GbP 1-2017 Andreas Wulf

Von Silberkugeln und anderen teuflischen Machenschaften

Public Health Interventionen im Kontext (post)-kolonialer Realitäten

Die Entdeckung und Entwicklung von spezifischen Impfstoffen gegen gefährliche Krankheitserreger zählen unzweifelhaft zu den großen Erfolgen der modernen Medizin, ihre flächendeckende Anwendung im Rahmen allgemeiner öffentlicher Gesundheitsprogramme hat gefürchtete Krankheiten wie die Diphterie, den »Würgeengel der Kinder«, die Kinderlähmung, Keuchhusten, Masern, Tetanus und viele andere so weit reduziert, dass einige für besiegt erklärt wurden.
In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg wurden mit großem internationalen Einsatz solcher Impfprogramme die Pocken weltweit ausgerottet, die Masern auf dem amerikanischen Doppelkontinent zum Verschwinden gebracht. Und aktuell gibt es durch die glücklicherweise nur regional aufgetretenen Ebola- und Zikaepidemien ein wieder verstärktes Engagement und hohe öffentliche Investitionen in neue Impfstoffforschung zu diesen und weiteren Erkrankungen von potentiell globaler Bedrohung wie MERS, Lassa Fieber und Malaria.

Doch obwohl die Erfolge so unangefochten scheinen, scheiden sich nicht nur in einigen wohlhabenden Staaten an dem Nutzen dieser Impfungen die Geister.
Im Folgenden soll es nicht um eine Auseinandersetzung mit den uns hierzulande auch gut bekannten »ImpfkritikerInnen« gehen, (siehe dazu den Beitrag von Hermann Gloning in dieser Ausgabe auf Seite 22) sondern um den lokalen Widerstand im globalen Süden, den schon seit einigen Jahren die globale Polio-Impfkampagne erfährt, die das Beispiel der Pockenausrottung wiederholen soll.

Mit hohem Einsatz geht hier schon seit 1988 das »Global Program on Eradication of Polio« der Weltgesundheitsorganisation vor(1), 1996 gaben Nelson Mandela und die African Football Confederation ihre Unterstützung mit einer »Kick Polio out of Africa«(2). Wesentliche finanzielle Mittel geben auch große philanthropische Stiftungen wie Rotary International und die Bill & Melinda Gates-Stiftung.

Dies sollte sich alles zu einem »perfekten Sturm« zusammenbrauen, der die letzten verbliebenen Regionen (in Afrika ist das der Norden von Nigeria, in Südasien Pakistan und Afghanistan) erreicht und diese alte und heimtückische Bedrohung vor allem für Kinder und junge Erwachsene beseitigt. Und wirklich sind die Polio Infektionen seit den 90er Jahren um 99 Prozent zurückgegangen. Aber das reicht noch nicht.

Misstrauen und Widerstand

Tatsächlich gibt es sowohl in Nigeria als auch in Pakistan massive Widerstände gegen die Kampagne, eine dramatische Eskalation war die Ermordung von elf Gesundheitsarbeiterinnen im Impfprogramm 2012-13 in Nigeria und 16 in Pakistan im gleichen Zeitraum.
Im pakistanischen Kontext wird dies vor allem mit dem Versuch der CIA 2011 gesehen, eine gefakte Impfkampagne am vermuteten Aufenthaltsort von Osama bin Laden zu nutzen, um DNA von Familienmitgliedern des Al Quaida-Führers zu bekommen und so seine Anwesenheit zu bestätigen(3).
Aber auch ohne diese verurteilenswerte CIA-Intervention ernten internationale Gesundheitskampagnen, die schnell als »US-amerikanische Aktivitäten« oder »westliche Agenda« gesehen werden, in Pakistan Misstrauen. Die Umsetzung der Kampagnen kommt nur schleppend voran, die Zahl der Poliofälle steigt. In 2014 waren es wieder über 300 Neuinfektionen, 85 Prozent der weltweit entdeckten Fälle.(4)

Aber auch ohne den »War on Terror« war schon zehn Jahre vorher in Nigeria der Versuch, in einer letzten großen Anstrengung in den verbleibenden Bundesstaaten im muslimischen Norden den Polio-Virus zu besiegen, am Widerstand muslimischer Geistlicher und Ärzte gescheitert, die das Gerücht verbreiteten, die Impfstoffe seien mit Kontrazeptiva und HIV-Viren kontaminiert und es ginge in Wirklichkeit um Schwächung der Fruchtbarkeit und Bevölkerungskontrolle.

Auch wenn dieser Widerstand natürlich leicht als dominiert von Konspira­tions­theorien zu erkennen ist, so spiegelt dieses Misstrauen doch in vielfältiger Weise eine gesellschaftliche Realität, die von externen Akteuren, seien es internationale Gesundheitskampagnen ehemaliger Kolonialherren oder die eigene Regierung in der fernen Hauptstadt, wenig Gutes zu erwarten haben.
Zwar sind heute überwiegend zwangsweise durchgesetzte Bevölkerungskon­troll­strategien durch freiwillige Familienplanungsangebote ersetzt worden, aber die Erinnerung an erzwungene Sterilisationen ist nicht vergessen. So starben noch in 2014 in Indien 16 Frauen nach Sterilisationen in einem ländlichen Gesundheitszentrum, ein einziger Arzt hatte in wenigen Stunden 83 Lapraskopien vorgenommen mit einem einzigen Lapraskop. Statt früheren »targets« werden die quantitativen Zielvorgaben jetzt »performance indicators« des Gesundheitspersonals genannt, und die Bereitschaft der Frauen mit dem Zugang zu sozialen Leistungen oder Geschenken gefördert.

Für koloniale Gesundheitspolitik und auch die städtischen Eliten der postkolonialen Nationalstaaten war solche »Bevölkerungskontrolle« der armen ländlichen und städtischen Bevölkerung ein wesentlicher Baustein des »Weges in die Moderne«, der den »demographischen Übergang« von hohen Wachstumsraten bei sinkender Mortalität durch verbesserte Gesundheits- und Ernährungsbedingungen zu einer Annäherung der Geburten- und Sterberaten beschleunigen sollte(5) – die chinesische »ein Kind Politik« kann als die konsequenteste Umsetzung dieses Konzepts gelten.
Zudem sind die kampagnenartigen Interventionen, die sich nur um ein einziges Gesundheitsproblem kümmern, während die grundlegende Gesundheitsversorgung weiter im Argen liegt, kaum dazu angetan, größeres Vertrauen zu generieren. Während jeder Besuch im Gesundheitszentrum für eine Mutter mit einem kranken Kind Geld kostet, stehen eines Tages unangemeldet Fremde vor der Tür und bieten kostenlos eine »Wunderlösung« an gegen eine Krankheit, an der die Kinder aktuell gar nicht leiden.

Genau dieser »Vertrauensvorschuss« ist es aber, der erfolgreiche Public Health-Lösungen überhaupt erst ermöglicht. Denn erst die Teilnahme möglichst vieler Gesunder an einer solchen kollektiven Strategie gegen übertragbare Krankheiten führt zu Erfolg (bei Impfungen die »Herdimmunität« genannt), von dem auch der Einzelne möglicherweise in der Zukunft profitiert. Ohne das Vertrauen auf eine solche Zukunft und in die Verlässlichkeit der öffentlichen Akteure, die im gemeinsamen Interesse handeln, bleibt das Misstrauen die »rationale« Antwort.
In der Ebola-Krise wurde das in den betroffenen Staaten Westafrikas ebenfalls deutlich: Fremde in weißen Overalls kommen in großen weißen Autos in die Dörfer am Ende von kilometerlangen unasphaltierten Pisten und wollen Sterbende und Tote mitnehmen und an einem unbekannten Ort beerdigen, den die Angehörigen nicht mal besuchen dürfen. Ganze Landstriche werden unter Quarantäne gestellt und die Menschen können ihre Ernte nicht auf Märkten verkaufen und ihre Angehörigen in anderen Teilen des Landes besuchen.

Wenn solche drastischen Kontrollmaßnahmen das einzige Gesicht einer Public Health-Politik bleiben, weil die fürsorglichen Aspekte der Sicherstellung der alltäglichen Gesundheitsversorgung, Wasser und Hygienebedingungen, Nahrungsmittelsicherheit, noch nie präsent waren, dann erstaunt der Widerstand gegen solche »wohlmeinende Belagerung« kaum. Auch hier kann sich Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der Einschränkungen nur einstellen, wenn es ein klares Engagement für die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen gibt und ihre Bedürfnisse tatsächlich ernst genommen werden.
Und uns sollte zu denken geben, wenn wir solchen Widerstand allzu schnell als »unaufgeklärte« Haltung abtun, häufig mit dem oft uneingestandenen zivilisatorischen Arroganz-Überschuss gegenüber den sich »noch in der Entwicklung befindlichen« Ländern. Die Geschichte und Gegenwart der Machtverhältnisse, die sich auch in solcher Haltung spiegelt, ist auch Teil der Public Health Geschichte, die das Individuum allzu lange als ein zu kontrollierendes begriffen hat. Und nicht überall ist die »Neue Public Health« mit ihren Prinzipien Inklusion und Empowerment angekommen.

 

Andreas Wulf arbeitet bei medico international in Frankfurt als Projektkoordinator für Gesundheit

 

 

Anmerkungen


1 http://polioeradication.org/, http://who.int/topics/poliomyelitis/en/
2 https://kickpoliooutofafrica.wordpress.com/
3 Martin Robbins: »Vaccines, the CIA and how the War on Terror helped spread polio in Nigeria«, The Guardian 15. July 2011; in: www.theguardian.com/sciences/the-lay-scientist/2011/jul/15/1
4 Asad Hashim: »Pakistan’s polio problem and vaccination danger«, 28. March 2015, in: www.aljazeera.com/indepth/features/2015/03/pakistan-polio-problem-vaccination-danger-150328091807399.html
5 https://de.wikipedia.org/wiki/Demografischer_Übergang

(aus: Gesundheit braucht Politik. Zeitschrift für eine soziale Medizin, Schwerpunkt: Vom ÖGD zu New Public Health, 1/2017)


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