Kämpfe im Gesundheitswesen in Griechenland
Der vdää hat seit dem Jahr 2013 intensiven Kontakt zu AktivistInnen aus der Gesundheitsbewegung in Griechenland. Seitdem gab es jedes Jahr in wechselnder Zusammensetzung mindestens eine Delegation des vdää, die mit den KollegInnen und GenossInnen in Athen und Thessaloniki gesprochen hat über die aktuelle Situation, über mögliche praktische Solidarität und über politische Netzwerkarbeit. Auch diesen Sommer waren wir mit einer kleinen Gruppe in Athen und Piräus. Und Nadja Rakowitz war im November noch einmal vor Ort. Die Kämpfe im und um das Gesundheitswesen gehen auch in Griechenland weiter und sie finden auf verschiedenen Ebenen statt: auf der Ebene der Regierung und auf der Ebene der solidarischen Bewegung. Nicht immer sind sich beide einig. Wir versuchen eine Einschätzung …
Im Zuge der Krise mussten die Menschen in Griechenland zwischen 2009-2015 durchschnittliche Lohnkürzungen um 25 Prozent hinnehmen. Ca. 60 Prozent der GriechInnen leben an und 30 Prozent unter der Armutsgrenze. Zehntausende sind obdachlos. 18 Prozent konnten 2015 ihren Nahrungsmittelbedarf nicht mehr decken. Täglich besuchen ca. 100.000 Menschen Suppenküchen, Zehntausende leben ohne Strom und Heizung. In vielen Familien bis weit in die Mittelschicht ist die Rente des Großvaters oder der Großmutter das einzige oder zumindest ein wichtiger Bestandteil des Familieneinkommens.
Seit dem Jahr 2010 haben verschiedene griechische Regierungen drei MOU (»Memorandum of Understanding«) unterschreiben müssen, um Kredite der Troika zu bekommen – das letzte Alexis Tsipras für die linke Regierung (Syriza) im Sommer 2015. In diesen Memoranden ist die Austeritätspolitik bis ins Kleinste festgelegt. Alexis Benos, Professor für Public Health in Thessaloniki, hat die Folgen für das Gesundheitswesen so zusammengefasst: »Zwischen 2010 und 2013 wurden allein 170 Auflagen zum Gesundheitswesen in die Memoranden aufgenommen. Es geht um Austeritätsmaßnahmen wie eine Deckelung der öffentlichen Ausgaben, die Einführung von Nutzungsgebühren, den Einstellungsstopp für Personal im öffentlichen Gesundheitssektor, empfindliche Kürzung von Löhnen und Gehältern des Pflegepersonals sowie Kürzungen der Mittel aus den Sozialversicherungskassen. Auch sogenannte Reformen, die auf die Schaffung eines internen Marktes, auf die Kommerzialisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens zielen, sind Teil der Verträge. Im Ergebnis können wir von einer Demontage des öffentlichen Gesundheitswesens sprechen.«(1) Hinzu kam im Februar 2014 die Schließung aller 350 Polikliniken der Krankenversicherung, die die medizinische Erstversorgung im ambulanten Sektor abdeckte. Nur ein Teil dieser Strukturen ist später wieder, aber nicht in ausreichender Zahl eröffnet worden.
Entsprechend den Vorgaben der Troika verlieren Arbeitslose nach einem Jahr ihre Krankenversicherung und erhalten keine weitere staatliche Sozialhilfe. Binnen Kurzem verloren so bis zum Jahr 2013 ca. 30 Prozent der Bevölkerung ihre Versicherung und damit den Zugang zum öffentlichen Gesundheitswesen. Im Krankheitsfall mussten sie die Kosten selbst tragen, was natürlich chronisch Kranke und Alte besonders hart trifft. Viele müssen sich entscheiden, ob sie ihr Geld für Lebensmittel oder Medikamente ausgeben. Hinzu kommen etwa 50.000 ebenfalls nicht versicherte Geflüchtete, die in Griechenland festsitzen.
Armut und Arbeitslosigkeit hinterlassen Spuren bei den Menschen. Die Kindersterblichkeit stieg zu Beginn der Krise binnen 3 Jahren um 51 Prozent. Selbsttötungen und Tötungsdelikte nahmen insbesondere unter jungen (arbeitslosen) Männern zu. Es kam zu einem drastischen Anstieg von psychischen Erkrankungen, Drogenmissbrauch und Infektionskrankheiten.(2) Während der Bedarf an öffentlichen Gesundheitsleistungen also in Folge der Austeritätspolitik stieg, führt eben jene neoliberale Politik dazu, dass die erhöhte Nachfrage auf ein unzureichendes Angebot trifft. Daran hatte sich auch nach Amtsübernahme durch Syriza im Januar 2015 nichts geändert.
In dieser extrem schwierigen Konstellation und trotz der anhaltenden Einschränkungen und der Haushaltszwänge durch das neue Memorandum hat die griechische Regierung im Sommer zwei entscheidende politische Maßnahmen beschlossen: Lt. Gesundheitsminister Andreas Xanthos sicherte 1.) das Gesetz 4368/2016 seit Juni 2016 den kostenlosen Zugang unversicherter (griechischer) Menschen und schutzbedürftiger Bevölkerungsgruppen (auch Menschen ohne griechischen Pass) zum Öffentlichen Gesundheitssystem sowie die Versorgung mit Arzneimitteln unter denselben Bedingungen und mit denselben Gebühren wie Versicherte. Die Herausforderung besteht nunmehr darin, dies auch praktisch zum Funktionieren zu bringen und jeden funktionalen Ausschluss der Versicherten und Nicht-Versicherten aus dem Öffentlichen Gesundheitssystem zu verhindern.
Und 2.) stattete die Regierung das Öffentliche Gesundheitssystem wieder mit mehr Geld aus und ließ Personal anstellen, indem sie eine Neuverteilung öffentlicher Mittel zugunsten der öffentlichen Gesundheitsversorgung vornahm. Es gab eine Finanzspritze in Höhe von 300 Millionen Euro (150 Millionen Euro im Jahr 2015 und 150 Millionen Euro im Jahr 2016). Der umfassende Zugang aller griechischen BürgerInnen zu den Gesundheitsdienstleistungen ohne Diskriminierung ist nun also theoretisch wieder garantiert und ab Herbst 2015 kam es zu einer Umkehrung des Trends der kontinuierlichen Kürzungen der Betriebsausgaben der Krankenhäuser und der Gesundheitsversorgungsregionen, in die Griechenland eingeteilt ist. Erstmalig nach sechs Jahren Krise wurden Anstellungen von 3.500 Ärzten, Krankenpflegepersonal und andere Gesundheitsprofessionelle im Öffentlichen Gesundheitssystem auf den Weg gebracht, parallel dazu außerdem im gesamten Land die Einstellungen von über 2.000 Ärzten mit Zeitverträgen und sonstigen Arbeitnehmern in Krankenhäusern, Gesundheitszentren und Stationen für Intensivpflege.
Das andere große wirkliche Reformprojekt bezieht sich auf die Primärversorgung als Säule eines verbesserten Öffentlichen Gesundheitssystems, so Xanthos in einem Interview mit der griechischen Wochenzeitung I Epohi (3): Deren Kern ist eine dezentrale Struktur öffentlicher Primärversorgung (lokale Gesundheitsversorgungseinheit oder Arzt vor Ort), der Hausarzt und die interdisziplinäre Gruppe von Gesundheitsprofessionellen, in deren Verantwortungsbereich ein bestimmte Anzahl an Bevölkerung fällt, die sektorbezogenen Dienstleistungen, die ganzheitliche Gesundheitsversorgung (von Vorsorgeuntersuchungen und den Impfungen bis zu Früherkennungsuntersuchungen, die klinische und labortechnische Überwachung chronischer Krankheiten, die Überweisung in andere Systemstrukturen und die Rehabilitation bzw. Heilung). Wenn das umgesetzt werden kann, würde es sich um einen wirklichen Paradigmenwechsel im Gesundheitssektor handeln: vom unregulierten und unkontrollierten Markt und Zusammen von öffentlichen und privaten Strukturen hin zu einer organisierten Gesundheitsversorgung bzw. von der ausschließlich therapeutisch-kurativen Logik des heutigen Systems hin zur Förderung von Vorsorge- und Früherkennung. Im Moment befindet sich die Regierung in Phase der Vorbereitung der Implementierung einer solchen Primärversorgung. Für die Finanzierung stehen auch europäische Mittel zur Verfügung. Es soll von 2017-2018 über 300 neue Strukturen der Primärversorgung in den städtischen Gebieten sichern. Gleichzeitig wird eine Zentralisierung der mikrobiologischen, hämatologischen und biochemischen Labor-Untersuchungen vorgenommen. Außerdem will die Regierung dafür sorgen, dass in Zukunft die Ärzte in der Primärversorgung Vollzeit und ausschließlich im öffentlichen Gesundheitswesen beschäftigt sind. Damit soll auch versucht werden, die übliche Korruption weiter abzubauen bzw. ganz zu vermeiden. Das betonte Xanthos Ende November noch einmal in einem Artikel in der Zeitung EFSYN(4). Deshalb sollen die Gehälter und Berufsgrade dieser Ärzte an die im stationären Sektor des Öffentlichen Gesundheitssystems angeglichen werden.
Wie wird das alles in den Solidarischen Praxen gesehen? In der Krise entstanden so genannte »Kliniken der Solidarität«, das sind ehrenamtlich arbeitende ambulante Praxen für die gesundheitliche Grundversorgung im Primärsektor. 2014 waren es 45 in ganz Griechenland, 2015 schon fast 60, heute sind es – auch weil die medizinische Versorgung der Geflüchteten vernachlässigt wird – noch mehr geworden. Alle MitarbeiterInnen arbeiten unentgeltlich, aber »illegal«: Zwar sind die ÄrztInnen dort alle staatlich approbiert, aber die Kliniken gehören zu keinem staatlichen Bedarfsplan und haben keine »Lizenz« zum Behandeln. Die teilweise bis zu 200 Personen großen Praxiskollektiven arbeiten selbstorganisiert und ohne Hierarchie, in den regelmäßig stattfindenden Versammlungen wird gemeinsam entschieden. Während die Menschen diese Kliniken zu Anfang der Krise mit der Perspektive betrieben, Teil eines Kampfes gegen die Austeritätspolitik und für ein neues, gutes öffentliches Gesundheitswesen zu sein, wissen AktivistInnen (ÄrztInnen, PflegerInnen, ApothekerInnen, Verwaltungspersonal etc.) nun, nach der Niederlage der linken Regierung und der Unterwerfung unter das dritte Memorandum, dass sie noch lange gebraucht werden. Zu groß sind die Zerstörungen des Gesundheitswesens, aber auch der Gesellschaft insgesamt.
Seit ihrer Gründung verstehen die AktivistInnen ihre Arbeit in den Praxen nicht als »Charity Work«, sondern begreifen Solidarität als Widerstand. Aber seit die Linke regiert, wird das Selbstverständnis schwieriger: Natürlich gilt der Widerstand der Austeritätspolitik, dem Ausschluss von Menschen aus dem Gesundheitswesen etc. – vor und nach dem Januar 2015. Aber wofür steht nun die Regierung? Überwiegt das Unterschreiben des dritten Memorandums und die Fortsetzung und zum Teil Verschärfung der Austeritätspolitik oder überwiegt das Bemühen gerade des Gesundheitsministeriums, selbst innerhalb der aktuellen Zwänge das Gesundheitswesen zu reformieren und die schlimmsten Härten zu beseitigen? Darüber wird in den Praxen und zwischen den Praxen durchaus und auch heftig gestritten.
Sowohl in der Praxis in Athens Center als auch in den beiden Praxen in Piräus und etwas weniger auch in der großen Praxis in Elliniko wurde uns im Juni und stärker noch bei unserem Besuch im November berichtet, dass sie sehr viel weniger PatientInnen hätten, seit das Gesetz in Kraft ist. PatientInnen fragen aktuell nach zahnärztlichen, psychologischen und auch gynäkologischen Leistungen. Weiterhin werden Medikamente nach wie vor in den solidarischen Praxen ausgegeben, weil sich die PatientInnen die Zuzahlungen nicht leisten können – und weil es im öffentlichen System (auch in Krankenhäusern) nach wie vor einen drastischen Mangel an teuren Medikamenten gibt. In den Kreisen der solidarischen Praxen wird diskutiert, wie die Gesundheitspolitik nun einzuschätzen sei, denn nach wie vor werden – unversicherte – PatientInnen bisweilen noch abgewiesen von Krankenhäusern. Das Versprechen des kostenlosen Zugangs zu Medikamenten sei im Moment auf keinen Fall real durchgesetzt. Die Frage ist also, ob das theoretische Recht auf Zugang tatsächlich auch ein reales praktisches Recht ist – zumal die personelle und Sachausstattung der Krankenhäuser immer noch sehr dürftig ist.
Jenseits der aktuellen gesundheitspolitischen Entwicklung ist schon seit einiger Zeit in den solidarischen Praxen eine Debatte in Gange, welche Funktion sie weiterhin und in Zukunft haben werden. Seit März dieses Jahres, seit also die Grenzen Griechenlands von Seiten der Nachbarstaaten im Norden geschlossen wurden und die Flüchtlinge in Griechenland bleiben (müssen), kümmern sich die AktivistInnen aus den solidarischen Praxen vermehrt um die – nicht nur medizinische – Versorgung der Flüchtlinge in den Städten aber auch in den Lagern. An der sozialen Lage und den Lebens- und Arbeitsumständen der AktivistInnen selbst hat sich seit Beginn der linken Regierung nichts geändert. Sie haben nach wie vor nahezu rund um die Uhr zu tun. Und sie machen das trotz Desillusionierung und Konflikten innerhalb der Bewegung immer noch mit bewundernswertem Langmut. Unsere Solidarität ist ebenfalls noch lange nötig.
Nadja Rakowitz
Anmerkungen
- Alexis Benos: »Austerity kills. Kämpfe um Gesundheit in Griechenland«, LuXemburg, Nr. 1/2014, S. 58ff.
- Alexander Kentikelenis/Marina Karanikolos/Aaron Reeves/Martin McKee/David Stuckler: »Greece’s health crisis: from austerity to denialism«, The Lancet, Nr. 383/2014, S. 748-753
- Ανδρέας Ξανθός: »Η αποδιοργάνωση και η απαξίωση του συστήματος σταμάτησε«, Interview mit Gesundheitsminister Andreas Xanthos in: I Epohi, 2. August 2016, in: http://epohi.gr/andreas-xanthos-h-apodiorganwsh-kai-h-apaxiwsh-tou-suthmatos-stamathse/ (Dank an Ralf Kliche für die Übersetzung)
- Συστήνονται γραφεία δικαιωμάτων ασθενών, in EFSYN vom 30. November 2016; in: www.efsyn.gr/arthro/systinontai-grafeia-dikaiomaton-asthenon
(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Kämpfe im Gesundheitswesen, 4/2016)