Standesvertretung mit ihren klar formulierten politischen For­derungen auf Anhieb circa 25 Prozent der Stimmen in München. Anfänglich erinnerten die Kammersitzungen an die Sitzungen früherer Studentenparlamente: Selbst honorige Professoren unserer Liste wurden als Sympathisanten der RAF bezeichnet. Die Liberalisierung des § 218 wurde als »der direkte Weg zurück nach Auschwitz« bezeichnet. Die KZ seien nicht von den Nazis sondern von den Briten im Buren-Krieg erfunden worden etc. In Leserbriefen war von Listen-Mitgliedern als »Kollegoiden« die Rede.

Die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus war einer der zentralen Streitpunkte in den Kammer-Diskussionen. Der damalige Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, hatte noch Ende der 80er Jahre in einem Interview behauptet, nur einige schwarze Schafe hätten unter den Nazis den Hippokratischen Eid verraten, während die Mehrheit der Ärzteschaft sich in jener Zeit korrekt verhalten habe. Dabei war damals schon bekannt, dass mehr als 50 Prozent der Ärzteschaft unter den Nazis Mitglieder der NSDAP waren. Erst mit dem deutschen Ärztetag 1989 in Berlin, damals unter dem Vorsitz des alternativen Kammerpräsidenten von Berlin, Ellis Huber, begann eine ernsthafte und systematische Diskussion und Aufarbeitung der Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus. Erleichtert wurde dies natürlich auch durch die Tatsache, dass zwischenzeitlich fast alle unter den Nazis aktive Ärztefunktionäre verstorben waren. In den vergangenen Jahren hat die Bundesärztekammer sogar den Medizinhistoriker Robert Jütte damit beauftragt, einen kritischen Forschungsbericht über die Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus zu verfassen. Dieser Forschungsbericht wurde zwischenzeitlich veröffentlicht. Aber tut er heute noch weh?
In den 90er Jahren versachlichte sich der Ton der Diskussionen in den Kammern. Hauptthemen waren jetzt die regelmäßig von jeder Regierung verabschiedeten Gesundheitsreform-Gesetze. Natürlich ist die politische Grundhaltung in den Kammern, auch in der bayerischen Landesärztekammer und beim Deutschen Ärztetag immer noch extrem konservativ: Reformen werden abgelehnt, staatliche Eingriffe in die Tätigkeit von Ärztinnen und Ärzten sind »Einschränkungen der Berufsfreiheit« – und damit des Teufels. Mit dieser ewiggestrigen Haltung hat sich die Ärzteschaft inzwischen aus der gesundheitspolitischen Diskussion verabschiedet. Aus dieser Angst vor Veränderungen resultieren aber auch kuriose Gemeinsamkeiten. So wird die Kommerzialisierung der Medizin auch von den Ärztetagen sehr kritisch beurteilt. Auf Antrag der demokratischen Listen wurde den auf dem Ulmer Ärztetag 2009 verabschiedeten »Gesundheitspolitischen Leitsätzen der Ärzteschaft« (das Ulmer Papier) folgende Präambel vorangestellt:

»Im Bewusstsein, dass das Gesundheitswesen keine Gesundheitswirtschaft oder Industrie ist, dass Ärzte keine Kaufleute und Patienten keine Kunden sind, dass Gesundheit und Krankheit keine Waren und Wettbewerb und Marktwirtschaft keine Heilmittel zur Lösung der Probleme des Gesundheitswesens sind, dass Diagnose und Therapie nicht zum Geschäftsgegenstand werden dürfen, beschließt der 111. Deutsche Ärztetag die gesundheitspolitischen Leitsätze der Ärzteschaft, das »Ulmer Papier«.

In Fragen von Menschenrechten und von Problemen geflüchteter Asylsuchender gibt es heute zum Teil sehr breite Koalitionen mit fortschrittlichen Kräften. Überspitzt ausgedrückt kann man sagen, dass alles, was die organisierte Ärzteschaft nichts kostet, von dieser auch unterstützt wird. So sind zum Beispiel schon Beschlüsse zur Verschärfung des Datenschutzes, gegen die elektronische Gesundheitskarte, oder auch gegen die Gefahrender so genannten friedlichen Nutzung von Atomkraft von Ärztetagen, auch von bayerischen verabschiedet worden. Aber die Ärztekammern sind heillos überaltert. Selbst die jetzigen Rentner aus der Friedensbewegung oder aus dem vdää senken heute noch das Durchschnittsalter vieler Kammerversammlungen.

Wie lassen sich unsere Erfahrungen aus fast 30 Jahren Kammerarbeit zusammenfassen? Es ist sicher ein mühsames Geschäft mit oft zweifelhaften Ergebnissen. Die Außenwirkung der Ärztekammern hat in den letzten Jahrzehnten rapide abgenommen. Die Kammern werden politisch kaum noch wahrgenommen. Zu sehr haben sie sich aus dem allgemeinen gesundheitspolitischen Diskurs entfernt. Auch viele der dort zwangsorganisierten Kolleginnen und Kollegen fühlen sich durch die Kammern nicht mehr repräsentiert und wählen gar nicht mehr. Die Beteiligung bei den Wahlen zu den Landesärztekammern liegt zwischen 30 und 40 Prozent. Gerade da aber sollten wir ansetzen: Wir sollten bei den 60 Prozent der Nicht-Wähler nach Stimmen suchen. Denn zum einen könnte man vielleicht den politischen Einfluss der Kammern doch wieder stärken, wenn vernünftige und zielführende gesundheitspolitische Beschlüsse gefasst werden, zum anderen kann man in Fragen des Menschenrechts oder der Umweltmedizin durchaus Anträge durchbringen, die bei der politischen Arbeit hilfreich sind. Und schließlich: Auch Fragen der Fort- und Weiterbildung, der Zusammenarbeit mit oder der Abhängigkeit von der Pharmaindustrie oder der Arbeitsplatzgestaltung sind wichtig für eine gute Patientenbetreuung. Also gerade für unsere jüngeren Mitglieder sollte gelten: durch unsere negativen Erfahrungen nicht abschrecken lassen – trotzdem: rein in die Kammern.

 

Wulf Dietrich ist seit 1986 mit Unterbrechung Delegierter in der Bayerischen Landesärztekammer, häufig Delegierter auf Deutschen Ärztetagen; er ist Vorsitzender des vdää.

 

(aus: Gesundheit braucht Politik, Zeitschrift für eine soziale Medizin. Schwerpunkt: Wie funktioniert unser Gesundheitswesen? 2/2015)


Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte
Gesundheit braucht Politik wird vom ärztlichen Berufsverband vdää herausgegeben, der sich als Alternative zu standespolitisch wirkenden Ärzteverbänden versteht.

zur Webseite

Finde uns auf